Wissam Ibrahim schaut auf einen kleinen See in Böblingen. (Foto: SWR)

Wenn eigene Erinnerungen wach werden

Krieg gegen die Ukraine: So erleben Geflüchtete aus 2015 die Situation

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Anne Jethon

Wissam, Mahmoud und Batoul haben eins gemeinsam: Sie sind 2015 vor Krieg und Terror geflohen. Sie erzählen von ihrem Mitgefühl mit ukrainischen Geflüchteten - und von Erfahrungen mit Diskriminierung.

Wenn Wissam Ibrahim auf sein Handy schaut, dann entkommt er ihr nicht. Der Flut an Informationen, den Bildern über den Krieg in der Ukraine und auf der Welt. "Ich will das nicht sehen, aber es kommt zu dir", sagt er. Die schlimmen Meldungen ploppen als erstes hoch, sagt Wissam, egal ob auf Facebook oder in den Nachrichten. Dann erinnert er sich an seine Heimat im Irak. Die Bilder von zerstörten Häusern und getöteten Zivilisten kennt er aus eigener Erfahrung. "Ich habe fast jeden Tag tote Menschen gesehen, als ich Kind war. Da war so viel Tod im Krieg."

Wissam Ibrahim ist damit nicht allein. Viele Geflüchtete aus dem Irak, Syrien, Afghanistan oder anderen Ländern erinnern sich in Zeiten des Krieges in der Ukraine und in ihren Heimatländern an eigene schmerzhafte Erfahrungen. Viele fühlen mit den Geflüchteten aus der Ukraine mit, engagieren sich. Auch wenn sie selbst von Behörden und Mitmenschen anders behandelt wurden als die Ukrainerinnen und Ukrainer in diesen Tagen.

Mit Albträumen zurück in der Vergangenheit

Die Albträume holen Wissam Ibrahim immer wieder ein - seit seiner Flucht im Jahr 2015. "Ich hab immer noch Träume, dass der Krieg oder ISIS hergekommen sind", sagt er (Anm. d. Red.: Gemeint ist die Terrororganisation "Islamischer Staat"). Seine Gedanken kreisen um seine Heimat, als er an einem kleinen Anlagensee in Böblingen erzählt. 2003, als Wissam zwölf war, hat der Krieg im Irak begonnen.

Zwölf Jahre später entschied er sich, seine Heimat zu verlassen. Zu diesem Zeitpunkt herrschte im Irak seit vier Jahren Bürgerkrieg, der sogenannte Islamische Staat verübte regelmäßig Terroranschläge. Mit nichts als seinen Klamotten floh er zuerst mit dem Auto, dann zu Fuß. Irgendwann kam er in Deutschland an. Wenn er ukrainische Geflüchtete mit ihren Taschen an den Bahnhöfen sieht, erinnert er sich daran.

Portrait von Wissam Ibrahim.  (Foto: SWR, Anne Jethon)
Wissam Ibrahim erinnert sich immer wieder an seine Heimat im Irak zurück.

Batoul und Mahmoud denken oft an ihre Verwandten in Syrien

Ähnlich geht es Batoul Alnoeimi und ihrem Mann Mahmoud Saghir. Die beiden sitzen in ihrer Wohnung in Stuttgart Plieningen, als sie von früher erzählen. Nebenher laufen Kinderlieder im TV. Ihre beiden Kinder, zweieinhalb Jahre und ein Jahr alt, tanzen freudig mit. Mahmoud und Batoul sind froh, dass die Kleinen in Frieden aufwachsen dürfen. "Gott sei Dank hatten wir damals noch keine Kinder", sagt Mahmoud.

Denn in Aleppo, in der Stadt, in der sie sich auch kennengelernt hatten, hatte das Paar keine Sicherheit mehr. Es sei nicht einmal Strom geflossen. "Man sieht viel, das ist einfach schlimm. Es geht um Leben und Tod", erzählt Batoul. 2015 flüchteten sie gemeinsam, damit Mahmoud nicht in den Militärdienst musste. Zu dieser Zeit half Russland der Assad-Regierung zum ersten Mal mit Luftangriffen - und tötete laut Menschenrechtsorganisationen etliche Zivilisten.

2015 hat Tareq Alaows es gerade noch geschafft, vor dem russischen Militäreinsatz aus seiner syrischen Heimat zu fliehen. Heute ist er Rechtsberater für geflüchtete Menschen in Berlin. "Die gleichen Bilder von dem Krieg in Syrien haben sich am 24. Februar wiederholt, als ich gesehen habe, wie Militärflugzeuge Gebäude in der Ukraine angegriffen", sagt er im Interview. Das ganze Interview im Audio:

Manche ihrer Verwandten und Freunde leben noch immer in Syrien, sagt Batoul. "Wenn ich darüber nachdenke, dass es den Menschen und auch Teile meiner Familie dort schlecht geht, macht mich das traurig." Deshalb vermeide sie es momentan, Nachrichten zu schauen. Mit den Ukrainerinnen und Ukrainern fühlen die beiden mit. "Als ich die Bilder gesehen habe, habe ich gesagt: Wir sind jetzt wie die Ukrainer und die Russen", sagt Mahmoud. Dass die Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land verlassen müssen, sei schlimm. "Wir versuchen zu helfen, wo wir können."

Batoul Alnoeimi und ihr Mann Mahmoud Saghir sitzen mit ihren beiden Kindern auf einem Sofa. (Foto: SWR, Anne Jethon)
Batoul Alnoeimi und ihr Mann Mahmoud Saghir sind gemeinsam aus Syrien geflüchtet. In Deutschland haben sie eine kleine Familie gegründet.

Traumapsychologe: Bilder aus den Nachrichten triggern Geflüchtete

Sehen Geflüchtete die Bilder aus der Ukraine und anderen Ländern, könne sie das triggern, sagt Jan Ilhan Kizilhan im Interview mit dem SWR. Der Traumapsychologe und Professor für Soziale Arbeit an der dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen (Schwarzwald-Baar-Kreis) behandelt Menschen, die vom Krieg gezeichnet sind - unter anderem in einer Klinik in Donaueschingen. "Wenn sie die Bilder in den Fernsehnachrichten sehen, dann erinnern sie sich an die Bombardements in Syrien, die Flucht von Afghanistan über den Iran."

Jan Ilhan Kizilhan im Zoom-Interview mit dem SWR.  (Foto: SWR)
Traumapsychologe Jan Ilhan Kizilhan sagt im Zoom-Interview mit dem SWR, dass die Bilder vom Krieg in der Ukraine auch Geflüchtete aus anderen Ländern triggern können.

Einige seiner Patientinnen und Patienten klagten über Schlafstörungen und Flashbacks. Dann werden sie durch ihr Gedächtnis in die Situation zurückversetzt, in der sie sich einmal befunden haben, sagt Kizilhan. Die Bilder könnten auch zu Schlafstörungen, Albträumen und Konzentrationsstörungen führen. Gleichzeitig seien psychosomatische Beschwerden möglich. "Das heißt, dass die Leute dann verstärkt Bauchschmerzen, Kopfschmerzen bekommen und eher angespannt, nervös und unruhig sind." Solche Symptome solle man ernst nehmen.

"Wir haben nicht ausreichend Therapieplätze in Deutschland. Sowohl für Geflüchtete als auch für deutsche Einheimische."

In der Therapie bräuchten Geflüchtete Stabilität, weiß Kizilhan. Den Menschen Sicherheit zu geben und zu lernen, sich die Nachrichten aus einer gewissen Distanz anzusehen, sei wichtig. Die Nachrichten sollten die Menschen nicht alle 24 Stunden einschalten. Vielleicht nur ein- bis zweimal am Tag. "Und nur Nachrichtensender, denen sie vertrauen", erklärt Kizilhan.

In den Heimatländern vieler Geflüchteter herrscht immer noch Krieg

Denn nicht nur in der Ukraine, sondern immer noch in vielen anderen Ländern sei der Krieg präsent. "In Syrien ist immer noch Bürgerkrieg und es hört nicht auf." In Afghanistan sei vor allem die Situation der Frauen schrecklich. "Wir haben hier viele Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt sind. Wir behandeln eine Reihe von Jesiden durch den Islamischen Staat, die vergewaltigt und versklavt worden waren", so Kizilhan. Von 2015 und 2016 sei fast eine Million Geflüchteter aus unterschiedlichen Ländern nach Deutschland gekommen. "Etwa 200.000 von denen haben aufgrund ihrer Flucht eine posttraumatische Störung oder eine Trauma-Folge-Störung."

Doch nicht alle, denen es so gehe, werden auch behandelt. "Wir haben nicht ausreichend Therapieplätze in Deutschland. Sowohl für Geflüchtete als auch für deutsche Einheimische." Da gebe es Handlungsbedarf, so Kizilhan.

Zehntausende jesidische Mädchen und Frauen wurden zum Opfer des "Islamischen Staates", tausenden gelang die Flucht. Jan Ilhan Kizilhan kümmert sich für das Land Baden-Württemberg um diese Frauen. Zusammen mit einer Jesidin, die aus ihrem Heimatdorf entführt und zwangsverheiratet wurde und der die Flucht nach Deutschland gelang, hat er ein Buch geschrieben. Am 19.2.2016 war er zu Gast bei "SWR1 Leute":

Zwei Klassen von Geflüchteten?

Sowohl Wissam Ibrahim aus dem Irak als auch Batoul Alnoeimi und ihr Mann Mahmoud Saghir aus Syrien sind nicht in Therapie. Sie sprechen aber mit Freunden und Verwandten über ihre Erfahrungen. Batoul und Mahmoud sagen, dass sie sich verändert hätten. "Man ist zurückhaltender geworden". Das liege auch daran, wie manche Menschen und Behörden mit ihnen als Geflüchtete umgegangen seien.

Lange mussten die beiden warten, bis ihr Asylantrag durchkam. In dieser Zeit konnte das Paar weder eine Wohnung oder einen Sprachkurs beantragen, noch zur Arbeit gehen. "Die einzige Beschäftigung in der Unterkunft war Essen", erzählt Mahmoud und lacht.

Auch Rassismus sei ein Thema gewesen. Als Batoul vor ein paar Jahren beim Jobcenter einen Sprachkurs beantragen wollte, schlug ihr pure Ablehnung entgegen. "Die Frau hat gesagt, wir wollen nur zu Hause sitzen und Geld vom Jobcenter kassieren." Dabei arbeite sie, seit sie in Deutschland ist, ehrenamtlich für mehrere Vereine. "Ich kann diese Situation nie vergessen. An dem Tag habe ich zu Mahmoud gesagt, dass ich zurück nach Syrien will." Auch jetzt, sieben Jahre nach ihrer Flucht, muss Batoul als Frau mit Kopftuch oft noch immer darum kämpfen, ernst genommen zu werden. Ihr Mann sagt, dass sie viele solcher Situationen erlebt hätten. "Aber die meisten Menschen sind nett." Die beiden haben viele deutsche Freunde.

Batoul Alnoeimi, ihr Mann Mahmoud Saghir samt Tochter bei einem Spaziergang in der Natur. (Foto: SWR, Anne Jethon)
Batoul Alnoeimi und ihr Mann sind froh, dass ihre Kinder in Frieden aufwachsen können.

refugio Stuttgart: "Vergesst bitte die anderen Geflüchteten nicht"

Ulrike Schneck kennt die Geschichten von Diskriminierung nur zu gut. Die Leiterin von refugio Stuttgart, einem psychosozialen Zentrum für traumatisierte Flüchtlinge sagt, dass immer noch viele Geflüchtete die Erfahrung machten, dass sie wegen ihres Aussehens als Ausländerinnen und Ausländer diskriminiert werden. Dass sie sich im Vergleich zu ukrainischen Geflüchteten benachteiligt fühlten, hätten sie aber nicht gesagt.

Am anderen Ende der Leitung spricht sie schnell: "Wir als Mitarbeitende nehmen das aber wahr und sagen: Vergesst bitte die anderen Geflüchteten nicht." Denn die Menschen legten lange Wege zurück, seien vor schlimmen Situationen geflohen. "Und dann haben sie wahnsinnige Schwierigkeiten, in Deutschland Anerkennung zu erhalten." Für die Mitarbeitenden seien krasse Unterschiede spürbar - auch wenn die Geflüchteten selbst das nicht so deutlich aussprechen würden.

Geflüchtete finden Ungleichbehandlung auf behördlicher Seite nicht schlimm

Mahmoud und Batoul sehen zwar die Unterschiede, sie finden sie aber aufseiten der Behörden nicht schlimm. Die Ukraine gehöre zu Europa, der Krieg in der Ukraine betreffe Deutschland mehr als der Krieg in Syrien. Mahmoud sagt: "Vielleicht haben die deutschen Behörden etwas aus 2015 gelernt." Ähnlich sieht es Wissam Ibrahim. "Die Menschen, die 1990 aus dem Irak hergekommen sind, sagen zu uns: 'Ihr habt Glück. Wir mussten selbst für die Schule und die Unterkunft zahlen'". Geflüchtete aus 2015 hätten dafür nichts zahlen müssen. Die Länder lernten von ihren Fehlern. Deshalb gehe es den ukrainischen Geflüchteten jetzt auch besser als den Geflüchteten aus 2015.

Das Mitgefühl von Mahmoud, Batoul und Wissam ist stärker als das Gefühl, ungleich behandelt zu werden. Sie alle hoffen, dass der Krieg in der Ukraine bald aufhört, dass in den kommenden Wochen etwas Positives passiere. "Dann haben alle Ruhe. Frieden existiert nicht", sagt Wissam Ibrahim mit ernstem Blick. Irgendwann, sagt Wissam, will er den Irak besuchen. Er will mit der Kamera dokumentieren, wie sich das Leben in seiner Heimat im Vergleich zu früher verändert hat. Vielleicht herrscht dann auch in seinem Kopf mehr Ruhe.

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Anne Jethon