Hans-Georg Kräusslich ist Chef der Virologie im Heidelberger Uniklinikum. Im Lauf der vergangenen beiden Corona-Jahre hat der Experte regelmäßig Interviews im SWR zur aktuellen Corona-Lage gegeben. Jetzt ist mit den Affenpocken ein neues Thema dazugekommen.
SWR Aktuell: Viele Menschen machen sich jetzt Sorgen wegen der Affenpocken. Auch in Deutschland haben sich schon einige Menschen damit infiziert. Droht uns da möglicherweise die nächste Pandemie, wo Corona noch nicht richtig verschwunden ist?
Hans-Georg Kräusslich: Nein, ich denke, eine Pandemie mit Affenpocken ist sehr unwahrscheinlich und wird nach allem, was ich höre, auch von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderen Einrichtungen nicht befürchtet. Affenpocken - das ist wieder eine "Zoonose" also ein Erreger, der vom Tier auf den Menschen übergegangen ist. Hauptwirt sind wohl Nagetiere. Ein Erreger, der seit 50 Jahren bekannt ist, ist kein komplett neues Virus. Es löst wenige, aber immer wiederkehrende Infektionen aus. Insbesondere in Zentral- und Westafrika. Und dann gelegentlich auch sogenannte "importierte Infektionen". Also der erste Fall in London zum Beispiel im Mai, das war ein Reisender, der aus Nigeria kam.
Das Besondere ist, dass wir jetzt an vielen Orten - in Madrid, in Lissabon, in München, in Berlin, in London und anderen Orten - fast zeitgleich innerhalb weniger Wochen Infektionen haben. So dass man schon von einer gewissen Ausbreitung des Erregers und von deutlich mehr Fällen ausgehen muss, als die, wie wir bisher sehen. Man kann also schon davon ausgehen, dass es deutlich mehr Fälle geben wird, als die aktuell etwa hundert gemeldeten Fälle.
Aber: Die Ausbreitungsgeschwindigkeit und die Übertragung von Mensch zu Mensch ist wesentlich geringer, als wir das von Corona kennen. Also: Eine Ausbreitung, die genauso schnell und genauso breit gehen würde, ist außerordentlich unwahrscheinlich, davon ist nicht auszugehen. Aber beobachten muss man das Ganze und entsprechend auch eindämmen. Es gibt ja auch in manchen Ländern schon Empfehlungen. Belgien hat eine Quarantäne verhängt, Großbritannien wird das wohl auch tun, und auch in Deutschland wird es in Kürze eine entsprechende Empfehlungen geben.
Patient wird in Uniklinikum versorgt Erster Fall von Affenpocken in Baden-Württemberg gemeldet
Das baden-württembergische Gesundheitsministerium meldet eine erste Infektion mit Affenpocken aus dem Ortenaukreis. Die infizierte Person wird im Uniklinikum Freiburg behandelt.
Rechnen Sie damit, dass diese Krankheit auch die Rhein-Neckar-Region demnächst erreichen wird?
Das ist reine Spekulation. Das hängt davon ab, ob Personen, die sich irgendwo anders infiziert haben, hierherkommen oder nicht. Ausschließen kann man es nicht. Aber wie gesagt, wie stark sich das ausbreiten wird, das wird sich in den kommenden drei, vier Wochen zeigen. Aber dass es mehr Fälle sein werden, insgesamt und auch in Deutschland, das ist klar, glaube ich.
Pocken-Impfung ein Vorteil für Menschen, die vor 1975 geboren wurden
Müssen wir uns Sorgen machen, wenn solche Affenpocken-Fälle hier auftreten?
Die Erkrankung mit dem westafrikanischen Erreger-Stamm verläuft üblicherweise nicht sehr schwer. Der Stamm wurde bisher in allen Fällen nachgewiesen. Aber es gibt auch seltene Todesfälle, etwa in der gleichen Häufigkeit wie bei dem Corona-Virus - also etwa ein Prozent Sterblichkeit. Das ist die Zahl, die man in der Literatur nennt. Es ist also schon eine Erkrankung, die man ernst nehmen muss. Aber es ist keine extrem bedrohliche Erkrankung. Man muss sie überwachen, man muss auch nach den Kontaktpersonen schauen, man muss sich Maßnahmen überlegen. Die ältere Bevölkerung hat in dem Fall einen Vorteil. Denn alle, die vor 1975 geboren wurden, sind noch gegen die "echten" Pocken geimpft. Dieser Impfstoff bietet einen gewissen Schutz gegen die Affenpocken. Selbstverständlich gibt es jetzt Diskussionen, ob man neuen Impfstoff beschafft, um zum Beispiel Kontaktpersonen von infizierten Personen kurzfristig zu impfen. All das wird sich in den kommenden ein, zwei Wochen auch noch mal in Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) und Verordnungen niederschlagen.
Heidelberger Virologe: "Kein ernsthaftes Problem mehr mit Corona"
Themenwechsel - zur Corona-Pandemie: Wie empfinden Sie als Virologe die offensichtlich vorherrschende Corona-Unbekümmertheit, die zurzeit überall in der Öffentlichkeit zu spüren ist?
Im Grunde bin ich froh, dass die Situation sich auch in den Köpfen der Menschen langsam wieder einer entspannteren Gesamtsituation annähert. Die Zahl der Neuinfektionen geht seit Ostern eigentlich kontinuierlich zurück. Und wir haben auf den Intensivstationen und den Normalstationen kein ernsthaftes Problem mehr mit Corona. Insofern werden wir uns jetzt mit dem Gedanken anfreunden müssen - und das ist auch gut so - dass wir weiterhin Infektionen sehen werden, auch schwerere Verläufe, dass wir aber damit leben müssen. Da ist, glaube ich, eine gewisse Normalität richtig. Das heißt für den Einzelnen, sich zu fragen: In welchen Bereichen trage ich notwendigerweise noch eine Maske? Dort, wo das Risiko insbesondere für Kranke und für alte Menschen noch höher ist.
Konkret: Wo sollten wir im Alltag einen Mund-Nasen-Schutz tragen?
Ich bin der Meinung, dass das Maskengebot in Bussen und Bahnen und in Flugzeugen immer noch sinnvoll ist. Damit wir die Infektionszahlen weiter runterdrücken. Nicht, weil das Risiko für den Einzelnen so riesengroß ist. Aber es wäre gut, wenn wir möglichst wenig Neuinfektionen auch über den Sommer haben werden. Alles zum Schutz der besonders gefährdeten Personen. Zum Beispiel in Krankenhäusern, aber auch in Alten- und Pflegeheimen.
Im Supermarkt ist wirklich keine Maske mehr nötig?
Ich glaube, dass man im Supermarkt nicht unbedingt eine Maske tragen muss. Das ist dann eher dem Einzelnen überlassen, wie groß sie oder er das Risiko sieht. Im Freien sowieso nicht.
Corona-Lage im Herbst: "Blick in Glaskugel schwierig"
In den vergangenen Corona-Jahren haben wir ja gelernt, dass sich die Situation in Richtung Herbst immer wieder verschärft hat. Müssen wir damit rechnen, dass es in diesem Jahr wieder genauso kommt und wir dann vielleicht doch wieder auf die Masken auch in Alltagssituationen zurückgreifen müssen?
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass wir im Herbst mehr Infektionsfälle haben. Wie umfangreich die Maßnahmen dann sein müssen? Der Blick in die Glaskugel ist schwierig. Dass aber alle Atemwegs-Infektionen in Herbst und Winter sehr viel häufiger sind als in den warmen Sommermonaten, das ist seit Jahrzehnten bekannt und wird auch hier so sein.
Also endgültig vorbei ist die Pandemie nicht, würde ich sagen. Aber jetzt schon in Sorge mit Blick auf den Herbst alle (Schutzmaßnahmen) aufrechtzuerhalten, weil man Angst hat, man kann die Maßnahmen sonst vielleicht nicht wieder hochfahren, das wäre auch falsch. Ich glaube wir müssen anerkennen, dass das Risiko jetzt gering ist und wir uns entsprechend verhalten müssen. Aber wir müssen akzeptieren, dass das Risiko möglicherweise wieder höher wird und dann brauchen wir eventuell wieder andere Maßnahmen.
Wie ist momentan der Stand bei Impfstoffen, die auf die aktuellen Corona-Varianten angepasst sein sollen? Ist klar, wann oder ob dieser Impfstoff überhaupt zum Einsatz kommt? Und wenn ja, für wen?
Die Anpassung für Omikron ist gemacht worden. Aber Daten zu den Impfstoffstudien sind bisher nicht so verfügbar, dass man das schon auswerten könnte. Davon wird abhängen welcher Impfstoff im Herbst zum Einsatz kommen wird. Im Moment würde ich denken, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit im Herbst zumindest bei den Älteren und Gefährdeten, aber möglicherweise auch in der Gesamtbevölkerung, eine Auffrischungsimpfung empfehlen werden. Entweder mit dem bisherigen Impfstoff, oder mit einem angepassten Impfstoff, oder mit einer Kombination.
Der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat ja kürzlich erklärt, dass er sowohl den bisherigen Impfstoff, als auch eine Kombination von Impfstoffen vorbestellt hat. Man wird wahrscheinlich dann bis zum Sommer sagen können, welcher dieser Impfstoffe am besten geeignet ist und dann auch zum Einsatz kommen wird. Im Moment sicher zu sagen, welcher Impfstoff zur Auffrischung verwendet wird, das wäre nicht möglich. Aber dass man zum Herbst auffrischt, das halte ich für sehr wahrscheinlich.