Prof. Dr. Philipp Gassert ist Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. In seiner wissenschaftlichen Karriere beschäftigt er sich mit der globalen Geschichte des Straßenprotests von 1848 bis in die Gegenwart.

SWR: Wie unterscheiden sich die heutigen Formen von Klimaprotesten?
Philipp Gassert: Fridays for Future sind diejenigen, die angefangen haben. Diese Bewegung war zunächst sehr stark bei Schülerinnen und Schülern, Studierenden und so weiter. Die haben sich sehr stark über soziale Medien organisiert; die Fridays-for-Future-Demonstrationen hatten aber eine gewisse Spontanität - ausgelöst unter anderem von Greta Thunberg. Mit den Klimastreiks über die Schulen hat das begonnen, mittlerweile hat es sich selbst etwas weiter verbreitet. Es hat sich auch ein Stück professionalisiert.
"Weniger offen für andere Personengruppen"
Die anderen beiden Bewegungen "Extinction Rebellion" und "Letzte Generation" sind Bewegungen, die radikaler auftreten in ihren Aktionsformen, die engere Netzwerke darstellen, also weniger offen sind für andere Personengruppen, was aber auch typisch ist. Sie finden innerhalb der Proteste immer eine Bandbreite von Organisationen, also eher bürgerlich liberal, in der Mitte stehend, eher zivilisiert, die mit klassischem Protestdemonstrationen auftreten, bis hin zu Organisationen, die disruptiven Protest ausüben.
Wenn Sie mich nach dem Unterschied von "Extinction Rebellion" und "Letzte Generation" fragen, dann liegt meines Erachtens der Unterschied darin, dass "Extinction Rebellion" eine internationale, also transnationale Organisation, ist, die es in vielen demokratischen Ländern gibt. Während die "Letzte Generation" meines Wissens eine Organisation ist, die im Wesentlichen in Deutschland stattfindet.
SWR: Wie sind die heutigen Formen der Klimaproteste entstanden?
Gassert: Die Fridays-for-Future-Proteste sind definitiv aus dem Gefühl heraus entstanden - vor allem aus der jüngeren Generation -, dass die Politik nicht ausreichend das Klima-Thema auf die Agenda setzt oder nicht ausreichend handelt.
"Radikalisierung entsteht aus einer Enttäuschung"
Die beiden anderen Organisationen sind daraus entstanden, dass man aus dem friedlichen und non-disruptiven Protest glaubte, nicht genügend Aufmerksamkeit gewonnen zu haben. Also auch hier kann man sagen: Historisch finden Sie das immer wieder, dass sich dann einzelne Gruppierungen aus einer gewissen Enttäuschung heraus abspalten und zu radikaleren, disruptiven Protestformen greifen.

SWR: Welche der Gruppierungen tritt im öffentlichen Diskurs in den Vordergrund?
Gassert: Während Fridays for Future bekannt ist, wahrgenommen wird, ist diese Protestaktion schlicht und einfach weniger präsent im Moment, weil sie nicht diese disruptiven Formen haben und sich ab und an treffen. Es gibt immer wieder Freitagsdemonstrationen, aber die finden doch in größeren Abständen statt.
Deswegen glaube ich, dass im Moment die mediale Aufmerksamkeit eher bei diesen radikaleren Gruppierungen ist. Das kann sich natürlich auch wieder ändern. Also, es ist immer eine Frage des Moments, an dem man diese Frage stellt.
SWR: Was kommt auf uns zu in Sachen Klimaproteste?
Gassert: Es ist schwer zu prognostizieren, weil es davon abhängt, welche anderen Themen unsere Gesellschaft beschäftigt. Wir haben das bei Fridays for Future gesehen. 2018, 2019 war das noch aktuell. Dann kam Covid und die ganze Corona-Krise mit dem Lockdown. Dann waren plötzlich Fridays-for-Future-Demonstrationen erst mal weg vom Fenster, konnten sich nicht so organisieren, konnten keine großen Protestmärsche organisieren und veranstalten. Alles drehte sich nur um Covid.
Jetzt haben wir das Thema Ukraine-Krieg, worauf ein starker Fokus liegt. Aber es kann im Herbst ein anderes Thema kommen, das weder Sie noch ich bisher kennen. Deswegen sind solche Vorhersagen immer nur möglich unter Bezug auf ein Wissen, was denn eintreten könnte.
"Gemäßigtere Bewegungen wirken eher auf die Politik ein"
Wenn Sie mich jetzt fragen werden, ob sich eher die radikaleren oder die gemäßigteren Gruppierungen durchsetzen. Dann glaube ich, dass im Allgemeinen die gemäßigteren Bewegungen in einer Demokratie eher die Chance haben, auf die Politik einzuwirken, als solche Gruppierungen, die sich radikalisieren, die disruptiven Protest, zum Teil ja auch Gewalt oder Ähnliches anwenden.
Eine Klimabewegung entsteht ja zunächst sehr breit, von Jugendlichen getragen, die aus der Mitte der Gesellschaft kommen und die ihr Anliegen vortragen. Ein Stück weit auch durchaus das Gehör der Politik finden, aber andere, radikalere Kräfte merken, dass der Wandel in der Demokratie nicht so schnell vorangebracht werden kann, wie sich das die Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten ursprünglich mal gewünscht haben.
Und das ist sozusagen der Moment, wo es kippt. Wir müssen also noch mehr tun; noch mehr Aufmerksamkeit auf das Thema lenken. Wir müssen die Leute wirklich da treffen, wo es ihnen wehtut, zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit, sagen die Aktivisten dann. Nur so gewinnen wir die öffentliche Aufmerksamkeit. Und diese Art von Disruptive hat Fridays for Future einfach nicht gehabt. Deswegen war es auch durchaus erwartbar, dass es zu dieser Radikalisierung gekommen ist.