In Deutschland gibt es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes jährlich rund 100.000 Schwangerschaftsabbrüche. Gründe dafür liegen laut einer Dissertation an der Universität Heidelberg oft im Umfeld der Familie. Genannt werden als Gründe unter anderem die Ablehnung der Schwangerschaft durch den Kindesvater und die Nötigung zu einer Abtreibung. Die Dissertation wurde im Fachjournal "Geburtshilfe und Frauenheilkunde" veröffentlicht.

Grundlage für Forscher aus Heidelberg: Gedächtnis-Protokolle einer Beratungsstelle
Für ihre Erhebung griffen die Forscher um Professor Axel W. Bauer (Leiter des Fachgebiets für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg) auf anonymisierte Gedächtnis-Protokolle der Telefon- und Onlineberatungsstelle "VitaL" zurück, die unmittelbar nach den Gesprächen von VitaL-Mitarbeitern angefertigt worden waren. "VitaL" ist eine bundesweit tätige Beratungsstelle mit Sitz in Augsburg, die 2001 als Bürgerinitiative gegründet worden war. Sie zählt nicht zu den vom Land Baden-Württemberg anerkannten Beratungsstellen, die sogenannte Beratungsscheine ausstellen dürfen, die zum Schwangerschaftsabbruch nach den gesetzlichen Vorgaben benötigt werden.
Die Wissenschaftler untersuchten die anonymisierten Gedächtnis-Protokolle von rund 1.600 Konfliktfällen der Beratung aus den Jahren 2012 bis 2018. Dabei zeigte sich, dass "Partnerschaftsprobleme" am häufigsten genannt wurden, gefolgt mit deutlichem Abstand von biografischen Gründen, Überforderung und äußerem Druck. Wenn man alle Konfliktgründe zusammennimmt, dann ergebe sich laut der Dissertation, dass mehr als 30 Prozent aller Hauptgründe für den Schwangerschaftskonflikt durch den Einfluss Dritter auf Schwangere bedingt sind. Damit relativiere sich die Sichtweise, wonach Abtreibung vor allem eine selbstbestimmte Entscheidung von Frauen sei, so die Verfasser.
Im Interview mit SWR Aktuell erläutert der Heidelberger Arzt und Medizinethiker Florian Dienerowitz die Ergebnisse der Dissertation.
Interview zur Dissertation über mögliche Gründe für Schwangerschaftsabbrüche
Kritik von pro familia Baden-Württemberg
Pro familia Baden-Württemberg kritisierte gegenüber dem SWR unter anderem die Methodik der Untersuchung und die Quellenauswahl.
"Selektive Datenbasis für diese Studie sind nicht standardisiert erhobene Daten einer staatlich nicht anerkannten Online-Beratungsstelle, die dem Umfeld sogenannter "Lebensschützer" – treffender ist allerdings der Begriff Selbstbestimmungsgegner - zuzuordnen ist."
Die Einrichtung VitaL erfülle weder die rechtlich vorgegebenen Qualifikationsanforderungen noch die Standards noch die Dokumentationspflichten anerkannter Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen, teilte pro familia weiter mit. Auch die Ergebnisse und besonders die abgeleiteten Schlussfolgerungen müssten vor diesem Hintergrund kritisch betrachtet werden. Solche Studien verfälschten das Bild in der Öffentlichkeit zur Situation von Menschen im Schwangerschaftskonflikt und verhinderten eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Weiterentwicklung von Versorgungsleistungen und Beratungsangeboten, so pro familia gegenüber dem SWR.
Groß angelegte "Elsa-Studie" läuft
Ende 2023 werden indes die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie zur Thematik erwartet, die vom Bundesministerium für Gesundheit finanziert wird. Deutschlandweit forschen seit November 2020 verschiedene Hochschulen und Universitäten, als Grundlage werden unter anderem die Daten anerkannter Beratungsstellen verwendet. Informationen dazu sind hier zu finden.
Rechtliche Voraussetzungen
In Deutschland darf eine Schwangerschaft unter anderem dann abgebrochen werden, wenn eine gesetzlich vorgeschriebene Beratung erfolgt ist und eine entsprechende Beratungsbescheinigung erstellt wurde. Zugelassene Beratungsstellen können in einer Suchmaschine auf einer vom Bundesfamilienministerium geförderten Internetseite recherchiert werden.