"Sie haben mir gesagt, dass sie mein Kind im Epplesee gefunden haben"

Psychische Störungen bei Kindern: Mütter aus Karlsruhe berichten von ihren Kämpfen

Stand

Von Autor/in Mirka Tiede

Vor ihrem Suizid hat Amelie aus Karlsruhe lange mit ihrer psychischen Störung gekämpft. In einem anderen Fall kann Emmy wegen ihrer Erkrankung seit Monaten nicht zur Schule. Ihre Mütter erzählen.

Ängste, Depressionen, Essstörungen: Nach Angaben des Kinder- und Jugendreports 2023 der DAK-Gesundheit hat in den vergangenen Jahren die Zahl der Krankenhausbehandlungen bei Kindern und Jugendlichen wegen psychischer Störungen zugenommen. Besonders jugendliche Mädchen seien davon betroffen. Richtige Hilfe zu finden, ist schwer. Im schlimmsten Fall kann das wie bei Amelie aus Karlsruhe mit dem Tod enden.

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Rucksack mit Amelies Smartwatch wurde am Epplesee gefunden

Amelie war 18, als sie sich vor zwei Jahren am Epplesee in Rheinstetten bei Karlsruhe das Leben nahm. Am Ufer wurde ihr Rucksack mit ihrem Geldbeutel, ihrem Pass, dem Handy und ihrer Smartwatch gefunden. Wegen ihrer Essstörung legte die damals 18-Jährige die Uhr nie ab, erinnerte sich ihre Mutter Rebecca Franke. Zwei Polizisten und ein Notfallseelsorger überbrachten ihr damals die Nachricht von Amelies Tod. Für die Mutter brach damals eine Welt zusammen.

Vor ihrem Tod kämpfte Amelie schon lange mit einer psychischen Störung. Rebecca Franke bemerkte bereits in der frühen Kindheit, dass bei ihrer Tochter irgendwas anders war und brachte sie zu Kinderärzten und Kinderpsychiatern. "Es hieß immer, es sei irgendwie alles in Ordnung, das sei wohl im Rahmen des Normalen und wir wurden dann immer wieder weggeschickt." Irgendwann wurde die Verdachtsdiagnose Borderline gestellt.

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Therapeuten arbeiteten nicht mit Amelies Mutter zusammen

Als Amelie später in Therapie war, lief es nicht rund. Rebekka Franke wurde nach eigener Aussage nicht von der Therapeutin einbezogen und sogar aktiv ausgeschlossen. Die Ärztin soll ihre Tochter darauf aufmerksam gemacht haben, dass sie auf die ärztliche Schweigepflicht bestehen könne und ihre Mutter nichts mitgeteilt bekomme, wenn sie das nicht möchte. "Ich finde, das ist bei einer psychischen Erkrankung bei einem 13- oder 12-jährigen Mädchen nicht ganz so von Vorteil", sagt Rebecca Franke im Gespräch mit dem SWR.

Man kriegt einfach nichts, man wird nicht abgeholt, man wird einfach nicht mitgenommen.

Dabei hatte Rebecca erwartet, dass die Therapeutin eine Brücke zwischen ihr und dem Kind schlägt. Die Therapie bei dieser Psychotherapeutin war nicht von Dauer. Danach führte der Weg von Therapeut zu Therapeut und zu Aufenthalten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP). Die halfen Amelie auch nicht und verschlimmerten die Probleme sogar, erinnert sich ihre Mutter.

Auch von anderen Ärzten wurde Rebecca immer wieder ausgeschlossen. Sie bekam keine Informationen über ihre Tochter, obwohl sie andauernd nachfragte. Dabei wollte Rebecca Franke nur wissen, in welche Richtung die Probleme ihrer Tochter gingen, damit sie sich einlesen und mit der Situation besser umgehen hätte können.

Wie oft ich gerüttelt habe und gemacht habe. Mal lieb, mal nett, mal wirklich motzig, dann irgendwie auf eine andere Art und Weise gefragt.

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Schulen konnten mit Amelies psychischer Störung nicht umgehen

Laut ihrer Mutter hatte Amelie Probleme mit Alkohol, Tabletten und anderen härteren Drogen wie Heroin. Sie verletzte sich regelmäßig selbst. "Meine Hausapotheke hat damals immer aus Octenisept [Anmerkung der Redaktion: ein Wund-Desinfektionsmittel], Stripes, Binden, Kompressen und so weiter bestanden", sagt Rebecca Franke.

Sie findet, dass auch die Schulen von Amelie nicht richtig mit ihrer psychischen Störung umgehen konnten. Die Jugendliche löste häufiger Krankenwagen- und Polizeieinsätze aus. Auch das Jugendamt war bei Amelie involviert und es kam zu Inobhutnahmen. Aber auch das half nicht.

Das war die ganze Zeit so ein Pingpongball. Und im Endeffekt hat es dazu geführt, dass Amelie von niemandem tatsächlich eine Hoffnung oder Perspektive für irgendwas bekommen hat.

Kurz vor dem Suizid sah alles hoffnungsvoller aus

Kurz vor Amelies Tod sah eigentlich alles wieder hoffnungsvoller aus, berichtet ihre Mutter heute. Amelie hatte einen neuen Schulplatz und sollte in eine betreute Wohngruppe gehen. "Wir hatten wieder einen Plan, es hat alles ein bisschen Struktur bekommen und eine Richtung." An einem Morgen war Amelie plötzlich ganz anders als sonst. "Sie flippte völlig aus und beschimpfte mich, was sie bis dahin noch nie gemacht hatte", so Rebekka Franke. Amelie packte ihre Sachen und verschwand.

Hoffentlich sehen wir uns nie wieder. Das waren die letzten Worte.

Die Mutter alarmierte den Therapeuten, der dann die Polizei verständigte. Ein Beamter konnte Amelie zwar aufgreifen, ließ die 18-Jährige aber wieder gehen. Rebecca Franke erinnert sich an die Aussage des Polizisten: Er habe ein gutes Bauchgefühl gehabt, dass alles wieder in Ordnung sei. Auch Rebecca Frankes Flehen, sie nicht gehen zu lassen, brachte ihn nicht von dieser Einschätzung ab.

Sie verlässt Karlsruhe und sie wird auch nicht wiederkommen.

Amelie konnte gut vorspielen, dass alles gut sei. Das sei eine Fähigkeit von ihr gewesen, erzählt ihre Mutter. "Sie verlässt Karlsruhe und sie muss nicht mehr zurück. Und das darf sie. Und sie muss auch nicht sagen, wohin", sagte der Polizist zu ihr. Denn Amelie war mit 18 Jahren bereits volljährig. Kurz danach nahm sie sich das Leben.

Rebecca Franke, Mutter von Amelie

"Suizid soll in der Gesellschaft kein Tabuthema mehr sein"

Mit dem Verlust habe sie erst nicht umgehen können, so Rebekka Franke. Jetzt gehe es aber. Sie habe sich relativ schnell fürs Sprechen entschieden. Auch wenn der erste Impuls war, sich einzumummeln. Beim Arbeitskreis Leben in Karlsruhe (AKL) habe sie schnell einen Termin bekommen. Sie habe es sich leisten können, ein Jahr lang arbeitslos zu sein. Sei bei einem Psychiater in Behandlung gewesen. Und habe vom Jugendamt eine Familienhilfe bekommen.

Wenn es dann passiert ist, dann kommen sie alle und helfen.

Sie wünscht sich, dass in der Gesellschaft mehr über das Thema Suizid gesprochen wird. Dass es nicht mehr so ein Tabuthema sei und im Leben integriert werde. Es solle in die Gesellschaft geholt werden, wie andere physische Erkrankungen wie Krebs oder ein Beinbruch.

Von Ärzten und anderen Institutionen wünscht sie sich, dass Eltern oder Personen, die mit den Betroffenen leben, integriert und nicht ausgeschlossen werden. "Das ist meines Erachtens das A und O." Denn Rebecca Franke hätte es bereits geholfen, wenn sie sich auf die psychische Störung ihrer Tochter hätte vorbereiten können.

Emmy hat eine psychische Störung nach einem Trauma

Die 15-jährige Emmy aus Karlsruhe (Name von der Redaktion geändert) lebt mit ihrer psychischen Störung. Schon in der Kindheit gab es verschiedene Erlebnisse, die sie belastet hätten, erzählt ihre Mutter Lara Schneider (Name von der Redaktion geändert). Ein schweres Trauma, das ihr vor zwei Jahren zugefügt wurde, habe die Lage für Emmy stark verschlimmert. Was es genau war, möchte ihre Mutter lieber nicht sagen.

Lange habe Emmy mit sich selbst ausgemacht, was ihr passiert war. Sie wollte ihre Mutter vor ihren Sorgen schützen. Die Schulsozialarbeiterin habe Lara Schneider dann gesagt, was Emmy passiert war. Dafür brach sie aber ihre Schweigepflicht.

Lange Warteliste für einen Therapieplatz

Für eine Therapie war Emmy zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit. Im Sommer brach sie dann in einer Ferienfreizeit zusammen. Danach habe sich angefangen, sich selbst zu verletzen und an Suizid zu denken, berichtet Lara Schneider. Emmy hatte schon mehrere Aufenthalte in der KJP. Diese Aufenthalte haben laut ihrer Mutter aber erneut zu einem Trauma geführt.

Die Hilfsangebote, die von der Klinik empfohlen wurden, hätten nur zu Absagen geführt, da sie entweder nicht im Einzugsgebiet oder völlig überfüllt seien. Ein Akutplatz zu finden sei aussichtslos, so Lara Schneider. Die Wartelisten gingen bis zu einem Jahr. Lediglich von einer Arzthelferin habe sie den Tipp bekommen, sich eine Überweisung mit Dringlichkeitscode geben zu lassen, um einen Therapieplatz zu bekommen.

Holen Sie sich eine Überweisung mit einem Dringlichkeitscode, dann bekommen Sie einen Platz. Denn dafür gibt es immer ein Kontingent bei verschiedenen Ärzten.

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Aktuell ist Emmy nicht in der Schule

In der Schule sei Emmy ein paar Mal mit Suizidgedanken in Richtung Bahnhof weggelaufen oder habe sich wegen Mobbing von anderen Schülern, die von ihrer Störung erfahren haben, auf der Toilette selbst verletzt. Die Schulleitung habe Emmys Mutter daraufhin mitgeteilt, dass sie ihre Tochter nicht mehr betreuen können und sie erst wieder gesund werden müsse.

Dass Emmy die Schule verlassen musste, ist bereits mehrere Monate her. Lara Schneider kämpft momentan dafür, dass ihre Tochter zumindest im kleinen Rahmen wieder beschult werden kann. Die Mutter hat Hoffnung, dass das über die "2. Chance" der AWO Karlsruhe klappt. Dort soll sie in einem kleinen Umfeld und entschleunigt wieder in einen schulischen Alltag hineinfinden.

Mutter Lara Schneider kann aktuell nicht arbeiten

So lange Emmy nicht zur Schule gehen kann, kann Lara Schneider auch nicht arbeiten. "Mein Alltag ist hier zu Hause", sagt sie. Sie musste schon häufiger spontan weg von der Arbeit, um zu ihrer Tochter zu fahren. Die Mutter hat jetzt Angst, dass Emmy sich etwas antut, wenn sie bei der Arbeit ist. "Ich möchte mir nie vorwerfen, dass wenn was passiert, ich nicht da war."

Von der Klinik und dem Jugendamt sei Emmy angeboten worden, in eine Wohngruppe zu gehen. Aber dort würde ihre Tochter bleiben, bis sie 18 Jahre alt ist, sagt Lara Schneider. "Das ist für uns gar keine Option, weil meinem Kind geht es hier gut." Sie möchte ihre Tochter nicht zu anderen Menschen geben, die ihr möglicherweise auch schaden könnten.

Ich habe sie nicht geboren, um sie wegzustecken, sondern um für sie da zu sein und für sie zu kämpfen. Das tue ich auch.

Erste richtige Hilfe beim Arbeitskreis Leben in Karlsruhe bekommen

Über die Familienhilfe ihres Arbeitgebers habe Lara Schneider einige Tipps bekommen. Der beste sei in ihrer schweren Situation der AKL gewesen. Bei dem Verein bekommen beide Unterstützung von ehrenamtlichen Krisenbegleitern. Emmy bekommt eine wöchentliche Betreuung. Und die Krisenbegleiterin habe einen guten Draht zu ihr, freut sich ihre Mutter.

Dort habe ich sofort Unterstützung bekommen, das war unser Segen.

Auch bei Gesprächen mit Klinikärzten der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind die Krisenbegleiter mit dabei. Das habe ihr sehr geholfen, weil sie die therapeutischen Hintergründe nicht immer kenne und mit der Situation bisher auch überfordert gewesen sei, so Lara Schneider. Die Krisenbegleiterin mische sich auch ein, wenn sie mit Aussagen der Ärzte nicht einverstanden sei. Lara Schneider wünscht sich mehr Hilfsangebote wie den AKL für Familien und Betroffene.

"Eltern dürfen sich nicht scheuen, Hilfe anzunehmen"

Anderen Eltern empfiehlt sie: "Ruhe bewahren und versuchen gleich viel in die Wege zu leiten." Es dauere lang, bis man irgendwo einen Platz bekommt. Und man solle sich nicht scheuen, Hilfe anzunehmen oder geben zu lassen - auch von Freunden, die Hilfe anbieten. "Weil man schafft doch nicht alles allein."

Es gibt verschiedene Hilfsangebote und Beratungsstellen in Karlsruhe, an die sich die Eltern, aber auch die Kinder selbst in verschiedener Form zum Beispiel telefonisch oder schriftlich per E-Mail wenden können:

Wo frage ich nach einem Psychotherapieplatz?

Bei der Suche nach einem Psychotherapieplatz kann der Patientenservice 116117 oder auch die Krankenkasse selbst helfen. Die verschiedenen Beratungs- und Hilfsangebote können darüber hinaus eine Überbrückung bieten, bis eine Therapie letztendlich beginnt.

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