12 Euro Mindestlohn ab 1. Oktober (Foto: IMAGO, Lobeca/Ralf Homburg)

Getrübte Freude bei Gewerkschaften - Ärger bei Unternehmen

12 Euro Mindestlohn - was das bedeutet und wer ab Oktober in BW mehr Geld bekommt

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Matthias Roman Schneider

12 Euro statt nur 10,45 Euro pro Stunde. Das ist ab Oktober der neue Mindestlohn. In Baden-Württemberg sorgt das allerdings nicht nur für Freudenschreie.

Der gesetzliche Mindestlohn steigt zum 1. Oktober 2022 auf zwölf Euro pro Stunde. Laut DGB und ver.di profitieren davon rund 740.000 Beschäftigte in Baden-Württemberg. Dem Bundesarbeitsministerium zufolge sind es in ganz Deutschland mehr als sechs Millionen Beschäftigte.

Bei einer Straßenumfrage von SWR Aktuell halten viele Passanten die Mindestlohnsteigerung für gut, aber für zu gering. Die Menschen wurden vergangene Woche in Esslingen am Neckar befragt:

"Ohne die Erhöhung wäre ein Leben vom Mindestlohn im ohnehin teuren Baden-Württemberg praktisch unmöglich."

"Vor allem Frauen und geringfügig Beschäftigte bekommen jetzt 1,55 Euro mehr pro Stunde", erklärte Martin Gross, ver.di BW-Landesbezirksleiter. Das höre sich aber nach mehr an, als es in der Realität bedeute. "Denn seit die zwölf Euro im Koalitionsvertrag beschlossen wurden, hatten wir über zehn Prozent Inflation." Im nächsten Jahr drohten erneut acht Prozent. "Die seit Jahren nötige Anhebung ist bereits komplett von der Preissteigerung aufgefressen worden", so Gross. Dennoch sei die Mindestlohnsteigerung laut ver.di ein guter und wichtiger Schritt.

DGB: Vor allem Angestellte bei Lieferdiensten und im Einzelhandel profitieren

Auch Kai Burmeister, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds Bezirk Baden-Württemberg (DGB), begrüßt die Mindestlohnsteigerung, der höhere Mindestlohn komme rund 14 Prozent aller Beschäftigten im Land zugute. Die Gewerkschaften berufen sich für die Zahlen auf eine Auswertung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. "Diese Zahlen zeigen: Der Mindestlohn wirkt. Wir Gewerkschaften haben uns lange dafür eingesetzt - die Lohnuntergrenze auf zwölf Euro je Stunde anzuheben - mit Erfolg", so Burmeister.

Die neue Lohnuntergrenze helfe vor allem Frauen und geringfügig Beschäftigten, so der DGB, aber die gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise könne der höhere Mindestlohn nicht auffangen.

Unternehmer in BW halten 12 Euro Mindestlohn für falsch

Der Unternehmerverband UBW (Unternehmer Baden-Württemberg) hält die gesetzliche Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde für falsch. Laut UBW ist es in Deutschland nicht Aufgabe der Politik, Löhne festzulegen. Vielmehr sichere das Grundgesetz den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden im Rahmen der Tarifautonomie das Recht zu Arbeitsbedingungen selbstständig und ohne Eingriff der Politik zu regeln. "Gegen dieses Grundprinzip unserer Wirtschaftsordnung verstößt der gesetzliche Eingriff eklatant", so ein Sprecher der UBW. Auch die Begründung für den Eingriff, "Löhne müssten einen ausreichenden Lebensstandard sichern", sei ebenso falsch. Laut UBW kann die Entlohnung sich ausschließlich daran orientieren, was mit der jeweiligen Arbeit erwirtschaftet wird, nicht aber an der Bedürftigkeit der Arbeitenden. "Würde man Letzteres ernsthaft und konsequent wollen, müsste der 'Mindest'-Lohn für einen Alleinverdiener mit Familie in der Großstadt sehr viel höher sein, als für einen Single in der Provinz. Das wäre absurd und völlig unpraktikabel."

"Hier wird Sozialpolitik über das System der Entlohnung auf die Unternehmen abgewälzt."

UBW: Zu hoher Mindestlohn könne Arbeitsplätze gefährden

Grundsätzlich könne ein Mindestlohn, der nicht darauf Rücksicht nehme, was mit einer Tätigkeit überhaupt erwirtschaftet werden kann, Arbeitsplätze gefährden, so ein Sprecher der UBW. Denn immerhin bedeute die Mindestlohnanhebung eine Verteuerung der Arbeit von mehr als 15 Prozent im Vergleich zum bisherigen Mindestlohn.

Die Anhebung des Mindestlohns treffe vor allem Branchen, in denen die Einstiegsentgelte aktuell teils deutlich unter den 12 Euro liegen und bei denen die untersten Entgeltgruppen durch den neuen Mindestlohn laut UBW "einfach wegrasiert werden". In Baden-Württemberg seien vorallem das Wach- und Sicherheitsgewerbe, der Einzelhandel, die Gastronomie oder Gärtnereien betroffen.

DGB: Viele Beschäftigte erhalten noch immer keinen Mindestlohn

Laut DGB erhalten quer durch alle Branchen viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach wie vor den gesetzlichen Mindestlohn trotz Anspruchs nicht. Der DGB fordert deshalb mehr Kontrollen: "Die Bundesregierung muss die zuständige Behörde Finanzkontrolle Schwarzarbeit personell deutlich stärken." Mindestlohnbetrügereien seien keine Kavaliersdelikte, sondern müssten geahndet werden. "Das geht nicht ohne effektive Kontrollen und Sanktionen", sagte der DGB-Landesvorsitzende.

"Besonders in Branchen wie dem Gastgewerbe, bei Lieferdiensten und im Einzelhandel verweigern Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber den Beschäftigten oft anständige Löhne."

Trotz der Mindestlohnanhebung weist der DGB auf die Sorgen vieler Menschen hin. "Auch mit Mindestlohn ist eine echte Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben nicht möglich. Schlimmer noch: Viele machen sich aktuell ernsthafte Sorgen, was im Herbst und Winter auf sie zukommt", sagte Burmeister. Die gestiegenen Energie- und Lebensmittelpreise könne auch der neue Mindestlohn nicht auffangen.

Immer wieder gibt es Forderungen, den Mindestlohn auch für Menschen vorzuschreiben, die in Behindertenwerkstätten arbeiten. Warum dies am Ende sogar zu Nachteilen führen könnte, zeigt dieser Artikel:

Die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP setzt mit der einmalig vom Bundestag beschlossenen Erhöhung des Mindestlohns ein Wahlversprechen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) um. Gleichzeitig werden die Verdienstgrenzen für Minijobs von 450 auf 520 Euro angehoben, damit Minijobberinnen und -jobber ihre Arbeitsstundenzahl nicht reduzieren müssten. Zukünftige Anpassungen der Löhne sollen laut Bundesregierung wieder nach den Empfehlungen der Mindestlohnkommission erfolgen. Kritiker hatten bei der Mindestlohnsteigerung auf zwölf Euro bemängelt, dass die Kommission umgangen wurde.