Der Prozess um die tödliche Messerattacke auf dem Mannheimer Marktplatz ist am Dienstag vor dem Oberlandesgericht Stuttgart (OLG) fortgesetzt worden. Der Angeklagte Sulaiman A. muss sich wegen Mordes und fünffach versuchten Mordes verantworten. Bei der Messerattacke war der Polizist Rouven Laur ums Leben gekommen.
Vierter Verhandlungstag am OLG in Stuttgart
Im Zeugenstand nimmt an diesem Verhandlungstag ein Ermittler des Landeskriminalamts Baden-Württemberg (LKA) Platz. Unter anderem er hatte die Aufgabe, die mutmaßlichen Chats von Sulaiman A. zu analysieren. Es geht darum herauszufinden, zum wem der Angeklagte am 31.5.2024 - am Tag der Tat - Kontakt hatte. Oder was er sich anhörte. Es sind Chats auf Persisch/Dari, und viele Audiodateien. Der LKA-Ermittler hat sie akribisch ausgewertet, abgeglichen und in Tabellen festgehalten. Es ist ein Ermittler aus dem Bereich des Staatsschutzes. Seine Aufgabe: die strategische Auswertung von ausländischem Extremismus.
Ermittler des LKA: "Eine Art Motivationsansprache"
Es geht um Dateien, die auf dem Laptop und dem Smartphone des Angeklagten gespeichert waren. Es sind über 50 Sprachnachrichten, die ausgewertet werden mussten. Um diese Audio-Dateien zu analysieren, arbeite das LKA mit Experten des Bundeskriminalamts (BKA) zusammen, hieß es. Außerdem wertete ein Islamwissenschaftler vier Chats aus, auch er war am Dienstag als Zeuge geladen.
Deutlich wird bereits am Vormittag im hochgesicherten Saal 1 des Oberlandesgerichts in Stuttgart-Stammheim: Aus diesen Chats wird der Ermittler am Ende kein eindeutiges Bild ableiten können. Und dennoch wird klar, wie tief verzweigt die IS-Propaganda ist (Terrororganisation IS, selbst ernannter sog. Islamischer Staat, Anm. der Redaktion). Wie sich dessen Einfluss und Lehren in sozialen Netzen wiederfinden. Und auch aus dem hessischen Heppenheim (Kreis Bergstraße) bei Mannheim konsumieren lassen.
Ermittler von LKA und BKA finden heraus, dass es bereits Wochen vor der Tat einen Austausch auf dem Smartphone von Sulaiman A. mit anderen gibt. Im Fokus steht eine Sprachnachricht, die schon am 23. Mai 2024, also mehr als eine Woche vor der Tat, in einem Chatverlauf auftaucht. Ermittler filtern einen "O.R." heraus, einen Mann, der offenbar als Sheikh, als Scheich, auftritt. Der Angeklagte nannte ihn wohl "Professor" oder auch "Lehrer", heißt es, je nach Übersetzung.
Der Angeklagte nannte ihn Professor oder Lehrer.
Ermittler versuchen Stimmen im Netz abzugleichen
In den Monaten nach der Tat werten die Ermittler Stimmen aus den Chats aus. Filtern Ausschnitte und gleichen sie miteinander ab. Der Ermittler des LKA analysiert dafür auch Profile des Messengerdienstes WhatsApp, findet über weitere Telegram-Chats Verbindungen zu einem hochrangigen IS-Kommandeur. In anderen Chats gibt es sogar einen Austausch mit einem Mann, der als "Geldabholer" beschrieben wird. Über ihn lässt sich eine digitale Überweisung nach Afghanistan nachweisen. Ein Western-Union-Überweisungsträger. Adressiert an eine Adresse in Kabul. Wer der oder die Empfänger ist, bleibt unklar.
Auftraggeber ist ein gewisser Abdullah B. Der "Geldaboler", zu dem Sulaiman A. Kontakt gehabt haben soll. In diesen Chats ist nach Übersetzungen zu lesen, wie jemand schreibt: "In Ihrer Erklärung haben sie gesagt, dass man sein Reichtum für Gott oder nach dem Willen Gottes spenden muss. Ich will spenden. Kann ich es an Sie schicken. Sie dazu beauftragen?" Dann folgt eine Antwort: "Wenn Sie können über Twitter. Es gibt auch die Azizi Bank."
Es handelt sich um ein Protokoll vom 8. Mai 2024, mehr als drei Wochen vor der Tat. Andere Chats reichen bis in den April 2024 zurück. Darin heißt es, der Angeklagte möchte sich Wissen aneignen. Offenbar Wissen von Predigern, die nicht nur auf Telegram, sondern auch in Kontaktgruppen auf der Videoplattform Youtube ihre religiösen Ansichten verbreiten wollen. Über Rufnummern seien diese Männer dann erreichbar, erklärt der Ermittler.
Islamwissenschaftler: "Er hat sich wahrscheinlich über das Internet radikalisiert"
Besonders die Beziehung zwischen dem bis heute unbekannten Chatpartner "O.R." und Sulaiman A. steht im Zentrum der Analyse des Islamwissenschaftlers, der für das BKA sogenannte Vermerke schreibt. Der 70-Jährige Wissenschaftler hat auf der ganzen Welt gearbeitet. Er spricht Arabisch, Persisch und Türkisch. Mit seinen Analysen arbeitet er den Ermittlungsbehörden zu, wobei er in seinen Thesen völlig frei entscheiden kann. Er beschreibt darin, welche tiefen Kenntnisse des Islam, der Thesen des IS und eines IS-Kalifats der Angeklagte in diesen Chats zeigt. A. habe sich gegenüber "O.R." als Suchender ausgegeben.
Sulaiman hatte eine Gewalttat geplant, wollte aber von O.R. eine Bestätigung.
Die Analyse der Telegram-Chats lässt den Islamwissenschaftler zu einem eindeutigeren Bild kommen, als es der LKA-Ermittler beschreibt. Der Angeklagte sei "tief drin" in der Thematik des IS gewesen. "O.R." habe ihn in den Chat-Gesprächen geprüft. Es ist ein direkter Austausch, mindestens ab April 2024. So habe Sulaiman A. auch explizit danach gefragt, ob er als Zivilist Ungläubige bekämpfen könne. Und "O.R." habe ihn dazu ermutigt. Außerdem habe sich A. für hochrangige IS-Propagandisten interessiert. Unklar bleibt, ob Suleiman A. lediglich vom IS fasziniert war oder ob er bereits in ein radikalisiertes Netz eingebunden wurde.
Angeklagter verfolgt Zeugenvernehmung
Sulaiman A. ist an diesem Dienstag ganz in Schwarz gekleidet. Wie immer sitzt er hinter gesichertem Glas. Hinter sich zwei Justizvollzugsbeamte. Sein Blick ist mal nach vorne gerichtet, dann auf den Boden. Die Auswertung der Chats verfolgt er aufmerksam. Mit verschränkten Armen. Nur einmal ändert sich seine Haltung. Es ist der Moment, als der Nebenkläger und verurteilte Islamkritiker Michael Stürzenberger den Saal betritt. Knapp eine Stunde nach Beginn der Verhandlung. Ihm galt mutmaßlich der Angriff auf dem Mannheimer Marktplatz. Dort hatte die islamkritische Bürgerbewegung Pax Europa ihren Stand errichtet. Die weißen Sneaker des Angeklagten tippeln in diesem Moment gegen die Panzerglasscheibe.
IS-Umfeld - aber kein eindeutiges Bild durch Telegram-Chats
Es geht an diesem Dienstag auch um Videos mit IS-Propaganda-Inhalten. Es geht um Flaggen und Ansprachen von Predigern. Eindeutig nachweisen lässt sich aus Sicht des Experten speziell eine Stimme: Die des "Professors". Bei diesen Aufnahmen handelt es sich um direkt an A. gerichtete Sprachnachrichten. Nicht um Anweisungen oder Befehle, heißt es von Ermittler-Seite. Sondern offenbar um IS-Lektionen. Allgemeine Sprachaufnahmen. In diesem Punkt analysiert der Islam-Experte weitergehend: Mit "O.R." habe es intensiven und gleichzeitig direkten Austausch gegeben.
Für den Ermittler des LKA, der tief in Telegram-Kanälen recherchierte, ist klar, so beschreibt er es, dass er sich in einem IS-Umfeld befindet. Was nicht eindeutig wird ist, in welchem direkten Austausch Sulaiman A. damit stand. Ob er lediglich konsumierte und nach Rat fragte - oder tatsächlich aktiv mitwirkte. Das bleibt an diesem Dienstag - trotz aller Klarheit des Islam-Experten - offen. Es ist eine wichtige Frage in diesem Prozess, auch wenn Sulaiman A. laut Anklage nicht für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt ist. Der Vorsitzende Richter fasst es schließlich an diesem Tag einmal knapp so zusammen: Die Chats ergeben kein einheitliches Bild, die Identitäten bleiben offen, die Nähe zum IS wird sichtbar.
Die Verteidiger von Sulaiman A. erkennen das. Er selbst äußert sich dazu am Dienstag nicht.