SWR: Schaut man auf die Kinder-Impfquoten bundesweit, liegt Baden-Württemberg eher auf den hinteren Plätzen. Woran liegt das?
Benedikt Fritzsching: Hier ist natürlich grundsätzlich die Frage, was man vergleicht. Beispielsweise gibt es noch keine Impfung für Null- bis Vierjährige und man muss die entsprechenden Populationen vergleichen. Außerdem gibt es keine allgemeine Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission für die Fünf- bis Elfjährigen. Und das ist sicherlich ein Faktor, der für die Eltern ganz entscheidend ist. Außerdem stammt diese Empfehlung aus einer Zeit, in der die Delta-Variante dominant war. Das sind Fragen, die auch Eltern sich stellen, wenn sie bewerten müssen, wie sinnvoll die Impfung für ihre Kinder ist.
Andererseits gab es im Januar in Baden-Württemberg gerade auch an Schulen besonders hohe Infektionszahlen. Das könnte die Entscheidung auch beeinflussen?
Tatsächlich sind die Zahlen sehr hoch. Die Inzidenzen sind laut Zahlen des RKI (Robert-Koch Institut, Anm. der Redaktion) bei den Fünf- bis Vierzehnjährigen im Vergleich zu der Gesamtpopulation aktuell doppelt so hoch. Wenn man die Hospitalisierungsraten anschaut, sehen wir aber in dem Bereich der Kinder, die wir impfen können, derzeit keine Steigerung. Im Bereich der Null- bis Vierjährigen sehen wir, dass die Hospitalisierungen etwas steigen, aber für diese Altersgruppe gibt es derzeit noch keine Impfung.
Viele Eltern wollen ihre Kinder grundsätzlich vor einer Infektion schützen, da muss man aber sagen: Die Impfungen schützen wenig vor einer Infektion, sondern vor einem schweren Verlauf. Da ist die Erwartung etwas zu groß. Die Impfung wurde gegen den schweren Verlauf einer Deltavirus-Infektion entworfen und wird nun gegen Omikron angewendet. Darum bewerten dann auch manche Eltern den individuellen Nutzen derzeit als nicht hoch genug. Der Ausdruck von Zurückhaltung bei Kinderimpfungen ist nicht immer ein Zeichen von fehlender Beratung. Da kann es auch sein, dass manche Eltern bewusst warten. Da gibt es kein falsch oder richtig. Es ist nur wichtig, den Kindern auch zu erklären, warum sie das als Eltern so entschieden haben. Damit sie im Gespräch mit Freunden auch sagen können, warum sie geimpft sind oder nicht.
Mit welchen weiteren Fragen kommen Eltern jetzt in der Omikron-Welle noch auf Sie zu?
Auch weil die Infektionen in der Gruppe der Null- bis Vierjährigen derzeit stark steigen, werden wir oft gefragt, ob sie nicht doch dorthin gehen sollen, wo ein Arzt mit irgendeiner selbstdefinierten Dosis eine "Off-Label-Impfung" durchführt. Das würden wir aber nicht empfehlen, unter anderem wegen offenen Fragen zur Wirksamkeit. Aber nicht zu impfen, ist natürlich für manche Eltern von Kleinkindern eine schwer auszuhaltende Situation.
Sehen Sie auch mehr erkrankte Kinder in ihrer Praxis, jetzt wo die Infektionszahlen stark gestiegen sind?
Wir nehmen an, dass sich einerseits relativ viele Kinder anstecken, aber nicht alle auffallen, weil nicht alle ausreichend getestet werden. Dann gibt es viele Kinder, die positiv getestet werden, aber kaum Symptome haben. Es gibt aber auch eine nennenswerte Gruppe mit den Symptomen einer Atemwegsinfektion: Schnupfen, Halsweh, Husten, eventuell eine erhöhte Temperatur. Da gibt es dann auch Kinder, die sind subjektiv einige Tage schwerer krank und haben Gliederschmerzen oder Schüttelfrost. Sie haben aber keine Erkrankung der Lunge und sind daher im medizinischen Sinne nicht schwerer erkrankt und müssen nicht ins Krankenhaus. Das heißt, sie werden in den Kinderarztpraxen behandelt. Da ist schon sehr viel zu tun im Moment.
Welche Sorgen haben die Kinder selbst?
Vor allem ältere Kinder und Jugendliche haben teilweise sehr viele Sorgen, weil sie wahrnehmen, wie viele von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern positiv getestet werden. Außerdem überlegen sie, ob sie die Impfung möchten, auch weil die Sorge besteht, dass sie an Veranstaltungen nicht so unkompliziert teilhaben können, wenn sie nicht geimpft sind. Diese Überlegungen sind längst bei Kindern und Jugendlichen angekommen.
Das heißt, der gesellschaftliche Druck spielt auch eine Rolle?
Uns wird nicht aktiv berichtet, dass Kinder oder Jugendliche ausgeschlossen werden, weil sie nicht geimpft sind. Es ist eher indirekt, weil das Testen oft komplizierter ist. Auch bei der Übernachtung in der Gruppe zum Beispiel kommt dann die Frage auf: 'Bist du geimpft?'.
Was raten Sie Eltern, die noch keine Entscheidung getroffen haben?
Ich würde dringend empfehlen, sich immer wieder neu zu informieren. Eine Entscheidung zum Beispiel gegen die Impfung der Kinder sollte immer wieder überprüft werden. Wenn sich die Situation ändert, weil die Infektionszahlen sich ändern, oder die STIKO (Ständige Impfkommission, Anm. der Redaktion) anders entscheidet, empfehle ich immer wieder die Beratung und das Gespräch mit der vertrauten Kinderärztin oder dem Kinderarzt. Die Situation ist dynamisch. Daher muss die Lage immer wieder neu beurteilt werden.
Haben Sie schon Impfnebenwirkungen oder Long-Covid bei Kindern in Ihrer Praxis festgestellt?
Bei den Impfnebenwirkungen haben wir schon mal allergische Reaktionen, in Form einer Lippenschwellung beispielsweise gesehen, die relativ schnell wieder abgeklungen sind. Wir sehen aber sehr wenig Nebenwirkungen über das bekannte Maß hinaus, also lokale Schmerzen oder eine Temperaturerhöhung. In anderen Praxen in Heidelberg sind bei Jugendlichen sehr milde Fälle von Herzmuskelentzündungen aufgetreten, die ohne Behandlung wieder abgeklungen sind. Das sind sehr seltene Nebenwirkungen, die eher Jugendliche betreffen.
Wir sehen auch Kinder, die anhaltende Beschwerden möglicherweise aufgrund einer Covid-Infektion haben. Man muss das so vorsichtig formulieren, weil es noch keine abschließende Diagnosekriterien für Long-Covid gibt - das bleibt eine Ausschlussdiagnose. In den allermeisten Fällen klingen bei Kindern die Symptome aber nach spätestens einem halben Jahr komplett wieder ab. Das ist ein wichtiger Unterschied zu Erwachsenen.
Haben Sie den Eindruck, dass die Kinder in dieser Phase der Pandemie genug geschützt werden?
Das ist sehr unterschiedlich je nach Region, Kommune und Altersklasse des Kindes. Für Null- bis Vierjährige gibt es kein Impfangebot. Für diese Gruppe haben wir aber auch in den Kitas reduziertere Hygienemaßnahmen, diese Gruppe hat aber das höhere Risiko einer Infektion. Teilweise werden die Testungen in Kitas sehr gut kontrolliert, mancherorts wird aber nur nach der Unterschrift geschaut und nicht danach, ob der Test stattgefunden hat. Auch die Qualität der Tests variiert sehr stark, je nachdem, was die Kommune eingekauft hat. Wir sehen immer wieder auch ungeeignete Tests. Dann gib es die Frage nach Filteranlagen, bei der zweifellos auch Kostenaspekte eine Rolle gespielt haben. Wir sind jetzt mittlerweile so weit in der Pandemie, dass man eine Kommune schon auch fragen muss, wieso in einem schlecht zu belüftenden Raum keine Filteranlagen stehen. Ich bin aber überzeugt, dass wir insgesamt noch mehr tun können, was den Schutz der Kinder angeht. Insbesondere derer, für die wir noch kein Impfangebot haben.