Was die Stuttgarterin Barbara Zander als sogenanntes Verschickungskind erlebt hat, zeichnet sie bis heute. 1964 kam sie als Fünfjährige zusammen mit ihrem Bruder für sechs Wochen "zur Erholung" in ein privates Kinderheim nach Königsfeld (Schwarzwald-Baar-Kreis) - eines von etwa mutmaßlich 1.000 Kinderheimen in Baden-Württemberg. Dort erlebte sie Erniedrigungen und Gewalt. Eine Narbe an ihrer Hand erinnert sie bis heute daran.
"Weil ich unartig war, wurde ich eingeschlossen - alleine in einem Wintergarten. Da habe ich Panik gekriegt und dann mit meiner Faust die Scheibe von der Tür eingeschlagen."
Demütigungen und Erniedrigungen
In einer Nacht habe sie sich vor lauter Heimweh im Bett übergeben, durfte aber nicht aufstehen. Ein anderes Kind, erinnert sich Zander, bekam Nasenbluten und musste dennoch am Esstisch sitzen bleiben.
"Die musste ihren Teller leer essen und das Blut tropfte in die Suppe. Ich habe manchmal gedacht, das bildest du dir nur ein. Aber das war Realität."

Suche nach Opfern und Tätern
Sie und andere Opfer von körperlicher und seelischer Gewalt haben sich mittlerweile zusammengefunden und erreicht, dass die Landesregierung ihre Geschichten aufarbeiten lässt. Archivare und Archivarinnen des Landesarchivs führen seit Anfang Mai Gespräche mit Krankenkassen, Stadtarchiven und Betroffenen. Finanziert wird das vom Land mit 393.000 Euro.
Heime wurden nicht kontrolliert
Schon jetzt belegen die Dokumente, dass sich niemand darum kümmerte, was in den Heimen geschah, berichtet Christian Keitel, der Projektleiter: "Zunächst hat man versucht, die Heime freizuhalten von staatlicher Beeinflussung, um sie vom Nationalsozialismus abzugrenzen. Also hat man keine reguläre Heimaufsicht aufgebaut, folglich konnten in den Heimen Leute, die es drauf angelegt haben, so ziemlich alles machen, was sie wollten." Bis heute gebe es keine Konsequenzen für die Verantwortlichen.
Bundesländer folgen Antrag von BW
Baden-Württemberg finanziert bereits seit zwei Jahren eine Selbsthilfegruppe für Betroffene mit jährlich 30.000 Euro. Außerdem setzt sich die Landesregierung dafür ein, dass das Leid der Verschickungskinder auch bundesweit aufgearbeitet wird. Bei der Familienministerkonferenz am 13. Mai in Berlin nahmen die Länder einen entsprechenden Antrag von Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) einstimmig an. "Da ist Unrecht geschehen. Darum ist es wichtig, das endlich aufzuarbeiten", so Lucha.
Er fordert auch, dass sich der Bund an der Aufarbeitung beteiligt und Erkenntnisse der Länder koordiniert. Oft seien Kinder über Bundeslandgrenzen hinaus verschickt worden, so Lucha.
Viele haben Geschehnisse verdrängt
Viele Betroffene erhoffen sich von der Aufarbeitung nicht nur, dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden, sondern auch Klarheit darüber, was ihnen als Kind genau widerfahren ist. "Bei vielen ist das wie ein schwarzes Loch", sagt die Stuttgarterin Barbara Zander. "Die wissen nicht mehr, was mit ihnen gemacht wurde, die wissen nur, dass ihnen Unrecht geschehen ist."
Sie selbst hab ihre Narbe behalten. Und damit auch die Erinnerungen an das Kinderheim im Schwarzwald. Ein Leben lang.