Pflegekräfte haben viel Arbeit bei wenig Lohn. Die Pflegereform von Gesundheitsminister Jens Spahn sollte ihre Lage verbessern, stößt aber auf Kritik. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Patrick Seeger (Montage: SWR))

Belastung, Impfpflicht, Pflegenotstand

Corona und Altenpflege: "Schuld ist letztendlich das Virus und selten der Mensch"

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Marc-Julien Heinsch

Wie geht es dem Personal in der Altenpflege nach fast zwei Jahren Pandemie? Ein Gespräch mit Frank Ulrich, Geschäftsführer der Paritätischen Sozialdienste PASODI.

Frank Ulrich, Geschäftsführer der Paritätischen Sozialdienste Stuttgart gGmbH, möchte über die Situation der Pflegekräfte im zweiten Corona-Jahr sprechen. Der Fall eines Mannheimer Pflegeheims, wo nach einem Corona-Ausbruch 13 Bewohner gestorben waren und nun die Staatsanwaltschaft unter anderem wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung gegen die Verantwortlichen des Heims ermittelt, hat ihn aufgewühlt.

SWR Aktuell: Herr Ulrich, was an dem Mannheimer Fall hat Sie so bewegt, dass Sie daraufhin das Gespräch mit SWR Aktuell gesucht haben?

Frank Ulrich: Aus der Praxis heraus kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass dieser Fall sich wirklich so zugetragen haben soll. Die Beschuldigten sagen ja auch, dass es nicht so gelaufen sei. Letztendlich werden die Ermittlungen zeigen, wie es wirklich war. Aber darum geht es mir gar nicht. Mich hat vor allem die Frage beschäftigt, wie es den Mitarbeitern geht, die in diesem Unternehmen arbeiten, aber auch generell Pflegekräften geht, wenn sie so etwas lesen. Also: Was macht das mit uns, wenn nach so einem Vorfall nach Schuldigen gesucht wird? Natürlich müssen wir alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und einhalten. Ganz besonders wir, die wir die Verantwortung für vulnerable Gruppen tragen. Aber unsere Mitarbeiter in der Pflege fragen sich jetzt: Was ist, wenn das Virus bei uns ausbricht? Mache ich mich der fahrlässigen Tötung schuldig? Haften wir dafür, wenn jemand das Virus mitbringt? Meist kann man ja nicht einmal zurückverfolgen, woher die erste Infektion kam. Nochmal: Wenn in Mannheim tatsächlich fahrlässig gehandelt wurde, dann ist es vollkommen korrekt, dass ermittelt wird und dann muss es auch Konsequenzen geben. Aber Schuld ist letztendlich das Virus und selten der Mensch.

Im Fall des Verdachts gegen das Mannheimer Pflegeheim müssen wir die Ermittlungen abwarten. Lassen Sie uns über die Situation der Pflegekräfte sprechen. Sie müssen zusätzlich zur normalen Arbeitslast auch noch Angst haben, dass sie sich infizieren oder es unter den Bewohnern zu einer Infektion kommt. Wie hat sich die Situation auf Ihre Mitarbeiter ausgewirkt?

Das Arbeitsvolumen hat sich in den letzten zwei Jahren für alle deutlich erhöht. Was die Dokumentation angeht und den organisatorischen Aufwand, aber auch die reine Belastung bei der Arbeit. Wenn eine Pflegekraft einen Bewohner im Vollschutz waschen muss, anfangs noch mit Visier, mit Kittel, FFP2-Maske, da gerät man physisch an seine Grenzen. Dann gab es auch bei uns, wie in fast allen Einrichtungen in Deutschland, Corona-Fälle. Das war um Ostern 2020, als es noch keine Impfung gab. In zwei Häusern hatten wir starke Corona-Einschläge mit vielen Verstorbenen. Das war man vorher nicht gewohnt. Das macht etwas mit einem. Und auch Mitarbeiter haben sich angesteckt, manche haben heute noch mit Long-Covid-Symptomen zu kämpfen.

Frank Ulrich, Geschäftsführer der Paritätischen Sozialdienste Stuttgart gGmbH, kurz PASODI.  (Foto: Paritätischen Sozialdienste Stuttgart gGmbH)
Frank Ulrich, Geschäftsführer der Paritätischen Sozialdienste Stuttgart gGmbH, kurz PASODI.

Können Sie näher beschreiben, was Sie meinen, wenn Sie sagen: Das macht etwas mit einem?

Teams sind auseinandergebrochen, weil immer wieder die Frage gestellt wurde, wie das Virus reinkam. Hat es vielleicht, der mitgebracht? Oder die? Das ist ja menschlich. Man hat sich auf Ursachenforschung begeben. Letztendlich war es damals ähnlich wie das, was ich eingangs beschrieben habe: Es wurden Schuldige gesucht. War es jetzt ein Angehöriger, war es der Handwerker, war es der Mitarbeiter? Unsere Mitarbeiter haben wirklich zu 90 Prozent ihre sozialen Kontakte heruntergefahren. Das tun sie ja heute noch teilweise. Sie haben ihr Privatleben geopfert für diesen Job, um niemanden zu gefährden. Es gab Punkte, da war eine große Frustration und Hilflosigkeit zu spüren. Wir haben versucht Gesprächsangebote zu machen. Manche sind aber wegen der Corona-Situation trotzdem gegangen, genau beziffern kann ich es nicht.

Waren die Vorschriften von Seiten der Politik für Sie immer nachvollziehbar und umsetzbar?

Ich habe sehr großes Verständnis für die Politik und die Entscheidungsträger. Wir können alle nicht in die Zukunft gucken. Wenn wir uns die Entscheidungen von heute vor einem Jahr angucken, dann wissen wir jetzt vielleicht, wie wir sie hätten besser treffen können. Aber dieses permanente Politik-Bashing. Das ist mir zu pauschal und ich kann das Gemeckere nicht mehr hören. Wir sollten gemeinsam nach Lösungen suchen. Niemand von uns, ob Virologe, Politiker oder Zukunftsforscher kann jetzt sagen, was morgen richtig sein wird und schon gar nicht, was alle als richtig empfinden werden.

Aber mit Testpflicht, Hygienemaßnahmen und zusätzlicher Dokumentation ist die Arbeitslast für die Pflegekräfte durch manche Maßnahmen größer geworden, oder nicht?

Das stimmt. Zu Anfang war das zeitlich kaum zu leisten, weil die Vorgaben fürs Testen und Dokumentieren sehr umfangreich waren. Wir haben Räume umgewidmet zu Testräumen mit separatem Eingang und separatem Ausgang, haben Mitarbeiter abgestellt, die dort getestet haben. Der Aufwand war also erstmal sehr groß, da gingen Unmengen an Arbeitszeit drauf. Im Laufe der Zeit ist es aber besser geworden, weil sich geimpfte und genesene Pflegekräfte jetzt zum Beispiel selbst testen dürfen.

Fürchten Sie, dass die Impfpflicht für Pflegepersonal zu einem Problem werden könnte?

Ich kann nicht genau sagen, wie viele Mitarbeiter durch das Thema Impfpflicht gehen werden. Aber in unseren Heimen haben wir bereits eine Impfquote unter Bewohnern und Mitarbeitern von um die 90, in zwei Einrichtungen sogar nahezu 100 Prozent. Unsere Strategie war von Anfang an, keinen Druck auszuüben, sondern Impfen während der Arbeitszeit und vor Ort unkompliziert möglich zu machen. Außerdem habe ich mit jedem Mitarbeiter, den ich getroffen habe, auch über das Thema Impfung gesprochen und versucht mir die Bedenken anzuhören, ohne zu urteilen. Ich vermute, auch mit der Impfpflicht werden weniger gehen, als befürchtet wird. Das zeigt doch auch die Situation in Frankreich oder anderen Ländern, in denen eine Impfpflicht für Pflegepersonal schon eingeführt wurde.

In der Corona-Krise hat sich der Personalmangel in der Pflege weiter verschärft. Gleichzeitig ist da der Druck, bloß keinen Fehler zu machen, denn niemand will selbst krank werden oder Schuld sein, wenn sich vulnerable Patienten infizieren. Wie kommen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit dieser Situation zurecht?

Der eine besser, der andere schlechter. Ich versuche es mal so zu beschreiben, wie ich es immer wieder von Mitarbeitern höre: In diesem Jahr fehlt ihnen die allgemeine Wertschätzung aus der Bevölkerung und der Politik. Stattdessen wird von Pflegekräften unausgesprochen verlangt, die sozialen Kontakte zu reduzieren, im Vollschutz zu arbeiten, keine Fehler zu machen, sich natürlich impfen zu lassen und sich immer verantwortungsbewusst zu verhalten. Dann hieß es Besuchsverbot. Das wurde von der Politik beschlossen. Ausdiskutiert wurde das Besuchsverbot aber hier, an der Tür des Pflegeheims. Da stand dann eben der normale Pflegemitarbeiter, der sich mit Argumenten von Menschen auseinandersetzen musste. Menschen, die das nicht verstehen wollten oder es einfach als ungerecht empfunden haben, ihre Angehörigen nicht sehen zu dürfen. Das fanden unsere Mitarbeiter natürlich auch überhaupt nicht schön. Der normale Arbeitnehmer im Büro oder am Fließband, der kann trotz Corona seine Arbeit machen. Aber Pflegekräfte haben mehr Belastungen durch Corona im Beruf selbst und obendrauf noch diesen ganzen Druck und diese Verantwortung - und eben das Gefühl, dass all das von der Bevölkerung nicht wirklich gesehen wird.

Was macht Ihnen Hoffnung, dass in ein paar Jahren überhaupt noch jemand in der Pflege arbeitet?

Wenn ich es positiv ausdrücken will, dann ist zumindest das Bewusstsein bei der Bevölkerung, bei der Politik angekommen, dass wir einen ganz starken Pflegenotstand haben und die Pflege ein System ist, das dringend in irgendeiner Form reformiert werden muss, weil es so nicht mehr weiter läuft. Wir wissen, wie viele Menschen in fünf oder zehn Jahren in Pflegeberufen gebraucht werden. Und wir wissen, dass diese Menschen nicht da sind. Hoffnung habe ich persönlich immer, weil ich ein positiver Mensch bin. Aber ich habe auch Sorge, dass wir bundesweit an einen Kipppunkt kommen und Krankenhäuser Menschen nicht mehr aufnehmen können, weil nicht genügend Personal da ist.

Viele sagen jetzt, man müsse etwas für die Pflege tun. Die Frage ist: Was kann man tun? Haben Sie einen Vorschlag?

Ich kann das Beispiel Schweden nennen, wo in der Altenpflege sowohl Personalschlüssel als auch Anerkennung des Berufs besser sind. Außerdem wird dort bei der Pflege in viel stärkerem Maß auf technische Hilfsmittel gesetzt. In Deutschland gibt es auch gute Ideen. Oft scheitert es aber am starren System, gesetzlichen Vorgaben und fehlendem Geld. Ich glaube, wir könnten den Beruf in der Altenpflege und im Krankenhaus schnell attraktiver machen, wenn wir eine dauerhafte steuerfreie Zulage für Pflegeberufe schaffen würden. Aber wir wissen auch, dass in unserem Arbeitsmarkt selbst mit mehr Geld nicht genügend junge Menschen zur Verfügung stehen, um den Bedarf zu decken. Deshalb könnte ich mir eine Art neues Gastarbeiterabkommen vorstellen, mit dem man Menschen aus dem Ausland anwirbt und ihnen einen Aufenthaltstitel ermöglicht, wenn sie dafür in Deutschland eine bestimmte Zeit in der Pflege tätig werden.

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