Am Freitag ist der Tag der seltenen Erkrankungen. An einer solchen leidet die 43-jährige Nicole Hahn aus Konstanz. Sie ist eine von wenigen erwachsenen Patientinnen mit dem Tay-Sachs-Syndrom in Deutschland. Ihre Muskeln arbeiten nicht wie bei gesunden Menschen: Zu gehen, schlucken und sprechen fällt ihr zunehmend schwer. Die 43-Jährige läuft zuhause am Rollator, für Ausflüge hat sie einen Rollstuhl.
Seltene Krankheit: Der lange Weg bis zur Diagnose Tay-Sachs
An ihrem 37. Geburtstag bekommt Nicole Hahn die Diagnose Tay-Sachs-Syndrom, eine unheilbare Krankheit, gegen die es bisher in Deutschland keine Medikamente gibt. "Es war natürlich ein Schock, aber auch eine Erleichterung: Jetzt hatte das Kind endlich einen Namen", sagt sie. Denn bis zur Diagnose war es ein langer Weg.
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In ihrer Kindheit und Jugend scheint zunächst alles normal. Nicole Hahn ist vermeintlich gesund, geht in Singen (Kreis Konstanz) aufs Gymnasium. Kurz vor dem Abitur bekommt sie psychische Probleme und verlässt die Schule. Immer wieder ist sie in Behandlung. Verschiedene Versuche, eine Ausbildung zu machen, scheitern.
Später kommen dann immer mehr motorische Einschränkungen dazu: Nicole Hahn stolpert, fällt die Treppe hinunter, stürzt vom Fahrrad. Psychische Probleme und der langsame Verlust von motorischen Fähigkeiten sind typische Symptome von Tay-Sachs. Trotzdem ist lange unklar, was Nicole Hahn fehlt. Viele Ärzte kennen das Tay-Sachs-Syndrom nicht, Spezialisten in Tübingen stellen die Krankheit schließlich bei ihr fest.
"Ich erinnere mich noch, als wir zusammen in Konstanz getanzt haben", sagt Sonja Hasemann. "An ihrem 30. Geburtstag haben wir zusammen gefeiert, da wusste noch niemand aus dem Umfeld etwas von der Krankheit", so Hasemann. Die 60-Jährige kennt Nicole Hahn schon lange, sie ist eine Freundin der Familie. Wie sich die Krankheit bei Nicole Hahn entwickelte, hat sie deshalb hautnah mitbekommen. Inzwischen ist sie nicht nur eine Freundin, sondern auch die Betreuerin der 43-Jährigen.
Nicole Hahn will sich von ihrer Krankheit nicht ausbremsen lassen
Die beiden Frauen leben jetzt gemeinsam in einer Wohnung in Konstanz. Sonja Hasemann hilft Nicole Hahn im Alltag, kocht für sie, begleitet sie zu Ärzten, hilft beim Duschen und beim Anziehen. Nicole Hahn hat Freude an Kunst und Handwerk: Sie malt, töpfert und schreibt Gedichte.
Solange das noch geht, will ich etwas von der Welt sehen.
Und die beiden Frauen reisen zusammen. Sie waren gemeinsam etwa in Frankreich und in Italien. Im vergangenen Jahr reisten sie zwei Wochen lang durch Osteuropa. "Das ist auch anstrengend für Nicole, wenn wir mal nur eine Nacht in einem Hotel sind und dann wieder weiterfahren. Ich bewundere es, dass sie das so durchzieht", sagt Hasemann.
Der gemeinsame Alltag und die Reisen schweißen die beiden Frauen zusammen. Sie sind ein eingespieltes Team, das merkt man, zum Beispiel, wenn sie von gemeinsamen Erlebnissen erzählen und in Erinnerungen schwelgen oder wenn sie gemeinsam die Spülmaschine ausräumen.

Bei vielen bleibt die Krankheit unerkannt
Von 250.000 bis 300.000 Menschen komme einer mit dem Tay-Sachs-Syndrom auf die Welt, sagt Sonja Hasemann. In rund 80 Prozent der Fälle sind Kinder davon betroffen. Dass die Krankheit erst im Erwachsenenalter ausbricht, wie bei Nicole Hahn, kommt deutlich seltener vor.
Wie viele Menschen genau mit dem Tay-Sachs-Syndrom in Deutschland leben, lasse sich schwer sagen. Hasemann schätzt, dass bei vielen die Krankheit unerkannt bleibt. "Weil sie so unbekannt ist, wird die Erkrankung bei vielen einfach nie diagnostiziert. Das wird natürlich auch immer schwieriger, je schlechter es den Patienten geht und je weniger sie sich ausdrücken können."
Dass die Krankheit so selten ist, stellt Sonja Hasemann und Nicole Hahn auch nach der Diagnose immer wieder vor Herausforderungen. "Man muss selbst bei Ärzten immer wieder erklären, was die Symptome sind, und es gibt einfach keine Therapie speziell für Tay-Sachs-Patienten", sagt die 60-Jährige.
Wir wollen, dass mit der Diagnose keiner alleine bleiben muss.
Patienten, die an Tay-Sachs und an Morbus Sandhoff, an einer ähnlichen Erkrankung, leiden, sind über ganz Deutschland verteilt. Um sich besser austauschen zu können, gibt es seit zehn Jahren die Selbsthilfegruppe "Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff in Deutschland". Einmal im Jahr trifft sich der Verein.
"Das ist wie ein Familientreffen. Es tut richtig gut, mit Leuten zu sprechen, die genau wissen, wie es mir geht", sagt die 43-Jährige. Ihre Betreuerin ist inzwischen Teil des Vorstands. "Neben dem Erfahrungsaustausch ist es uns auch wichtig, dass wir gemeinsam für Studien und eine bessere Versorgung kämpfen", heißt es von dem Verein auf SWR-Anfrage. Der Verein arbeitet dafür auch mit Ärzten und Wissenschaftlern zusammen.
Die Forschung voranzutreiben und die Krankheit bekannter zu machen, das ist auch das Ziel von Nicole Hahn. "Es müssen einfach mehr Menschen wissen, was Tay-Sachs ist", sagt sie.