Dr. Achim Brötel, Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises (Foto: SWR)

Landrat Achim Brötel zum Flüchtlingsgipfel

Flüchtlingsunterbringung: Neckar-Odenwald-Kreis ist am Limit

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Matthias Wiest
Matthias Wiest (Foto: SWR)

Am Mittwoch treffen sich Bund und Länder zu einem Flüchtlingsgipfel. Der Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises, Achim Brötel, sieht Gesprächsbedarf. Der Neckar-Odenwald-Kreis sei am Limit, sagte er im SWR-Interview.

Der Flüchtlingsgipfel am Mittwoch in Berlin sorgt schon lange im Vorfeld für hitzige Diskussionen. Aus allen Bundesländern kommen Hilferufe von Kommunen, die große Probleme haben, die Asylsuchenden unterzubringen. Die Länder fordern deshalb mehr Geld vom Bund. Im Neckar-Odenwald-Kreis leben rund 1.200 Menschen aus der Ukraine und rund 700 Geflüchtete aus anderen Ländern. SWR Aktuell hat mit dem Landrat Achim Brötel gesprochen.

SWR Aktuell: Der Flüchtlingsgipfel steht bevor. Letztendlich sind ja viele Positionen bekannt. Können Sie zurzeit alle Flüchtlinge, die Ihnen zugewiesen werden, so unterbringen, wie das erforderlich ist? 

Achim Brötel: Wir können das im Moment gerade noch schaffen, aber das Ende dieses Systems ist auch bei uns deutlich sichtbar. Im Moment haben wir noch eine einzige Gemeinschaftsunterkunft im Neckar-Odenwald-Kreis, die wir belegen können. Wir haben für August oder September die vage Hoffnung, noch mal eine zu bekommen. Aber danach wissen wir definitiv nicht mehr weiter, weil wir inzwischen auch in vielen Gemeinderäten einfach auf taube Ohren stoßen. Ich kann ein Stück weit die kommunalpolitischen Verantwortungsträger vor Ort auch verstehen. Das ist alles eine Frage, wie viel kann ein solches System noch verkraften und was ist halt vielleicht wirklich zu viel. 

SWR Aktuell: Das große Schreckgespenst Sporthallenbelegung schwebt noch nicht über den Neckar-Odenwald-Kreis? 

Brötel: Es war immer unser Ziel, auf die Belegung von Sporthallen zu verzichten. Wir haben das 2015/ 2016 geschafft. Wir haben auch jetzt weiterhin den Anspruch, es möglichst zu vermeiden, weil man ja sehen muss: Das trifft wieder die Falschen. Das trifft die Kinder, die Jugendlichen, trifft die Vereine, die gerade in der Pandemie besonders stark gelitten haben, unter den Einschränkungen. Wir würden deshalb alles daran setzen wollen, dass die jetzt tatsächlich verschont bleiben. 

SWR Aktuell: Im Moment leben im Neckar-Odenwald-Kreis, wenn die Zahl stimmt, fast 700 Menschen in Gemeinschaftsunterkünften. Aber die Tendenz, Sie deuten es an, steigt weiter. 

Brötel: Wir haben im ersten Quartal 2023 deutlich steigende Zugangszahlen, fast 80 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum des letzten Jahres. Das ist schon ein Alarmsignal, zumal wir auch nicht verkennen dürfen: In Deutschland leben inzwischen auch mehr als eine Million Geflüchtete aus der Ukraine. Es ist einfach ein Trugschluss und das ist der Politik in Berlin offensichtlich auch nicht bewusst, dass das eben ein Selbstläufer wäre. Das ist mitnichten ein Selbstläufer. Das sind eine Million Menschen. Die müssen auch untergebracht werden. Die müssen versorgt werden, betreut werden. Die müssen administriert werden, müssen letztlich auch integriert werden. Da haben wir eine riesige Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung, ohne die ging es überhaupt gar nicht. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass viele ihre Hilfsbereitschaft überschätzt haben oder das, was auf sie zukommt, unterschätzt haben, und dass wir da jetzt eben zunehmend auch eingreifen müssen von uns aus, um das System am Laufen zu halten. Auch diejenigen, die aus der Ukraine kommen, sind inzwischen andere als die zu Beginn des Krieges. Es ist halt nicht mehr typischerweise die junge Mutter mit drei kleinen Kindern. Sondern es sind ganz andere, teilweise auch schwierige Bevölkerungsgruppen, die da zu uns kommen. 

SWR Aktuell: Inwieweit müssen Sie da eingreifen? Und was tun Sie da? 

Brötel: Das ist einfach so, dass die private Hilfsbereitschaft vielleicht für eine überschaubare Zeitspanne angelegt war, dass man seine Wohnung zur Verfügung gestellt hat, aber jetzt merkt, das Ganze dauert noch deutlich länger, als man sich das vorgestellt hat. Darauf müssen wir uns ja einrichten. Also viele von uns haben ja gehofft, der Krieg in der Ukraine wird irgendwann in überschaubarer Zeit zu Ende sein. Ich glaube, davon müssen wir uns verabschieden. Das kann noch viele Monate, vielleicht viele Jahre dauern. Das überfordert dann manche Privaten doch. Und dann sind wir eintrittspflichtig für die Menschen, die auf privaten Wegen hierher geholt wurden. 

SWR Aktuell: Jetzt sind sich ja alle Beteiligten mehr oder weniger einig, dass das alles kein Dauerzustand sein kann. Und die Situation ist ja mit Ausnahme der Ukraine-Problematik ja auch keine neue. Was ist Ihr Ansatz? Welche Möglichkeiten gibt es, um das Problem längerfristig zu lösen? Geld allein, haben Sie zum Beispiel im Februar schon gesagt, kann es nicht sein. 

Brötel: Geld löst keine Probleme. Geld deckt Probleme allenfalls zu, wo man sagen muss im Bereich der Asylbewerberunterbringung, -betreuung, -versorgung, -integration sind wir eindeutig im Bereich der staatlichen Verwaltung unterwegs. Dass wir überhaupt unserem Geld hinterherlaufen müssen, ist für mich belämmert. Es ist für mich eine pure Selbstverständlichkeit, dass der Bund und letztlich auch die Länder diese Kosten tragen müssen, die Kommunen nicht drauf sitzen bleiben dürfen. Man muss, wenn wir das System lösen will, wirklich generell zu anderen Regelungen kommen. Die Bundesinnenministerin ist inzwischen auch so weit, dass sie dafür plädiert, Asylverfahren schon an den EU-Außengrenzen abzuwickeln. Das muss ein klares Ziel sein, dass tatsächlich nur noch diejenigen bei uns ins System kommen und ihnen auch eine Bleibeperspektive haben. Es hilft nichts, wenn wir unsere internen Hilfssysteme überfordern, wenn wir die Menschen, auch die Ehrenamtlichen überfordern. Die sind nämlich auch inzwischen müde, nach vielen Jahren der Betreuung. Und wenn dann am Ende vielleicht die Stimmung in der Gesellschaft kippt. Das ist schon eine Sorge, die ich gerade habe. Also wir haben Herz. Wir wollen auch Herz zeigen, wollen auch weiterhin Herz zeigen. Aber die Möglichkeiten sind halt endlich. Da ist auch ein gefährlicher Nährboden für radikale Kräfte, die wir alle nicht wollen. 

SWR Aktuell: Wie groß ist mit Blick auf den Flüchtlingsgipfel Ihre Hoffnung, dass da tatsächlich sinnvolle Lösungen rauskommen können? 

Brötel: Ich habe Stand heute durchaus Zweifel, ob da sinnvolle Lösungen dabei rauskommen werden. Nach allem, was man gehört hat aus der Bundesregierung über das Wochenende, ist es ja so, dass die Erwartungen eher gedämpft sind. Aber es muss endlich mal soweit kommen, dass man auch in Berlin die Lebenswirklichkeit zur Kenntnis nimmt. Die Lebenswirklichkeit ist einfach eine andere als die, die man sich da in Sonntagsreden manchmal ausmalt. Man kann sich dieses System vorstellen wie drei kaskadenförmig angeordnete Beckensysteme, die alle einen Überlauf in das andere haben. Also die geflüchteten Menschen kommen zunächst in der Landeserstaufnahmeeinrichtung an, gehen dann weiter in das zweite System. Das ist die vorläufige Unterbringung bei den Landkreisen, um dann nach sechs Monaten die Ukrainer, spätestens nach 24 Monaten die anderen in das dritte System, nämlich die kommunale Anschlussunterbringung zu wechseln. Alle diese Becken haben einen Überfluss. Das funktioniert in der Theorie so, dass der Überlauf immer in das nächste System abgibt. Aber wenn ein Becken keine Aufnahmekapazität mehr hat, und das ist im Moment das dritte Becken, die kommunale Anschlussunterbringung: Der Wohnungsmarkt ist komplett leer gefegt… Dann führt es zum Rückstau in die nächste Stufe. Das merken wir im Moment. In unseren Gemeinschaftsunterkünften leben im Moment relativ viele Menschen, die da eigentlich gar nicht mehr sein dürfen, weil sie schon in der kommunalen Anschlussunterbringung sein müssen, aber keine Wohnung finden. Das setzt sich dann weiter fort bis zur Landeserstaufnahme. Das Land Baden-Württemberg und das Regierungspräsidium Karlsruhe hilft uns gerade wirklich sehr. Das ist vorbildlich, wie sich das Land bei uns verhält. Es wird ganz viel gepuffert, bevor man es weitergibt, aber der Kollaps kommt spätestens dann, wenn alle drei Systeme voll sind. Auf diese Situation laufen wir im Moment zu. 

SWR Aktuell: Aber wenn Sie so skeptisch sind mit Blick auf den Migrationsgipfel: Was können Sie denn noch tun, außer den Kopf in den Sand zu stecken? Was Sie sicher nicht tun… 

Brötel: Wir werden sicher nicht den Kopf in den Sand stecken, weil wir wirklich in der Pflicht stehen, diesen Menschen zu helfen. Ich glaube, Deutschland ist ein reiches Land. Deutschland ist ein Land, das auch eine geschichtliche Verantwortung hat in dem Bereich. Deswegen haben wir für uns immer gesagt, der Neckar-Odenwald-Kreis zeigt Herz und so tun das alle anderen Landkreise auch. Aber Herz allein ist das Eine. Wir müssen tatsächlich auch noch am Ende das Ganze handhaben und handeln können. Es wird nur funktionieren, wenn in der Politik endlich mal Lebenswirklichkeit Einzug hält. Also ich beobachte wirklich mit großer Sorge, dass sich die Politik von der Realität zunehmend entfernt. Das ist was, was nicht gut ist, was auch nicht gut ist für unser demokratisches Gemeinwesen. 

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