Tipps von Psychologe Jan Ilhan Kizilhan

Gegen die Angst: Wie wir in Krisenzeiten zuversichtlich bleiben können

Stand

Krieg in Gaza und der Ukraine, Trump im Weißen Haus, lahmende Wirtschaft in Deutschland: Der Psychologe und Traumaforscher Jan Kizilhan erklärt, wie Zuversicht trotz Polykrisen gelingen kann.

Der Blick auf die Nachrichtenapp oder in den Social-Media-Feed zeigt einem derzeit viele Krisen. Manche zumindest räumlich weit entfernt von Baden-Württemberg, andere ganz nah. Und dann gibt es womöglich noch Belastungen im Job, in der Beziehung, in der Familie und im Freundeskreis. Wie soll man trotz alledem zuversichtlich bleiben? Der Psychologe und Traumaforscher Jan Ilhan Kizilhan vom Institut für Transkulturelle Gesundheitsforschung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Stuttgart arbeitet seit Jahren mit Menschen, die von Krieg und Krisen traumatisiert sind. Im SWR-Interview spricht er darüber, was Zuversicht ist, was sie leisten kann - und was nicht.

Traumaforscher Jan Ilhan Kizilhan schaut mit verschränkten Armen in die Kamera. Wir sprechen mit ihm über Menschen, die Krieg, Terror und Gewalt erlebt haben und deshalb an einem Trauma leiden.

SWR Aktuell: Was bedeutet Zuversicht insbesondere im Kontext von Krisen und traumatischen Erfahrungen?

Jan Ilhan Kizilhan: In der Alltagssprache verwechselt man Zuversicht gerne mit einem "Das-wird-schon-wieder" oder "Mach-dir-keine-Gedanken", einem Schönreden also. Aber Zuversicht bedeutet wissenschaftlich und für mich persönlich, dass man realistisch ist. Also anzuerkennen, dass es zum Beispiel eine Krise gibt, dass man eine Erkrankung hat oder eben, dass man Angst hat. Man setzt sich also mit der Situation auseinander und erkennt: Es ist ein Problem da, wir haben im Moment eine Krise, aber wir haben trotzdem Vertrauen. Das heißt, dass ich, wir als Gesellschaft oder die Menschheit insgesamt über Mittel und Wege verfügen, damit umzugehen. Diese Haltung basiert nicht auf Verdrängung, sondern auf "radikaler Akzeptanz": erst annehmen, was ist, dann Handlungsspielräume erkennen. Aus "radikaler Akzeptanz" entsteht ein Raum für Zuversicht. Gerade in traumatischen Kontexten ist diese Haltung überlebenswichtig - sie wirkt wie ein innerer Anker, der Stabilität vermittelt.

SWR Aktuell: Ist Zuversicht ein Persönlichkeitsmerkmal? Gibt es Leute, die von Natur aus zuversichtlicher sind als andere?

Kizilhan: Ja, sicherlich. Lassen Sie es mich mal so formulieren: Zuversicht ist so etwas, wie ein psychologischer Muskel. Er wächst, wenn wir ihn benutzen und er verkümmert, wenn wir ihn vernachlässigen. Zunächst hängt das aber auch von meiner Resilienz - also von meiner angeborenen Widerstandskraft - ab. Bei den einen ist sie weniger, bei den anderen stärker entwickelt, die teils genetisch, teils biografisch geprägt ist. Dadurch kann jemand eine Belastung besser bewältigen, der andere weniger. Aber das bedeutet nicht, dass eine schwächere Resilienzentwicklung mein Schicksal ist. Wir können trotzdem lernen, unsere Resilienz zu stärken. Ich kann sie fördern, aber muss daran arbeiten. Er lässt sich trainieren. Das Gehirn reagiert messbar auf hoffnungsvolle Gedanken - besonders der Hippocampus, der präfrontale Kortex und die anteriore cinguläre Hirnrinde zeigen dann erhöhte Aktivität. In der Neurobiologie weiß man zudem: Positive Antizipation führt zur Ausschüttung körpereigener Opioide, die Stress reduzieren und Schmerz lindern - ein echter neurobiologischer Schutzfaktor.

SWR Aktuell: Können Sie den Unterschied zwischen realistischer Zuversicht und, nennen wir es mal, naivem Optimismus etwas genauer erklären?

Kizilhan: Es gibt beispielsweise eine Studie, die in Marburg bei Herzpatienten durchgeführt wurde. Wer sich vor der OP konkrete Zukunftspläne machte – wie das Bepflanzen des Balkons oder ein Treffen mit Freunden –, zeigte Monate später bessere Heilungsverläufe und geringere Entzündungswerte.  Die positiven Gedanken spielen hier schon eine wichtige Rolle. Aber: Positive Gedanken bedeuten nicht, dass ich mir etwas vorlüge oder irgendetwas Esoterisches mache und die Realität nicht anerkenne. Solche Effekte beruhen als auf realitätsbezogener Hoffnung, nicht auf Verdrängung. Reiner Wunschglaube - etwa bei Krebserkrankungen auf Chemotherapie zu verzichten und allein auf "gute Gedanken" zu setzen - ist gefährlich. Erst das Anerkennen der realen Bedrohung schafft den Boden, auf dem Zuversicht wachsen kann. Das ist der Kern von "radikaler Akzeptanz".

SWR Aktuell: Jetzt haben wir viel über den Umgang mit persönlichen Schicksalsschlägen gesprochen. Greifen dieselben Mechanismen auch beim Umgang mit abstrakteren Krisen, wie der Klimakrise oder der Angst vor einem drohenden Krieg?

Kizilhan: Unbedingt. Das hat viel mit Angst zu tun. Wenn wir jeden Tag vor den Medien sitzen und schauen, was in Gaza passiert zum Beispiel. Oder auf den Krieg in der Ukraine oder was Trump, Putin und andere machen, dann bekommen die Menschen natürlich Angst, was ihre Perspektive oder ihre Zukunft betrifft. Es bedeutet, dass Polykrisen wie Klimawandel, Krieg, Pandemie oder Inflation kollektive Angst erzeugen. Auch wenn viele Menschen nicht unmittelbar betroffen sind, entsteht eine Art Dauerstress, der sich gesundheitlich - etwa als Bluthochdruck, Schlafstörung oder depressive Verstimmung - manifestiert. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass 300 Millionen Menschen weltweit eine Angststörung haben. Dabei spielen genau solche Ängste vor abstrakteren Dingen eine Rolle. Viele dieser Menschen sind nicht konkret bedroht oder auf der Flucht.

Erinnern wir uns: Auch nach zwei Weltkriegen wurde dieses Land wieder aufgebaut - das zeigt, welche Kraft in der menschlichen Gemeinschaft liegt.

Auch die Menschen in Deutschland haben erhebliche Ängste aufgrund der politischen Situation und der Dinge, die in den letzten Jahren passiert sind. Hier scheint als Gegenpol ein gesellschaftliches Vertrauen notwendig zu sein. Solidarität und Gemeinschaft spielen eine wichtige Rolle. Und auch die Politik muss uns vermitteln, dass Grund zur Zuversicht besteht, dass es besser wird. Gleichzeitig müssen wir uns auch bewusst sein, dass die Menschheit schon immer Krisen durchgemacht hat. Das bedeutet: Vertrauen in demokratische Institutionen, Solidarität in der Bevölkerung und Medien, die neben Risiken auch Lösungen zeigen. Erinnern wir uns: Auch nach zwei Weltkriegen wurde dieses Land wieder aufgebaut - das zeigt, welche Kraft in der menschlichen Gemeinschaft liegt.

SWR Aktuell: Also ein Appell, weniger Zeit mit Medien zu verbringen? Oder ein Appell an uns Medien, positive Geschichten stärker hervorzuheben?

Kizilhan: Beides. Medien sollten nicht nur von Katastrophen berichten, sondern auch von Lösungen und gelingenden Projekten, von Menschen, die trotz widriger Umstände Großes leisten. Denn die Mehrheit der Menschen leisten jeden Tag und fast ihr ganzes Leben großartige Dinge, sie arbeiten, sie ziehen ihre Kinder groß und bewältigen so viele Krisen und sind für andere da. Das ist nicht wenig und sollte gesehen werden. Aber ich empfehle auch eine Art Medienfasten. Sich also von Medien, die man für glaubwürdig hält, denen man vertraut, seine Informationen zu bestimmten Zeiten am Tag zu holen. Aber dann auch zu sagen, das reicht mir. Also sich in die Lage zu versetzen, Medien und Soziale Medien mal auszuschalten. Insbesondere vor dem Schlafengehen mindestens eine Stunde oder sogar länger aus diesem Informationsfluss auszusteigen. Hier geht es darum, sehr bewusst mit Medien umzugehen und sich am Tag auch mal zu gewissen Zeiten frei zu machen von den Einflüssen, denen man durch Medien und soziale Medien ausgesetzt ist. 

Gerade Jugendliche, die bei mir in Behandlung sind, berichten mir davon, wie sie nicht schlafen oder sich in der Schule nicht konzentrieren können. Denn diese ganzen Informationen über Krieg, Tote, Krisen und Hunger führen bei ihnen dazu, dass sie den Glauben an die Menschheit verlieren. Die sagen sich dann, hier stimmt moralisch-ethisch etwas mit der Welt nicht. Ich denke, auch hier könnte medial stärker hervorgehoben werden, dass die Ungerechtigkeiten in der Welt nicht einfach akzeptiert werden. 

SWR Aktuell: Ihre Arbeit führt Sie auch immer wieder in Kriegs- und Krisengebiete. Erleben sie auch dort Zuversicht?

Kizilhan: Ja, auf eindrucksvolle Weise. In Regionen wie Syrien oder dem Nordirak arbeiten wir mit Menschen, die einen Genozid überlebt haben, in Flüchtlingslagern leben oder ihre Familien verloren haben. Und dennoch zeigen viele von ihnen enorme Hoffnungskraft, gespeist aus Spiritualität, Religion oder dem Wunsch, für ihre Kinder weiterzuleben.

Gemeinschaft ist hier ein zentraler Faktor: Menschen helfen einander, teilen das Wenige, das sie haben. Diese soziale Verbundenheit stärkt psychisch enorm, im Gegensatz zur oft erlebten Isolation westlicher Gesellschaften. Dort, wo ein Nachbar sagt "Wenn du es schaffst, schaffe ich es auch", oder "Wenn du Hilfe brauchst, dann sag Bescheid“, entsteht echte Resilienz durch geteilte Zuversicht. Ich habe in den Kriegsgebieten gesehen, wie Menschen ihr letztes Brot oder ihr letztes Geld miteinander teilen. Das hilft und gibt Zuversicht. Allein für sich zu kämpfen, sich von der Gemeinschaft zu isolieren, schwächt, so stark man auch ist. Isolation führt zur Depression und anderen körperlichen Erkrankungen. In den individuellen Gemeinschaften müssen wir uns, auch schon aus gesundheitlichen Gründen, an die heilende Kraft einer gesunden Gemeinschaft erinnern und wieder verbessern.

"Das Trauma wird nie vergessen, aber das Trauma kann kontrolliert werden." Im April war Jan Ilhan Kizilhan zu Gast bei SWR1 Leute und hat über seine Arbeit mit Menschen in Kriegsgebieten gesprochen. Hier gibt es das Gespräch als Videopodcast:

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