Eike Wenzel, Gründer des Instituts für Trend und Zukunftsforschung in Heidelberg. Sitzt außerdem im Nachhaltigkeitsrat Baden-Württemberg und lehrt im MBA-Studiengang "Trend- und Nachhaltigkeitsmanagement" an der Fachhochschule für Wirtschaft und Ummwelt in Nürtingen-Geislingen. (Foto: Eike Wenzel)

Zukunftsforscher zu Neujahrsvorsätzen für BW

Große Aufgaben warten: Darauf sollte Baden-Württemberg im Jahr 2022 achten

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Marc-Julien Heinsch

Trend- und Zukunftsforscher über Neujahrsvorsätze: Im Gespräch zum Jahreswechsel erklärt ein Zukunftsforscher, mit welchen Zielen Baden-Württemberg in das Jahr 2022 gehen sollte.

SWR Aktuell: Herr Eike Wenzel, Sie beschäftigen sich beruflich mit der Zukunft und versuchen Trends auszumachen, die uns schon heute etwas darüber sagen, was auf uns zukommen wird. In ihrem jüngsten Buch skizzieren Sie einen Green New Deal, ein großes gemeinsames Projekt von Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, um unser Leben fit für die klimafreundliche Zukunft zu machen. Das klingt nach einer gewaltigen weltweiten Herausforderung. Was kann sich ein Land wie Baden-Württemberg für das Jahr 2022 vornehmen?

Eike Wenzel: Baden-Württemberg ist ein fleißiges Land, ein zukunftsorientiertes Land. Das hoffe ich jedenfalls. Der Green New Deal hört sich nach großer Ökowende an. Aber das ist er eigentlich nicht. Nicht nur. Er ist eine sozio-ökologische Wende. Wenn wir es wagen, können wir in den nächsten Jahren einen großen Wandel vollziehen: In Produktion und Industrie, auch in unseren Jobs. Also wenn der Green New Deal in Gang kommt, dann verspricht das nach nach Angaben der internationalen Arbeitsagentur rund 14 Millionen Jobs weltweit. Natürlich muss man mit solchen Zahlen vorsichtig sein, aber was man sagen kann, ist: Die sozio-ökologische Wende, vor der wir stehen, wird grundlegend neue Jobs, bessere Jobs schaffen, in Berufen, die es vorher noch gar nicht gab. In den Bereichen Computertechnologie, Künstliche Intelligenz oder Energie. Wir haben also die Chance eine große Transformation zu vollziehen. Und die könnte sehr, sehr vieles verändern. Baden-Württemberg ist für diese Situation ganz gut aufgestellt, beziehungsweise entwickelt sich in die richtige Richtung. Das sollte uns optimistisch stimmen.

Junge Menschen aus Baden-Württemberg sollten sich also in den Bereichen Umwelt, Technik und Informatik ausbilden lassen oder studieren?

Heutzutage verstehen immer mehr junge Menschen, dass sie nicht nur einen betriebswirtschaftlichen oder technischen Zugang zu einem Thema, sondern dazu noch eine ganzheitliche Perspektive brauchen. Das ist ja auch die größere Idee hinter einem Green New Deal: US-Präsident Franklin D. Roosevelt hat es vor knapp 100 Jahren mit dem New Deal vorgemacht. Er hat gesehen: Die Zeiten sind schlecht, wir stehen vor großen Herausforderungen - und trotzdem er hat intensiv investiert. Er hat versucht alle Teile der Gesellschaft mitzunehmen und ihnen zu signalisieren: Lasst uns das gemeinsam versuchen. Die Energiewende haben wir bisher nicht mit einer Eins Plus absolviert, wir stecken in einer Klimakrise, in einer Pandemie. Wir werden in den nächsten Jahren etwas verändern müssen. Und es wird nicht alles klappen. Wir müssen vieles verändern, wir werden Neues entdecken aber wir werden auch scheitern. Trotzdem gibt es tatsächlich die Aussicht, dass alles gut ausgeht - eine sozio-ökologische Wende kann die Qualität von Arbeit oder andere Aspekte unseres sozialen Lebens auf ein ganz neues Niveau heben. Und das ist das Spannende daran.

In einem Interview mit der "Rhein-Neckar-Zeitung" ´habe Sie von "Umwälzungen auf dem Weg ins postfossile Zeitalter" gesprochen und gesagt, dass keine politische Partei eine Sicherheit suggerieren dürfte, die es nicht gebe. Das klingt jetzt nicht nur nach Freude...

Wir wissen, dass wir bis 2050 eine postfossile Gesellschaft sein müssen, weil uns sonst das Klima um die Ohren fliegt. Postfossil heißt, dass wir fossile Energieträger wie Kohle und Öl im Boden lassen und unseren Energiebedarf mit klimafreundlicher Energie decken müssen. Wir kennen das Ziel, aber wie die Zwischenschritte genau aussehen, das weiß niemand mit hundertprozentiger Sicherheit. Wir stehen vor dem größten Projekt seit dem Zweiten Weltkrieg. Schaut man sich die Parteiprogramme aller Parteien an, auch der Grünen, sind sie noch nicht fit für 2050. Aber - und deswegen ist der Koalitionsvertrag der Ampel trotzdem wichtig - die Richtung, die wir nehmen müssen, ist bei den Vorhaben der Ampelkoalition erkennbar.

Die Zukunft und ihre notwendigen Umwälzungen beschreiben Sie durchaus optimistisch. Trotzdem bleiben sie große gesellschaftliche Veränderungen, die den Lebensstil des ein oder anderen bedrohen.

In unserer Arbeit am Institut für Trend- und Zukunftsforschung haben wir 15 Megatrends festgestellt. Entwicklungen die in den nächsten 30 bis 50 Jahren überall in Wirtschaft und Gesellschaft relevant werden: 15 Megatrends, die unseren Alltag, die Art und Weise, wie wir frühstücken, wie wir ins Büro fahren, soziale und ökonomische Prozesse überall nachhaltig verändern werden. Dazu gehören Rohstoffknappheit, erneuerbare Energien, Globalisierung, Digitalisierung, die Alterung der Gesellschaft, aber auch neue Familienmodelle. Schauen wir uns diese Megatrends genau an, dann funktionieren sie für uns wie ein Frühwarnsystem, das uns hilft die nahe Zukunft zu planen. Als kleiner Unternehmer in Heidelberg, in Biberach, am Bodensee oder wo auch immer. Hier im Ländle haben wir viele kleine und mittelgroße Zulieferer etwa für die Automobilbranche. Auch die müssen sich klarmachen, dass der Sprung in die postfossile Welt ansteht.

Trend- und Zukunftsforscher Eike Wenzel.  (Foto: Eike Wenzel)
Trend- und Zukunftsforscher Eike Wenzel spricht sich für einen Green New Deal aus. Ein großes gemeinsames Projekt von Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, um unser Leben fit für die klimafreundliche Zukunft zu machen.

Was ist mit denen, die mit all dem Wandel nicht Schritt halten können oder wollen?

Ein weiterer Megatrend ist das Thema Ungleichheit. Was ich mit Ungleichheit meine, lässt sich ganz einfach definieren. Wir haben es in den letzten Jahren nicht geschafft, unseren Kindern dieselbe Erfolgsstory zu ermöglichen, wie sie die Angehörigen meiner Generation - ich bin 1966 geboren - noch hatten. Das Versprechen, dass, wer sich anstrengt, es einmal mindestens genauso gut haben wird wie seine Eltern, können wir nicht mehr geben. Mit der wachsenden Ungleichheit in einer Gesellschaft geht eine gewisse Radikalisierung der Mitte einher. Hier in Stuttgart haben wir vor zehn Jahren mit den Protesten zu Stuttgart21 vielleicht so etwas wie den Startschuss einer Entwicklung in Deutschland erlebt, die heute in den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen mündet. Wir haben von Wutbürgern gesprochen damals. Menschen, denen es objektiv nicht schlecht geht, die Arbeitslosenquote ist niedrig, und so weiter. Und trotzdem gibt es diese 10 bis 15 Prozent, die es überhaupt nicht einsehen, sich sich ins Benehmen zu setzen mit der Demokratie, mit der Verfassung, mit der Geschichte des Landes.

Im Jahr 2022 steht da eine junge Generation vor einer großen Überzahl älterer Menschen, die bei Wahlen, in Aufsichtsräten und auf allen Machtpositionen der Gesellschaft ihren Einfluss geltend macht. Gleichzeitig fehlt den Jungen das Versprechen vom sozialen Aufstieg und sie sehen das Überleben des Planeten in Gefahr. Ist auch zwischen Jung und Alt der gesellschaftliche Frieden in Gefahr?

"Fridays for Future" hat sich ein Stück weit institutionalisiert und weist uns darauf hin, dass wir in den nächsten zwanzig Jahren an planetare Grenzen stoßen werden, weil wir Älteren nicht verstanden haben, welche Bedrohungsszenarien sich hinter unserer fossilen Welt auftun. In der Corona-Krise haben die Jungen nun viel aufgegeben, um die Alten zu schützen. Jetzt könnte ja der Deal sein, dass im Gegenzug die Älteren dabei helfen, den Planeten vor dem Kollaps zu bewahren. Offensichtlich zeigen aber viele Menschen jenseits der 50 - einer Generation, der es in unserem Land so gut geht wie wahrscheinlich noch keiner Generation auf der Welt überhaupt und jemals -, modernítätsfeindliche Tendenzen, Griesgrämigkeit, Zukunftsvergessenheit. Hier muss Politik angesichts unserer immer weiter alternden Gesellschaft stärker vermitteln. Etwa mit einem Wahlrecht ab 16 und indem in partizipativen Formaten auch die abgeholt werden, die sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft fühlen. Dabei könnte ein großes Zukunftsprojekt wie der Green New Deal helfen, die Generationen und Gruppen, die gerade auseinanderdriften, wieder stärker zusammenzubringen. Klimapolitik muss Klimagerechtigkeit mitdenken. Da darf keine Gruppe ihre Interessen über die einer anderen stellen. Aber: Die Älteren sind in Deutschland in der Überzahl - und sie haben mehr Geld und Einfluss als beispielsweise die Millenials.

Heilbronn

Millioneninvestitionen von Land und Dieter-Schwarz-Stiftung KI-Innovationspark in Heilbronn kann vorzeitig realisiert werden

Das Stuttgarter Wirtschaftsministerium hat grünes Licht für die vorzeitige Realisierung des geplanten Innovationsparks für Künstliche Intelligenz (KI) in Heilbronn gegeben.

Nehmen wir ein Beispiel aus Baden-Württemberg, wo ein Mann der alten Unternehmergeneration, der Lidl- und Kaufland-Gründer Dieter Schwarz, seine Heimatstadt Heilbronn mit seinem Geld und seinem Einfluss geradezu nach seinen Vorstellungen formen kann.

Auch mein Institut kooperiert mit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn. Was da innerhalb der letzten zehn Jahre an Strukturen entstanden ist, kann man eigentlich nur befürworten. Heilbronn hat sich durch sehr viel Geld aber auch mit vielen tüchtigen Leuten von einer klassischen Industriestadt zu einer Wissensmetropole gewandelt. Ein moderner Standort mit dem Blick für Nachhaltigkeit und Digitalisierung - auch wenn die Transformation sicher noch nicht abgeschlossen ist. Aber ja - dort kann man sehen, wie Umverteilung funktionieren könnte. Lidl und Kaufland, denn nichts anderes ist es ja, geben in Person von Dieter Schwarz etwas an die Gesellschaft zurück. Das ist diese Art Transformation, von der wir die ganze Zeit reden. Nachhaltige und digitale Modernisierung,

Sehen Sie daran nichts Problematisches, wenn eine Einzelperson mit Geld und Einfluss eine solche Transformation bewirken kann?

Daran ist im ersten Moment nichts problematisch, nein. Wir haben in Deutschland die Angst, dass wir mit so etwas die Freiheit von Wissenschaft und Forschung gefährden könnten. Sie ist aber in Deutschland nicht gefährdet. In Sachen Kooperation von Privatwirtschaft und Wissenschaft habe ich bei den Kollegen an den Hochschulen häufig das Gefühl, sie hätten Angst, sich dabei die Finger schmutzig zu machen. Das ist meines Erachtens eine falsche Einstellung. Als Öffentlichkeit, als Gesellschaft, als Staat entwickelt man Projekte und Visionen, erkennt die Notwendigkeit nach Veränderungen und versucht sich dafür relativ schnell direkt mit Unternehmen vor Ort zusammenzuschließen. Dann kann uns so eine Private Public Partnership wirklich voranbringen. Nehmen wir Kopenhagen in Dänemark. Ein wunderbares Beispiel: Eine Stadt, die gesagt hat, wir fangen jetzt einfach mal an, denn wir wollen in den nächsten 30 Jahren die Autos aus der Stadt rausbekommen, ein völlig neues Verkehrssystem schaffen und CO2-neutral werden. Die haben aber nicht nur darüber geredet, sondern haben die Unternehmen angesprochen und haben ihnen gesagt, was das Ziel ist: "Wir wollen die Lebensqualität und den ökologischen Status von Kopenhagen steigern und wir sehen für euch, liebe Unternehmen, darin ein riesiges Potenzial für Wertschöpfung. Bitte entwickelt mit uns zusammen diese Zukunft." Und im Kleinen hat es so ähnlich ja auch in Heilbronn funktioniert.

Aber ist es für solche Projekte nicht entscheidend, die Bürgerinnen und Bürger vor Ort von Anfang an miteinzubeziehen und mitgestalten zu lassen?

Beteiligung ist enorm wichtig. Das zeigt auch das Beispiel Barcelona. Dort haben sie relativ früh verstanden, dass die digitalen Strukturen in der Stadt nicht dafür da sind, dass amerikanische Konzerne die Daten der Bürger abgreifen können. Digitale Infrastruktur ist dafür da, dass die Menschen sich durch sie ermächtigt und ihren Bedürfnissen verstanden fühlen. In Barcelona bestimmen die Bürger beispielsweise digital mit, welche Verpflegung es an den Schulen gibt. Da geht es schlichtweg um Teilhabe. Jede kleine Community vor Ort ist wichtig und wir brauchen sie, um die großen Projekte wie den Green New Deal auf die Reihe zu bekommen. Das geht nicht ohne das Einverständnis und die Veränderungslust der Menschen vor Ort. Dort können die kleinen Unternehmen mit bürgerschaftlich engagierten Leuten und der Verwaltung anfangen, die Dinge zu verändern. Nur so kann es funktionieren - nach Graswurzel-Prinzip. Aber Teilhabe und Digitalisierung von Teilhabe dürfen keine einmaligen Sachen sein, so etwas muss verstetigt werden. Und genau da muss jede Kommune in Baden-Württemberg Inventur machen und schauen, wie sie alle ins Boot bekommen. Das will ich nochmal ganz deutlich sagen: Wir dürfen nicht nur die mitnehmen, die sich ohnehin in der digitalen Zukunft pudelwohl fühlen werden, sondern unbedingt auch die fünfzehn Prozent, die nicht zu den Gewinnern bei all der Veränderung gehören. Dazu haben wir jetzt die große Chance, über diese sozio-ökologische Transformation tatsächlich diejenigen mitzunehmen, die sich als abgehängt wahrnehmen.

Baden-Württemberg

Kretschmanns Klimabilanz So steht es um den Klimaschutz in Baden-Württemberg

Auch Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) ist in dieser Woche zur Klimakonferenz nach Schottland gereist, um für Klimaschutz zu werben. Doch seine eigene Bilanz ist durchwachsen.

In Baden-Württemberg sitzen Sie im Nachhaltigkeitsrat der Landesregierung, seit über zehn Jahren sind die Grünen hier im Land mit wechselnden Koalitionspartnern an der Macht, der Verkehrsminister ist mit Winfried Hermann ebenfalls seit zehn Jahren ein Grüner. Trotzdem ist Baden-Württemberg noch lange nicht klimaneutral. Was läuft da schief?

Ich will nicht sagen, dass wenig passiert sei, aber Sie sprechen mit der Mobilität natürlich das richtige Thema an. Immer ist es der Mobilitätsbereich, wo es tatsächlich nicht funktioniert, wo wir Jahr für Jahr mehr CO2 nachweisen müssen. Und der Verkehrsminister, das kann ich aus eigener Anschauung berichten, ist nicht sehr glücklich darüber. Was das Problem natürlich nicht einfacher macht, ist, dass wir hier vor Ort tatsächlich ein Automobilstandort sind, der zu spät angefangen hat, über die Transformation nachzudenken. Das soll jetzt keine Hoffnungslosigkeit erzeugen. Diese Transformation ist unterwegs oder hat zumindest begonnen. Und sie ist möglich. Aber - und da bin ich auch tatsächlich im Dissens mit mit der grün-schwarzen Politik - wir müssen uns Folgendes klarmachen: Wollen wir im Verkehrssektor tatsächlich signifikant etwas verändern, dann müssen wir darüber reden, dass eine veraltete Technologie des 20. Jahrhunderts wie das Autofahren tatsächlich einmal ihr Ende findet. Meine Kinder sind 15 und 20, die sagen: "Papa, das waren jetzt 80 Jahre Auto, du weißt doch, wir können damit nicht mehr weitermachen." Aber wenn wir nur die Antriebstechnik verändern, wird das nicht reichen. Wir müssen weg vom Konzept des privaten Besitzes in der Mobilität und hin zu autonomem Fahren und einem völlig neu gedachten öffentlichen Personennahverkehr.

Auf ihren Rat im Expertengremium wird aber wenig gehört? Oder wie darf ich das verstehen?

Im Beirat für Nachhaltigkeit wird natürlich auch darüber geredet. Aber wir haben in Baden-Württemberg auch eine große Lobby in der Industrie, die nach wie vor dem Gedanken anhängt, wir würden die Automobilität tatsächlich noch in die Zukunft bekommen. Manche sind auch verbal aufgeschlossen für Veränderung, wollen aber tatsächlich nichts tun. Daran müssen wir arbeiten. Denn die junge Generation in Baden-Württemberg träumt nicht mehr davon, mit ihrem Auto und den Kindern hinten drin zum Shopping zu fahren. Die Jungen stellen sich eine schöne Zukunft in Baden-Württemberg 2030 ganz anders vor.

Im Bund signalisiert die Ampel Aufbruch, weg vom "Weiter-So". In Baden-Württemberg regieren die Grünen schon seit zehn Jahren, trotzdem kritisieren Sie mit der Verkehrswende eines der Kernaufgabengebiete grüner Politik im Land. Sitzt das falsche Personal an den Hebeln?

Ich möchte das nicht auf das Personal abwälzen. Versuchen Sie mal einen ÖPNV in einem Land stark zu machen, wo seit der Nachkriegszeit das Geschäftsmodell Auto für enormen Wohlstand gesorgt hat. Versuchen Sie mal die Leute, die in den Institutionen und bei den Verkehrsbetrieben jahrelang damit zufrieden waren, drei bis fünf Prozent der Mobilität im Land abzudecken, auf eine Revolution einzustellen. Wenn wir als Trendforscher und Berater mit Menschen im ÖPNV sprechen, dann ist ihnen der Gedanke, dass sie ein ganz wichtiger Teil der Veränderung sind, oft völlig fremd. Dabei könnten sie sich als ÖPNV doch ganz stark fühlen. Verkehrsbetriebe könnten sagen: Wir sind die Elon Musks von Stuttgart. Wir entfernen die Autos aus der Stadt, gemeinsam mit den politisch Verantwortlichen, den Bürgern und der Wirtschaft bauen wir das alles um.

Nach Weltklimakonferenz in Glasgow BW-Verkehrsminister Hermann: Hoffnung auf schnelles Ende des Verbrennungsmotors

Spätestens 2040 ist für Verbrenner Schluss - so wurde es auf der Weltklimakonferenz beschlossen. Doch Deutschland macht nicht mit. Verkehrsminister Hermann setzt auf die Ampel.

Schlagen wir zum Schluss den Bogen zur zweiten großen Herausforderung, die uns auch im Jahr 2022 begleiten wird: die Corona-Pandemie. Kann auch hier eine größere Vision dabei helfen, wieder mehr Vertrauen in die Politik zu schaffen? Eine Studie im Auftrag der Körber-Stiftung hat unlängst erhoben, dass nur noch etwa die Hälfte der Bundesbürgerinnen und -bürger Vertrauen in die Demokratie hat.

Ich glaube, dass eine wichtige Ursache der gesellschaftlichen Spaltung, wie wir sie auch beim Thema Corona gerade erleben, die Ungleichheit ist. Wir müssen feststellen, dass Familien teilweise über Generationen hinweg nicht mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt unterwegs sind, sondern nur in irgendwelchen Aushilfsjobs. Kinder, für die es normal geworden ist, dass der Papa in der Disko putzt und sie das wohl auch einmal machen werden. Der große Hebel gegen die Ungleichheit heißt Arbeitsplätze, Arbeitsplätze, Arbeitsplätze. Jobs, Jobs, Jobs, wie es US-Präsident Joe Biden gesagt hat. Wir müssen jetzt investieren, ein Wagnis eingehen und die sozial-ökologische Transformation so hinkriegen, dass wir genau den Menschen, die heute in der Disko putzen oder uns Einkäufe an die Haustür liefern, bessere und dazu noch nachhaltige Jobs bieten können. Wir müssen Angebote machen. Und wenn die Leute das Gefühl haben, dass sie einen sinnvollen Job machen, der dieser sozial-ökologischen Transformation zuarbeitet, dass sie Teil eines Projektes sind, dann haben wir alle, wir als Gesellschaft etwas davon. Roosevelt hat es vor 100 Jahren vorgemacht. Es ist schwierig, aber lasst es uns um Himmels Willen probieren und Lust machen auf die Zukunft.

Wie könnte eine Pandemie-Politik 2022 aussehen, die die Menschen stärker abholt und trotzdem das richtige Maß zwischen Freiheit und Gesundheitsschutz der großen Mehrheit findet?

In Spanien haben wir gesehen, wie man beim schwierigen Thema Impfen auch mit kleinen Hebeln etwas erreicht. Man hat den Leuten einfach einen Impftermin reserviert und ihnen eine Benachrichtigung geschickt. Liebe Frau X, Lieber Herr Y, wir haben hier einen Termin für Sie. Und wenn sie ihn nicht wahrnehmen wollten, mussten sich die Leute dazu verhalten. So oder so wird Corona in den kommenden Monaten aber ein sehr schwieriges Thema bleiben, weil wir nach wie vor das Ende überhaupt nicht absehen können. Diese Pandemie war überwältigend, es wurden Fehler gemacht und es haben sich Verwerfungen in der Gesellschaft offenbart, die wir uns so nicht klarmachen wollten. Menschen, die offen sagen: "Diese Gesellschaft fördert mich nicht, hilft mir nicht. Für diesen Verein, für Deutschland mache ich nichts. Das sehe ich überhaupt nicht ein. Ich muss gucken, dass ich zurechtkomme." Damit umzugehen, das wird uns auch 2022 noch gut beschäftigen.

Ministerpäsident Winfried Kretschmann hat sich vehement für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Was sagen Sie als Zukunftsforscher: Allgemeine Impfpflicht oder nicht?

Impfpflicht ja. Aber mit einer cleveren Methode - etwa mit einer persönlichen Einladung zum Termin für jeden.

Baden-Württemberg

Wetter, Wahlen und Wahrzeichen - der SWR Aktuell Jahresrückblick Mehr als nur Corona: Das ist 2021 in Baden-Württemberg noch passiert

Nicht alles drehte sich um Corona: 2021 war das Jahr der Wahlen, der Koalitionsverhandlungen und der Wetterrekorde, das Jahr der großen und kleinen Meilensteine. Ein Rückblick.

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Marc-Julien Heinsch