Symbolbild Jugendkriminalität|Fotomontage SWR|IMAGO (Foto: IMAGO, Symbolbild Jugendkriminalität|Fotomontage SWR|IMAGO)

Vorläufige Zahlen des Innenministeriums

Erstmals seit 2017: Jugendkriminalität in BW nimmt zu

Stand
AUTOR/IN
Florian Barz

2022 gab es nach Einschätzung des Innenministeriums einen Anstieg der Jugendgewalt. Die Polizei beklagt eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft. Wie groß ist das Problem in BW wirklich?

Seit den bundesweiten Angriffen auf Rettungskräfte an Silvester ist die Diskussion über Jugendgewalt neu aufgeflammt. In Baden-Württemberg machte zuletzt der Fall eines 14-Jährigen in Bad Mergentheim (Main-Tauber-Kreis) Schlagzeilen, der offenbar grundlos eine Rentnerin vom Rad gestoßen und sie dadurch getötet haben soll. Wird Jugendkriminalität zum Problem in Baden-Württemberg oder zeichnen Politik und Medien ein verzerrtes Bild?

Bad Mergentheim: 14-Jähriger Tatverdächtiger immer wieder auffällig

Ende Januar in Bad Mergentheim: Ein 14-Jähriger stößt mutmaßlich eine Rentnerin von ihrem Fahrrad, sie stürzt schwer und stirbt an ihren Verletzungen. Das Motiv des Jugendlichen? Offenbar nicht vorhanden. Die Staatsanwaltschaft Ellwangen (Ostalbkreis) geht nach bisherigen Erkenntnissen von einem "grundlosen Angriff" aus.

Der jugendliche Tatverdächtige, der inzwischen in U-Haft sitzt, war schon vor dieser Tat immer wieder strafrechtlich aufgefallen. Neben mehreren Diebstählen wurde auch wegen vier weiterer Körperverletzungen gegen ihn ermittelt. Das teilte das Polizeipräsidium Heilbronn dem SWR mit. Der erste Fall stammt aus dem Februar 2022, ist also ein Jahr her. Doch strafrechtliche Konsequenzen gab es für den 14-Jährigen keine. Zum Zeitpunkt des Angriffs auf die 78-jährige Radlerin galt er als nicht vorbestraft, wartete auf den Gerichtsprozess.

Auf einem Radweg ist ein Fahrrad eingezeichnet (Foto: IMAGO, IMAGO / Michael Gstettenbauer)
In Bad Mergentheim soll ein 14-Jähriger Ende Januar eine Frau vom Rad gestoßen haben. Die Rentnerin kam ums Leben. Gegen den Teenager liefen zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Ermittlungsverfahren.

Polizei beklagt: Tatverdächtige verlieren Respekt vor der Justiz 

Es sei frustrierend, dass einige Jugendliche immer wieder aufgegriffen würden, ohne dass sie Konsequenzen für ihre Straftaten spürten, so der baden-württembergische Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Ralf Kusterer: "Seit Jahren beklagen wir die lange Verfahrensdauer, bis es zu einem Urteil kommt." Teilweise seien Staatsanwaltschaft und Gerichte so überlastet, dass Verfahren abgebrochen werden müssten und Täter ohne Strafe davonkämen.

"Nicht wenige Täter machen sich lustig über die Polizei."

Ähnlich sieht das die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Wenn jugendliche Täter keine Konsequenzen spürten, sinke der Respekt vor dem Rechtsstaat. "Die Gewaltübergriffe gegenüber Polizeibeamten spiegeln diese Entwicklung wider", so Landessprecher Gundram Lottmann.

Nach Angaben der Gewerkschaften registrierte die Polizei zuletzt einen Anstieg der Jugendkriminalität in Baden-Württemberg. Auch die Zahl der Wiederholungstäter nehme zu.

Jugendkriminalität in Baden-Württemberg 2022 gestiegen

Die Einschätzung der beiden Polizeigewerkschaften deckt sich mit der Statistik des baden-württembergischen Innenministeriums. Zwar liegen für 2022 noch keine abschließenden Zahlen vor, es deute sich im Vergleich zum Vorjahr aber ein Anstieg der Jugendkriminaliät an, teilte das Ministerium auf SWR-Anfrage mit.

Demnach gibt es erstmals seit 2017 wieder mehr Tatverdächtige unter 21 Jahren - das gelte auch für Gewaltkriminalität und Straftaten im öffentlichen Raum. 2021 war die Zahl der Tatverdächtigen - wohl auch wegen der Corona-Beschränkungen - auf ein historisches Tief gesunken.

Wie viele jugendliche Intensivtäter gibt es in Baden-Württemberg?

Begehen Jugendliche fünf Gewaltdelikte oder insgesamt 20 Straftaten innerhalb von 18 Monaten, werden sie vom Land Baden-Württemberg als Intensivtäter geführt. Diese Gruppe macht zwar nur einen Bruchteil der gesamten Tatverdächtigen unter 21 aus, ist laut Studien aber für etwa drei von vier Gewaltdelikten von Jugendlichen verantwortlich.

Ende 2021 waren in Baden-Württemberg 370 Intensivtäter unter 21 Jahren erfasst. Für das Jahr 2022 liegen noch keine abschließenden Daten vor. Das Innenministerium geht aber davon aus, dass die Zahl der jugendlichen Intensivtäter "marginal gestiegen" ist.

Justiz überlastet: Gerichtsverfahren dauern immer länger

Der Deutsche Richterbund sieht die Gerichte inzwischen am Limit: Weil bundesweit 1.000 Staatsanwälte, Richterinnen und Richter fehlten, zögen sich Gerichtsverfahren in Deutschland immer öfter in die Länge, hieß es in einer Stellungnahme im Januar. So dauerten erstinstanzliche Strafverfahren an Landgerichten im vergangenen Jahr im Schnitt 8,1 Monate - und damit knapp zwei Monate länger als noch vor zehn Jahren.

Baden-Württemberg steht mit einer durchschnittlichen Verfahrensdauer an den Landgerichten von 6,9 Monaten im Vergleich der Bundesländer noch recht gut da, aber auch hier dauern Gerichtsverfahren immer länger. Das gilt auch für das Jugendstrafrecht, wo laut vieler Expertinnen und Experten eine schnelle Sanktion besonders wichtig ist.

2021 dauerten Strafverfahren an der Großen Jugendkammer in Baden-Württemberg durchschnittlich 6,6 Monate und damit zweieinhalb Monate länger als vor fünfzehn Jahren. Verfahren beim Jugendrichter waren 2021 nach 2,9 Monaten abgeschossen (2006: 2,5 Monate).

Gleichzeitig ist die Zahl der Jugendstrafverfahren nach Angaben des Landesvorsitzenden der Neuen Richtervereinigung, Frank Bleckmann, in Baden-Württemberg deutlich zurückgegangen - innerhalb von 15 Jahren um die Hälfte. Die Verfahren heute seien allerdings im Durchschnitt aufwendiger, komplexer und sie würden häufig sorgfältiger geführt, sagte Bleckmann dem SWR. Hinzu kämen ganz neue Aufgabenbereiche - etwa die Hasskriminalität im Internet.

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Hohe Belastung für Staatsanwaltschaften 

"Wir sind ziemlich frustriert", sagt Martin Schacht, Abteilungsleiter für Jugend- und Sexualstrafsachen der Staatsanwaltschaft Karlsruhe. Seine Abteilung sei nachweislich unterbesetzt, das Personal an der Belastungsgrenze. Im vergangenen Jahr habe es etwa 15 Prozent mehr Verfahren gegeben als noch 2021. Einer mache inzwischen die Arbeit für 1,3 oder 1,4 Stellen. Das Interview mit dem SWR führt Schacht an einem Sonntag, während er liegen gebliebene Akten abarbeitet.

"Teilweise haben wir - auch coronabedingt - einen Rückstau bei den Verfahren von einem Jahr. In krassen Fällen dauert es vier bis fünf Jahre, bis ein Urteil rechtskräftig ist."

Solche langen Verfahren seien gerade im Jugendstrafrecht mit dem Ziel einer zeitnahen erzieherischen Einwirkung nur schwer zu akzeptieren, sagt Schacht, der auch zum Landesvorstand der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen gehört.

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Regelrecht explodiert ist in Baden-Württemberg seit 2021 die Zahl der Verfahren gegen Jugendliche wegen des Besitzes und der Verbreitung Kinderpornografie.

2017 ermittelte etwa die Staatsanwaltschaft Karlsruhe in 74 solcher Fälle - 2022 waren es schon um die 546. Eine Zunahme um fast 640 Prozent.

Der Grund für den Anstieg: Seit einer Gesetzesverschärfung des Bundes 2021 muss die Justiz auch jeden minderschweren Fall verfolgen. Teilt etwa ein Jugendlicher in einem Klassenchat ein strafbares kinderpornografisches Bild, muss jetzt nicht nur gegen den Absender, sondern gegen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Gruppe ermittelt werden.

"Das führt dazu, dass nun sehr viel Personal für minderschwere Fälle gebunden wird, das wir dringend für die zeitnahe Verfolgung der schwerwiegenden Verfahren brauchen", sagt Jugendstaatsanwalt Martin Schacht.

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Im Extremfall kann das zur Folge haben, dass Strafermittelnde vor lauter Akten jugendliche Gewalttäter aus den Augen verlieren, die für die Öffentlichkeit eine Gefahr darstellen. "Wenn Kollegen ohnehin schon überlastet sind und kaum hinterherkommen, passiert es eben, dass Verfahren liegen bleiben", sagt Schacht.

Experte kritisiert verzerrte Darstellung in Medien

Dass die Justiz überlastet ist, liegt aus Sicht von Richtern und Staatsanwälten also vor allem an immer komplexeren Verfahren und einem Mangel an Personal. Weniger an einer Jugend, die immer mehr Gewalttaten begeht. Im Gegenteil: Langfristig - das belegen alle Statistiken - ging die Jugendkriminalität in Baden-Württemberg bisher zurück.

So gab es 2021 mit 45.584 jugendlichen Tatverdächtigen in Baden-Württemberg so wenig wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Auch die Zahl der verurteilten Menschen unter 21 Jahren geht seit Jahren zurück und erreichte 2021 mit 9.917 den niedrigsten Stand seit 1953.

Dass die Öffentlichkeit ein verzerrtes Bild vom Ausmaß der Jugendkriminalität habe, liege an Politikern und Medien, kritisiert Bernd Klippstein, Staatsanwalt aus Freiburg und Landesvorsitzender der Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen.

Bernd Klippstein (Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen) (Foto: Bernd Klippstein)
Der Freiburger Staatsanwalt Bernd Klippstein kritisiert eine verzerrte Darstellung von Jugendgewalt von Politik und Medien.

"Unsere Instrumente im Jugendstrafrecht sind erfolgreich in Baden-Württemberg", sagt Klippstein. Das liege auch daran, dass Polizei, Jugendrichter, Staatsanwälte und Jugendgerichtshilfen immer besser zusammenarbeiteten. Etwa in den Häusern des Jugendrechts, von denen es mittlerweile acht in Baden-Württemberg gibt, unter anderem in Karlsruhe und Stuttgart. Weitere Einrichtungen dieser Art sind in Planung - etwa in Heidelberg.

Das Ziel dieser Einrichtungen sind laut Justizministerium schnellere Verfahrensabläufe, um effektiver, aber auch individueller auf jugendliche Straftäterinnen und Straftäter einwirken zu können. So kann ein Jugendsachbearbeiter etwa direkt nach Eingang einer Strafanzeige den oder die zuständige Staatsanwaltschaft informieren. Die kann sich auf diese Weise frühzeitig und nicht erst nach Monaten der Ermittlungsarbeit mit dem Fall beschäftigen und sich zügig mit der Jugendhilfe über Erziehungsmaßnahmen austauschen.

Debatte um Silvesterkrawalle populistisch?

Rufe nach unmittelbaren und härteren Strafen für Jugendliche - etwa im Zusammenhang mit den bundesweiten Silvesterkrawallen - weist Bernd Klippstein, Experte für Jugendstrafrecht, deshalb entschieden zurück. "Das sind Stammtischforderungen. Viele vergessen, dass im Jugendstrafrecht der erzieherische Gedanke maßgeblich ist."

Das heißt: Es geht vor allem darum, dass jugendliche Täter in Zukunft keine Straftaten mehr begehen. Müssen Jugendliche ins Gefängnis, das zeigen viele Studien, sind die Aussichten, dass sie die kriminelle Laufbahn verlassen, deutlich schlechter.

Auch Forderungen nach schnelleren Verfahren für jugendliche Täter sieht Klippstein kritisch. Es müsse gewährleistet bleiben, dass Ermittler, aber auch die Jugendgerichtshilfen gründlich arbeiten können. "Jugendliche spüren die Konsequenz ihres Handelns ja nicht erst mit einem Gerichtsurteil, sondern schon während der Ermittlungen - zum Beispiel, wenn Polizisten den Eltern einen Besuch abstatten." In vielen Fällen sei das schon ausreichend, um einen Sinneswandel zu bewirken.

Debatte um kriminelle Geflüchtete

Sorge bereitet Klippstein indes der Umgang mit geflüchteten jugendlichen Straftätern. "Unsere Instrumente im Jugendstrafrecht kommen bei dieser Gruppe an Grenzen." Sozialstunden zu verhängen sei etwa wegen der fehlenden Sprachkenntnisse schwierig. Aufgrund von Erlebnissen im Herkunftsland mangele es vielen auch an Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit. "Ein weiteres Problem ist der fehlende Respekt vor Polizei und allgemein den Ordnungskräften und Justiz". Hinzu kommen oft nicht behandelte Traumata und Frust über die Situation in Deutschland.

In der Statistik schlägt sich das nieder. 119 der 370 vom Land geführten jugendlichen Intensivtäter, also fast jeder dritte, hat keinen deutschen Pass.

Immer häufiger schicken Jugendrichter geflüchtete Straftäter deshalb mangels Alternativen in U-Haft. "Auch wenn ich keine Generallösung habe, wir brauchen hier andere Ansätze“, sagt Klippstein. Als Beispiel nennt er mehr Integrations- und psychologische Betreuungsangebote für geflüchtete Jugendliche. Maßnahmen, für die das Land Baden-Württemberg allerdings deutlich mehr Geld in die Hand nehmen müsste.

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