Zwei Wochen ist es her, dass sich ein mutmaßlicher "Reichsbürger" mit Schüssen auf Polizisten gegen die Abnahme von Waffen wehrte. Bei dem Einsatz in Boxberg-Bobstadt (Main-Tauber-Kreis) wurde ein Polizist verletzt. Es kam zu Bränden und Explosionen. Mittlerweile ermittelt der auf Terrorismusbekämpfung spezialisierte Generalbundesanwalt in Karlsruhe in dem Fall. Einen ungewöhnlichen "Blickfang" bildeten am Tatort zwei ein bis zwei Meter große Runen, die an der Hauswand eines der Gebäude befestigt sind.
Rote Tyr-Rune aus Holz an Hauswand
Runen sind die uralten Schriftzeichen der Germanen. Man findet sie eingeritzt in Jahrhunderte alten Steinen und Knochen, von Skandinavien bis Norddeutschland. Die einzelnen Zeichen haben jeweils einen Lautwert, entsprechen also einem unserer heute gebräuchlichen Buchstaben. Aber die meisten Runen haben auch symbolische Bedeutungen.
So steht etwa ein nach oben gerichteter Pfeil für den germanischen Kriegsgott Tyr. Dieser wird schon in den ältesten erhaltenen Schriften aus nordischen Ländern erwähnt und galt als Beschützer des "Things", also des Versammlungsorts eines Stammes. Genau solch eine Tyr-Rune - augenscheinlich aus Holz und rot angestrichen - prangt als großes Objekt (links auf dem Foto) an der Außenwand eines der Häuser, die am 20. April in Boxberg-Bobstadt von der Polizei durchsucht wurden.

Falls die Bewohner mit der Tyr-Rune die Schutzfunktion des Kriegsgottes anrufen wollten, hätte der Beschützergott allerdings versagt. Denn nach etlichen Schüssen auf die Polizei nahm diese zeitweise sieben Personen aus dem Haushalt fest.
Symbol in Neonazi-Kreisen für Krieg und Kampf
Die Einsatzbeamten wurden von der heftigen Gegenwehr überrascht. Möglicherweise hätte eine intensivere Vorbereitung des Einsatzes sie etwas besser warnen können. Denn sie suchten ja nach mindestens einer Person mit einer extremistischen Gesinnung. Und die Tyr-Rune steht in Neonazi-Kreisen "in der Regel für Krieg und Kampf", wie der Germanist Georg Schuppener in seiner Untersuchung "Die Schatten der Ahnen - Germanenrezeption im deutschsprachigen Rechtsextremismus" feststellt.

Tyr-Rune bei Nationalsozialisten beliebt
Für keine politische Richtung spiele der Rückgriff auf die Mythologie zur Identitätsstiftung eine so große Rolle wie für den Rechtsextremismus, schreibt Schuppener. Allerdings weist er auch darauf hin, dass nicht jede Bezugnahme auf germanische Mythologie automatisch auf einen rechtsextremen Hintergrund schließen lässt.
Belegt ist aber, dass die Tyr-Rune bei den historischen Nationalsozialisten bekannt und beliebt war, denn sie wurde den Absolventen der Reichsführerschulen der NSDAP, also politischen Kaderschmieden der deutschen Faschisten, verliehen. Auf welche der möglichen Bedeutungen sich der Hausbesitzer in Bobstadt bezieht, bleibt unklar: Eine SWR-Anfrage ließ er unbeantwortet.
Landesamt für Verfassungsschutz äußert sich nicht
So bleibt auch unklar, welche Bedeutung das zweite Objekt an der Hauswand haben könnte, das nicht ganz so leicht zu erkennen ist. Das baden-württembergische Landesamt für Verfassungsschutz äußert sich auf Anfrage gar nicht zu dem sternförmigen Symbol.
Auch Runen-Experte Schuppener gibt das Objekt Rätsel auf. Immerhin lassen sich zwei Merkmale festhalten: Zum einen handle es sich um eine Kombination aus zwei Runen, also eine sogenannte "Binderune". Zum anderen sei das Besondere in diesem Beispiel die große Ähnlichkeit mit dem sogenannten "Christusmonogramm" – einem der ältesten Symbole des Christentums überhaupt.
Debatte um Wurzeln der Deutschen
Allerdings würden sich Rechtsextremisten gerade deshalb auf Runen und die germanische Mythologie beziehen, um zu belegen, dass die Wurzeln der Deutschen noch älter seien als das Christentum. Dann würde die Ähnlichkeit mit dem Christusmonogramm nur dazu dienen, "der christlichen Ikonografie eine "artgerechte" germanische gegenüberzustellen", so die Interpretation des Runen- und Rechtsextremismusexperten Schuppener.
Tatsächlich finden sich in rechtsesoterischer Literatur und in Internetvideos mehrere Kommentare, in denen behauptet wird, christliche Symbole und Mythen entstammten in Wirklichkeit der Welt der Germanen. Im konkreten Fall der Binderune von Boxberg-Bobstadt wäre die Argumentation so: Die Binderune enthält die recht bekannte Hagal-Rune, welche von germanisch-völkischen Ideologen als das "germanische Original" gepriesen wird, während das Christusmonogramm und der Davidstern als christliche bzw. jüdische "Kopien" bezeichnet werden.
Der offenbar rechtsideologische Kommentator eines ausführlichen Youtube-Videos behauptet etwa: "Die gesamte christlich-arische Vorstellungswelt beruht auf Tatsachen, die aus dem Herzen Germaniens pulsen." Diese These ist allerdings historisch nicht belegbar. Tatsächlich besteht das Christusmonogramm aus den beiden übereinander geschriebenen griechischen Buchstaben Χ und Ρ, die den Lautwerten der ersten beiden Buchstaben des griechischen Wortes Χριστός Christós entsprechen.
Eine Besonderheit macht die Hagal-Rune zu einem der zentralen Symbole sowohl für Esoteriker als auch für Rechtsextremisten: In ihrer Form vereinigt sie die grafischen Zeichen der Lebens- und der Todesrune und wird so zum Zeichen für das "Allumfassende". Mit dieser Bedeutung findet sie sich im Sortiment von Onlineshops, die sich dem Thema Germanen und Wikinger widmen, und soll angeblich für "Liebe" stehen.
Bewusst gewählte und komponierte Symbole?
Im Zusammenhang mit der Hauswand in Boxberg-Bobstadt schließt Schuppener: "Insgesamt ist die Anbringung der Zeichen doch wohl komponiert im Sinne eines allumfassenden Programmes: Krieg und Kampf auf der einen Seite (mutmaßlich gegenüber den Gegnern), Liebe und Verbrüderung auf der anderen Seite (bezogen auf die eigene Gruppe)." Allerdings war auch die Hagal-Rune im Nationalsozialismus gebräuchlich und zwar als Truppenkennzeichen der 6. SS-Gebirgs-Division "Nord", die in Norwegen stationiert war.
Logo einer rechtsextremen Organisation?
Doch wie erwähnt, zeigt das Symbol an der Hauswand nicht direkt diese Hagal-Rune, sondern eine erweiterte Form. Lukas Rösli, Juniorprofessor für Skandinavistik und Mediävistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, bietet auf SWR-Anfrage eine ganz andere Spur zu ihrer Deutung an: Die fragliche Binderune bestehe aus Runen mit den Lautwerten "g" und "r" und entspreche "ziemlich genau dem Logo der von 2017 bis 2019 operierenden rechtsextremen Organisation "Reconquista Germanica", schreibt Rösli auf SWR-Anfrage.

Netzwerk galt eigentlich als aufgelöst
Die "RG" abgekürzte Aktivistengruppe hatte vor allem zur Bundestagswahl 2017 auf verschiedenste Weise im Internet versucht, Einfluss auf den Bundestagswahlkampf zu nehmen und dabei die AfD zu unterstützen. Das verdeckte rechtsextremistische Netzwerk trat mit gebündelten Troll-Attacken auf Politiker und massenhaften Kommentaren in Sozialen Medien in Erscheinung und viel durch seine militärisch-straffe Organisationsstruktur auf.
Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang ließ die Aktivitäten der "Reconquista Germanica" beobachten. Nach 2019 galt das Netzwerk allerdings als aufgelöst. Daher merkt der Berliner Runen-Experte Rösli an: Falls es sich bei dem Objekt in Boxberg-Bobstadt tatsächlich um das Logo der "Reconquista Germanica" handele, "wäre dies durchaus ein interessantes Anzeichen dafür, dass das Logo weiterhin in aktiver Verwendung ist".