SWR Aktuell: Die Situation in der Ukraine spitzt sich immer mehr zu. Haben Sie Angst vor einer Eskalation?
Karl Lamers: Ich habe große Sorge, was die politische Entwicklung in diesem Teil der Welt angeht, in der Ukraine, um die Ukraine herum, jetzt auch in Europa. Mich persönlich bewegt das auch, weil ich zu denen gehört habe, die seit 30 Jahren an der Seite zum Beispiel Estlands, Lettlands und Litauens standen, als diese ihren Weg in die euro-atlantischen Strukturen gesucht haben. Ich war oft in diesen Ländern, die jetzt Mitglied der NATO und der Europäischen Union sind, weil sie das selber wollten, nicht, weil wir sie uns gegriffen haben. Ich war auch oft in der Ukraine, insbesondere im Jahre 2004, als die Menschen wirklich versucht haben, sich selber den Weg in die Freiheit zu öffnen - abends auch in den Zelten mit vielen Studentinnen und Studenten. Ich habe in die Augen von jungen Menschen geschaut, die einfach frei sein und frei leben wollen. Jetzt erleben wir einen russischen Präsidenten, der die ganze Entwicklung der letzten Jahrzehnte einfach zurückdrehen, Geschichte auf den Kopf stellen will, einen Rollback. Das geht gar nicht: Es ist ein Verstoß gegen alle Verträge, die auch Russland unterschrieben hat, die auch Putin unterschrieben hat.
SWR Aktuell: Mehrere Staatschefs haben in den vergangenen Tagen das Gespräch mit Putin gesucht - darunter Olaf Scholz und Joe Biden. Waren diese Gespräche von vornherein zum Scheitern verurteilt?
Karl Lamers: Dialog ist immer notwendig. Wir müssen miteinander sprechen. Aber wir haben erlebt, dass Putin lügt, dass er auf der einen Seite Gespräche führt, auf der anderen Seite aber bereits dabei war, diesen unsäglichen Plan in die Tat umzusetzen. Ich unterstütze den Bundeskanzler, den amerikanischen Präsidenten und vor allem auch den französischen Staatspräsidenten Macron, die bis zum letzten Moment versucht haben, Putin von diesem unheilvollen Weg abzuhalten. Es ist nicht gelungen, aber das heißt ja nicht, dass es falsch war. Man muss immer um den Frieden ringen. Es geht hier um Menschen, um Menschenleben und um das, was es kosten kann, wenn jetzt wirklich Krieg käme. Deswegen war nichts umsonst. Aber leider merken wir, dass Putin sich nicht davon hat abhalten lassen. Das ist wirklich tragisch.
SWR Aktuell: Kann die NATO jetzt nur noch den militärischen Weg gehen?
Karl Lamers: Nein, ich gehöre jetzt noch bis zum heutigen Tag zum Präsidium der Parlamentarischen Versammlung der NATO. Heute ist die Sitzung. Ich werde daran online teilnehmen und auch zu den Mitgliedern des Standing Commitees sprechen. Da sind alle 30 NATO-Staaten weltweit zugeschaltet. Militärische Antwort: Nein. Aber ich bin der Meinung: Jetzt ist die Stunde, dass die Sanktionen in Kraft treten müssen. Hier geht es jetzt um die Glaubwürdigkeit des Westens. Wir können nicht immer nur darüber reden, sondern jetzt müssen wir handeln. Wir haben militärische Reaktionen ausgeschlossen. Das ist auch richtig, weil das Menschenleben, viele Tote auf allen Seiten kosten würde. Aber jetzt muss Putin deutlich gemacht werden, dass er hier eine rote Linie überschritten hat, die wir nicht akzeptieren. Ich wäre sehr froh, wenn ich morgen in Ihrem Sender und in allen Zeitungen lesen und hören würde, dass der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Männerfreundschaft mit Putin aufgekündigt hat und sich aus allem zurückzieht, was er angestrebt hat und anstrebt: Gazprom und alle Beteiligungen. Jetzt ist der Schritt da, dass hier ein Bruch auch von seiner Seite stattfindet.
SWR Aktuell: Worum genau geht es Putin eigentlich? Sind es wirtschaftliche Gründe? Oder geht es vielleicht um persönliche Verletzungen, die mit militärischen oder wirtschaftlichen Sanktionen überhaupt nicht zu bewältigen wären?
Karl Lamers: Ich stimme dem zu, was Sie gerade gesagt haben. Ihm geht es jetzt nicht um die wirtschaftlichen Dinge, sondern ich habe ihn persönlich erlebt, in München, im Jahre 2007. Ich habe ihn erlebt am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag. Dieser Mann ist besessen von der Idee, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen. Nein, es war ein Akt der Befreiung für viele Länder. Aber davon ist er besessen. Das führt er jetzt Schritt um Schritt durch. Ich war in Georgien. Da war die Abspaltung von Südossetien, Abchasien. Wir haben die Probleme in Moldawien. Wir haben die Annektion der Krim. Jetzt geht es weiter in den Donbass, in die Ostukraine. Wo will er Halt machen und stoppen? Hier wird die europäische Staatenordnung verändert. Das, was sich Menschen in aller Welt, in Europa, in friedlichen Revolutionen erarbeitet haben. Jetzt müssen wir geschlossen ein Stoppschild zeigen und alle Sanktionen sofort und ohne große Diskussion in Kraft setzen, damit er zumindest diese Sprache versteht.
SWR Aktuell: Sie sind auch Honorarkonsul der Republik Estland für Baden-Württemberg. Muss sich das Baltikum jetzt, wenn man nicht diese entschiedenen Schritte geht, denn auch Sorgen machen?
Karl Lamers: Jeder muss sich Sorgen machen, weil offensichtlich die Vorstellungswelt, wozu Putin in der Lage ist, unbegrenzt ist. Gerade was die baltischen Staaten anbetrifft. Estland, Litauen und Lettland: Das sind wunderbare Länder, die sich ihren Weg in die Freiheit selbst erobert haben. Jetzt muss auch die Stunde sein, in der die NATO klar erklärt, dass Artikel 5, die Beistandsverpflichtung, in Stein gemeißelt ist. Dass keiner Sorge haben muss, dass er vielleicht auch noch auf die Idee kommt, auf Länder innerhalb unseres Bündnisses zuzugreifen. Das geht gar nicht. Deswegen ist jetzt die Stunde, das Bündnis zu stärken. Wenn Putin vorhatte, die NATO zu schwächen, hat er das Gegenteil erreicht. Ich erlebe die NATO heute geschlossener denn je. Ich erlebe die Europäische Union geschlossener denn je. Ich erlebe Konsultationen zwischen beiden Institutionen. Wenn er also versucht hat, uns zu schwächen, dann muss ich sagen: Das Gegenteil ist erreicht. Wir stehen zusammen. Ich sage gerade auch in Richtung Estland, Lettland und Litauen: Macht euch keine Sorge. Wir stehen wie eine Eins zusammen.