SWR: Wann sind in Deutschland das letzte Mal so viele Menschen für den Frieden auf die Straße gegangen?
Philipp Gassert: Das war im Vorfeld des zweiten Irak-Krieges im Jahr 2002/03.
Damals waren die Rahmenbedingungen aber ganz andere.
Es gibt tatsächlich signifikante Unterschiede. Die jetzige Friedensbewegung ist eine der Solidarität mit der Ukraine und sicher auch aus Schock und Empörung über die Tatsache, dass Putin in der Lage ist, mitten in Europa einen Krieg zu entfesseln. Weil der Krieg nun sehr viel näher an uns ist, ist die Betroffenheit auch nochmal eine andere. Außerdem liegt der Fokus nun auf der Solidarität. 2002/03 hatte die Bewegung weniger die irakischen Bürger und die potentiellen Opfer des Krieges im Auge, sondern zielte sehr viel stärker auf die amerikanische Regierung und die Nato ab. Man hatte mehr die eigentlichen Kriegsmacher im Auge als das jetzt der Fall ist. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass wir machtlos gegenüber dem sind, was die Regierung in Moskau beschließt. Wir können sie nicht beeinflussen und die russische Friedensbewegung ist mundtot gemacht und wird eingesperrt. Anfang der 2000er-Jahre hatten wir die Hoffnung, den Krieg zu verhindern und etwas zu bewirken. Damals gab es die Friedensbewegung vor Beginn der Kampfhandlung, jetzt kommt sie erst hinterher.
Sie haben die Nähe zur Ukraine und zum Krieg angesprochen. Welche Rolle spielt die Angst der Deutschen bei der aktuellen Friedensbewegung?
Sie haben völlig Recht. Es gibt natürlich die Furcht davor, dass der Krieg sich auf ganz Europa ausweiten könnte. Diese Angst steht im Raum, ist aber nicht so groß wie in den 1980er-Jahren als die Angst vor dem Atomkrieg und dem "nuklearen Holocaust" sehr real schien.
Was kann der aktuelle Protest erreichen?
Protestbewegungen haben immer die Funktion, bestimmte Themen in einer demokratischen Gesellschaft nach vorne zu rücken. Über die Mobilisierung und die entsprechenden Reaktionen, die das in den Medien auslöst, können Themen eine höhere Priorität bekommen. Und das ist genau das Dilemma, in dem die jetzige Friedensbewegung steckt. Niemand muss aufgeweckt werden, alle wissen, dass das brandgefährlich ist. Und die Bundesregierung verweigert sich dem ja auch nicht. Vieles was gefordert wird, macht die deutsche Regierung ja schon.

Wer geht denn gerade auf die Straße?
Die Gruppe ist sehr heterogen. Natürlich sind die klassischen Akteure mit dabei, also entsprechende Organisationen, Gewerkschaften und politische Parteien. Es sind aber auch viele Menschen aus der breiten Bevölkerung dabei, wie Familien mit Kindern, oder sehr junge Menschen von Fridays for Future. Es ist ein relativ breites Spektrum. Im Unterschied zu früher fehlt aber eine Gegenmeinung, die Protestbewegungen eigentlich immer haben. Es gibt nur ganz wenige, die Putin noch verteidigen oder verstehen.
Könnte sich die Gruppe noch einmal verändern?
Wenn es vielleicht irgendwann einen Waffenstillstand gibt und um konkrete Lösungen gerungen wird oder wenn einzelne NATO-Staaten tatsächlich so etwas wie eine Flugverbotszone oder ähnliches durchsetzen wollen, hätten wir eine sehr kontroverse Diskussion. Dann würde sich diese Friedensbewegung noch einmal aufspalten. An diesem Punkt sind wir jetzt aber noch nicht.
Nun gab es in den vergangenen Jahren viele Kriege. Auch mit russischer Beteiligung, wie in Georgien, auf der Krim oder in Syrien. Dagegen sind die Menschen aber kaum auf die Straße gegangen. Waren wir da als Gesellschaft unsolidarisch?
Das ist richtig. Die Friedensbewegung hatte das nicht im Blick. Aber nicht nur die. Auch die Politik insgesamt hat die Gewaltbereitschaft Putins unterschätzt. Das hat sich über mehrere Stufen entwickelt und man kann natürlich sagen, dass man Putin früher einen Riegel hätte vorschieben müssen. Aber wenn wir das versucht hätten, hätte das definitiv zu einer starken kontroversen Debatte in Deutschland geführt. Dann hätten wir nämlich eine Friedensbewegung gehabt, die sich dagegen ausgesprochen hätte, die Ukraine militärisch zu unterstützen oder in die NATO aufzunehmen. Das wäre politisch vor 2022 nicht machbar gewesen.
Demnach braucht es erst solch einen zerstörerischen Krieg, damit die Menschen in Deutschland für den Frieden demonstrieren? Warum hat das in den vergangenen 20 Jahren nicht stattgefunden?
Man kann eigentlich von 30 Jahren sprechen. Wir hatten uns nach dem Ende des Kalten Krieges daran gewöhnt, dass in Europa militärische Gewalt dieses Ausmaßes nicht mehr vorstellbar ist. Zumindest was zwischenstaatliche Kriege betrifft, also dass ein Staat einen anderen angreift. Wir hatten uns in der illusionären Annahme gewogen, dass wir in Europa so etwas wie eine Friedensordnung geschaffen haben. Wir haben gedacht, dass Krieg nur im Nahen Osten, in Afrika oder vielleicht auch in Ostasien geschieht. Das betraf alle gesellschaftlichen Gruppierungen. Wir haben die Friedensdividende nach dem Kalten Krieg einkassiert und geglaubt, dass Europa von derartigen kriegerischen Konflikten nicht mehr heimgesucht werden könnte.
Welche Rolle spielt dabei unser historisches Verhältnis zu Russland?
Wir haben ein sehr komplexes Verhältnis zu Russland. Das anti-russische Ressentiment, welches durch die beiden Weltkriege bedingt war, wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein stückweit überkompensiert. Wenn es um eine europäische Friedensordnung ging, hat man das Gespräch mit den Russen gesucht und dabei die eigenständige Meinung der Osteuropäer etwas übersehen. Man hat die Warnungen, die aus Polen oder der Ukraine selbst gekommen sind, nicht ernst genommen, weil sie als anti-russische Haltung gesehen wurde. Das war ein Schwachpunkt unserer Erinnerungskultur. Es gab sicherlich einen europäischen Hochmut zu sagen: "Krieg findet bei uns nicht mehr statt. Wir sind zivilisiert, fortschrittlich und haben ein regelbasiertes Miteinander. Das machen Europäer nicht mehr, das machen nur die anderen." Nun sind wir eines Besseren belehrt worden. Denn Russland ist ein Teil von Europa. Daher hat uns der Hochmut nun eingeholt. Krieg ist nichts, was nur in Syrien oder Äthiopien passiert.
Einige Bürgerinnen und Bürger hatten gehofft, dass eine Friedensbewegung in Russland selbst Druck auf Putin ausüben könnte. Das scheint derzeit aber unwahrscheinlich.
Darauf würde ich nicht setzen. Die Zivilgesellschaft aus den großen Städten und die Intellektuellen verlassen das Land in Heerscharen. Unabhängige Journalisten sind mundtot gemacht worden. Das Regime hat relativ klar gezeigt, was es kann. Natürlich ist das ländliche Russland unzufrieden, aber es organisiert sich nicht. Da geht es dann ohnehin weniger um den Krieg. Es sind eher die ökonomischen Folgen, die das Regime in Bedrängnis bringen könnten.
Blicken wir voraus. Wird geht es mit der deutschen Friedensbewegung weiter?
Viel größer kann sie kaum noch werden, weil sich schon eine unglaubliche Mobilisierungskraft entwickelt hat. Auch hängt das von den weiteren Entwicklungen ab. Wenn es zu einem Waffenstillstand kommt und es ein einigermaßen befriedigendes Ergebnis gibt, dann wenden sich die Leute sicher wieder anderen Dingen zu. Unsere Solidarität mit der Ukraine wird aber sicher noch einmal gefordert sein, wenn es darum geht, schwierige Kompromisse zu machen, damit das Töten aufhört.
Und was wird bleiben? Werden die Menschen in Deutschland in Zukunft wieder schneller für den Frieden auf die Straße gehen?
Das sehe ich schon. Es gibt nun eine starke Sensibilisierung der Bevölkerung für Krieg und Frieden. Das hat schon eine mobilisierende Qualität, die nicht einfach verschwindet. Das ist jetzt in den Köpfen drin und die Menschen werden da aufmerksamer hinschauen. Ich fürchte aber, dass das Interesse nicht mehr so groß sein wird, wenn der Krieg weiter entfernt ist und nicht direkt vor der Haustüre. Das ist ein historischer Erfahrungswert. Friedensbewegungen sind immer dann stark, wenn es Deutschland oder Europa unmittelbar betrifft.