Immer häufiger gibt es Meldungen zu aggressivem Verhalten einzelner Menschen. Erst vergangene Woche haben wir auch auf Instagram über Übergriffe auf Bauarbeiter und Straßenwärter berichtet. Auf unseren Post haben viele Userinnen und User geantwortet. Der Tenor: Die Gesellschaft scheint aggressiver zu werden. Doch stimmt das wirklich? Ja, sagt Andrea Kiesel, denn es kommen immer neue Formen der Aggressivität hinzu. Laut der Professorin für Allgemeine Psychologie an der Universität Freiburg hat sich der Ton in der Gesellschaft verschärft, doch man könne auch etwas dagegen tun.
SWR Aktuell: Der ehemalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert hat vergangene Woche in einem Interview mit der "ZEIT" gesagt, sein Rückzug aus der Politik habe damit zusammengehangen, dass er sich bedroht fühlte. Gleichzeitig prangert das baden-württembergische Verkehrsministerium Übergriffe auf Bauarbeiter und Straßenwärter an. Ist unsere Gesellschaft aggressiv?
Andrea Kiesel: Momentan erleben wir unsere Gesellschaft auf jeden Fall aggressiv. Es ist aber eine Frage der Vergleichsprozesse. Ich glaube, wir erleben unsere Gesellschaft jetzt aggressiver als vor zehn, 15 Jahren, weil neue Formen der Aggressivität dazukommen. Dass Politiker bedroht werden von Personen, die anderer Meinung sind, dass Straßenarbeiter bedroht werden von Umstehenden, die sich in ihren Alltagshandlungen behindert fühlen - das ist ein relativ neues Phänomen, das deshalb so unverständlich erscheint, weil dies Personen trifft, die altruistisch im Dienste der Gesellschaft handeln. Dass diese Personen oder Gruppen jetzt bedroht werden - teilweise auch die Familien -, das ist in unserer Gesellschaft beziehungsweise in unserem Kulturkreis neu. Insofern erleben wir das als eine starke Veränderung und eine Bedrohung. Wir erleben schon neue Formen von Aggressivität.

SWR Aktuell: Sie haben bereits ein paar Gruppen angesprochen. Gibt es weitere, die häufig Opfer von Aggressivität werden?
Kiesel: In den meisten Fällen sind es schwache Personen. Klassische Opfer sind Frauen, Kinder, Menschen mit Behinderung, zum Teil auch Ältere, und auch gesellschaftlich exponierte Personen. Insofern ist es fast eher verwunderlich, dass wir Aggression gegen Feuerwehrleute, Sanitäter oder beispielsweise Paketzusteller erleben, weil das eigentlich eine Gruppe ist, die wenig anfällig dafür war und auch wenig gesehen wurde.
SWR Aktuell: Warum hat sich unsere Gesellschaft so verändert?
Kiesel: Ich glaube, unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren vor allem in den Möglichkeiten des gesellschaftlichen Ausdrucks stark verändert. Wir erleben jetzt durch Social Media ganz andere Möglichkeiten, sich aggressiv zu verhalten, ohne direkt Feedback oder Konsequenzen zu bekommen. Stattdessen haben wir in diesen "Bubbles" gegenseitig verstärkende Maßnahmen. Und was früher ein normales soziales Korrektiv war oder eine soziale Norm, die wir im ganz normalen Präsenzalltag haben, fällt durch Social Media häufig weg. Oder wird in den einzelnen Subgruppen so kanalisiert, dass das, was früher das Korrektiv war, jetzt eher noch als positives Feedback wahrgenommen wird. Und wir wissen aus der Lerntheorie: Verhalten, das bestärkt wird, tritt häufiger auf. Verhalten, das bestraft oder ignoriert wird, wird seltener. Insofern treten hier ganz normale Lernmechanismen ein.
SWR Aktuell: Was genau hat sich in unserer Gesellschaft verändert?
Kiesel: In den letzten 20, 30 Jahren gehen wir in verschiedenen Kontexten - Politik, Arbeit, Familie - sehr viel höflicher miteinander um, als es vielleicht noch in den 50er- oder 60er- Jahren der Fall war. Auch als es in anderen Kulturkreisen der Fall ist. Dass wir uns um eine gute Kommunikationskultur bemühen, dass wir höflich miteinander umgehen, dass wir Kritik anderer auch annehmen. Und versuchen, Kompromisse zu schließen und diese auch als eine Errungenschaft der Demokratie sehen.
Das hat sich in jüngster Zeit wieder verändert. Wir haben jetzt eine Extremisierung, die auch in der politischen Landschaft dahin geht, dass der demokratische Kompromiss nicht mehr von allen als ein Ziel der Kommunikation oder der Debatte erlebt wird und auch der Ton hat sich verschärft.
SWR Aktuell: Welche Rolle spielt die aggressivere Sprache in der Politik dabei?
Kiesel: Wir ahmen Verhalten von anderen beziehungsweise von Modellen nach - die sogenannte Theorie des Modelllernens. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir Verhalten nachahmen, steigt mit dem sozialen Status der Person und auch damit, ob wir glauben, dass die Person damit erfolgreich ist. Zusätzlich spielen auch die eigene Ähnlichkeit zu der Person eine Rolle sowie das eigene Verhaltensrepertoire. Insofern ist die Beobachtung, dass Politiker heutzutage eher aggressivere Reden im Bundestag oder anderen Veranstaltungen halten, eine Erklärung dafür, dass aggressiveres Verhalten häufiger in den Medien erlebt wird. Dort wird es dann auch als erfolgreich erlebt, weil über aggressivere Aussagen mehr berichtet wird und sie stärkere Beachtung finden. Vielleicht führen sie auch auf Social Media zu mehr Klicks, was ja auch heutzutage ein einfaches Erfolgskriterium ist.
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SWR Aktuell: Welche Rolle spielen denn die Krisen, die wir erlebt haben in den vergangenen Jahren?
Kiesel: Krisen sind natürlich immer ein Mechanismus, der dazu führt, dass Personen selbst verunsichert werden - aber auch mehr Stress erleben. Und wir können sehr gut nachvollziehen, dass Personen unter Unsicherheit, unter Stress, unter Angst dann auch dazu neigen, die Informationsverarbeitung und die Informationen, die wir selbst an uns ranlassen, einzuschränken. Aber auch unter Stress dann zu weniger reflektiertem Verhalten neigen und unter Umständen auch mit stärkeren Aggressionen reagieren.
SWR Aktuell: Können wir als Gesellschaft etwas gegen diese Entwicklung tun?
Kiesel: Wir alle können aggressives Verhalten ächten, das heißt, Personen, die sich aggressiv verhalten nach Möglichkeit ignorieren und nicht erfolgreich sein lassen, zum Beispiel durch besondere Aufmerksamkeit. Und gesellschaftlich arbeiten unsere Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer und auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter daran, dass die nächste Generation gute, angemessene, demokratische Kommunikationsformen verwendet. Natürlich ist auch im Bereich der Sanktionen von aggressiven Verhalten unser Strafrecht wichtig. Hier wurden in den letzten Jahren Verfahrensweisen zum Umgang mit Beleidigung und Bedrohung in den sozialen Medien entwickelt.
SWR Aktuell: Was können Medien Ihrer Meinung nach tun?
Kiesel: Wir dürfen das Modelllernen wirklich nicht unterschätzen. Deshalb brauchen wir gute Vorbilder, die in nicht-aggressiver Weise kommunizieren. Momentan haben wir in den Medien viele schlechte. Und vielleicht sollten wir schauen, dass Politiker, die eine gute Debattenkultur pflegen viel mehr Präsenz in den Medien bekommen als die mit einer schlechten.