Ein Junge hält am 27.05.2015 während einer Kundgebung auf dem Marienplatz in München (Bayern) ein Plakat mit der Aufschrift «Wo ist die Lobby für Familien» in die Höhe. Beschäftigte kommunaler Kitas befinden sich seit drei Wochen im Streik. Eltern rufen zu weiteren Verhandlungen zwischen Erziehern und Kita-Betreibern im Kita-Streik auf. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance / dpa | Andreas Gebert)

SWR-Befragung "Familien in Krisenzeiten"

Fehlende Lobby: Werden Interessen der Familien in Baden-Württemberg oft übergangen?

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Oliver Linsenmaier
Bild von Oliver Linsenmaier (Foto: privat)

Viele Eltern in Baden-Württemberg vermissen gerade in Krisen die Unterstützung von Politik und Gesellschaft. Daher stellt sich die Frage, ob Familien und Kinder eine Lobby haben?

Kinder kommen in Baden-Württemberg häufig zu kurz. Dieses Gefühl vieler Eltern zieht sich wie ein roter Faden durch die SWR-Befragung "Familien in Krisenzeiten". Auch Verbände wie der Landesfamilienrat oder pro familia sehen dies als zentrales Problem, das durch die Corona-Pandemie noch verschärft wurde. Das Sozialministerium um Minister Manfred Lucha (Grüne) widerspricht dieser These. Haben also Familien in Baden-Württemberg keine Lobby? Eine Annäherung.

Oft haben Familien ein funktionierendes Netzwerk

Gemeinsam mit ihrem Mann Nils und den beiden Söhnen lebt Katharina Decken in Leinfelden-Echterdingen (Kreis Esslingen). Eigentlich geht es der jungen Familie gut. Beide Eltern sind berufstätig. Der Sechsjährige besucht eine Grundschule, der Dreijährige hat einen Kitaplatz. Auch die Großeltern wohnen in der Nähe. Ein Babysitter kann zusätzliche Betreuungszeiten abdecken. Doch mit der Corona-Pandemie bricht dieses kleine effiziente Netzwerk zusammen.

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Dennoch ist sich die Familie Decken ihrer Privilegien bewusst. Zwar können die Kinder nicht mehr extern betreut werden, da die Jobs der Eltern nicht als systemrelevant gelten. Doch da sowohl Katharina als auch Nils Decken im Homeoffice arbeiten, kann das Betreuungsproblem unter großer Anstrengung gelöst werden.

"Eltern streiken nicht. Eltern machen immer irgendwie weiter."

Auch wenn es schwer fällt, hat die Familie Verständnis für den Schutz der vulnerablen Gruppen - selbst wenn das auf Kosten der Kinder geht. Man zeigt sich solidarisch. Schließlich befindet man sich inmitten einer Pandemie.

Mutter vermisst Solidarität mit den Familien

Doch spätestens mit dem Übergang zur Endemie schwindet das Verständnis für die Politik. Noch immer sind die Belastungen für die Familien enorm. Eine Entlastung spürt Katharina Decken kaum. Sie vermisst die Unterstützung, fühlt sich alleine gelassen. "Auch jetzt noch haben Familien unheimlich zu kämpfen. Sie bekommen keine Medikamente, keinen Platz beim Kinderarzt oder gar im Krankenhaus, weil alles überlastet ist. Aber es interessiert gefühlt keinen", sagt sie. "Während der Pandemie haben Kinder unheimlich zurückgesteckt, jetzt fehlt mir die Solidarität mit den Familien."

Sozialministerium verweist auf Maßnahmen

Das sieht das baden-württembergische Sozialministerium anders. Auf SWR-Anfrage widerspricht die Pressestelle "entschieden", dass zu wenig für Familien im Land getan werde und verweist auf diverse Maßnahmen, wie beispielsweise das Elterngeld oder den Landesfamilienpass.

Auch nehme die Landesregierung ihre Verantwortung bei der Bewältigung der Corona-Folgen sehr ernst. Als Belege werden die "Task Force zur psychischen Situation von Kindern und Jugendlichen in Folge der Corona-Pandemie" mit zahlreichen Maßnahmen oder aber das Unterstützungsprogramm "Lernen mit Rückenwind" aufgeführt. Letzteres wird nach SWR-Recherchen allerdings nur etwa zu 20 Prozent für die Aufarbeitung der sozial-emotionalen Probleme der Kinder genutzt.

Doch gerade die Pandemie hat laut Gudrun Christ, Geschäftsführerin von pro familia BW, nicht nur die strukturellen Probleme von Familien offengelegt. Sie hat sie noch zusätzlich verschärft. "Familien, vor allem aber Kinder, wurden vergessen oder standen so weit hinten in der Prioritätenliste, dass wir die Folgen noch viele Jahre spüren werden. Viele Eltern und besonders Alleinerziehende waren verzweifelt, als Schulen und Betreuungseinrichtungen schlossen", sagt sie.

Existenzängste, Bildunglücken, Gewalt in der Familie

Auch die Geschäftsführerin des Landesfamilienrates Baden-Württemberg, Rosemarie Daumüller, weiß Ähnliches zu berichten. Existenzängste, Bildungslücken oder Rückstände bei der sozialen Entwicklung der Kinder seien in Gesprächen mit Eltern immer wieder genannt worden. Auch habe die Gewalt in der Familie zugenommen, genau wie die psychischen Erkrankungen von Kindern. Die Politik reagiere zwar immer, aber meist erst, wenn es wirkliche Probleme gäbe.

"Die Familien waren komplett auf sich gestellt. Die Risse in den Systemen hat man besonders unter der Belastung wahrnehmen können."

Dem entgegnet Sozialminister Lucha, dass die Pandemie der gesamten Gesellschaft viel abverlangt habe. Daher sei es "wenig sinnvoll, einzelne gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen". Er erkennt aber an: "Kinder, Jugendliche und ihre Eltern haben in der Pandemie sehr viel geleistet und eine enorme Solidarität mit den – körperlich – vulnerableren Gruppen in der Gesellschaft gezeigt, ohne die deutlich mehr Menschen schwer erkrankt und verstorben wären."

Lucha: Familien waren für politischen Entscheidungen wichtig

Dennoch hätten die Belastungen und Sorgen von Familien bei den politischen Entscheidungen von Anfang an auch eine wichtige Rolle gespielt, so Lucha. Solange es nur wenig Wissen, eine begrenzte Schutzausrüstung und keine Impfung gegeben habe, seien die Kontaktbeschränkungen jedoch eine der wenigen Möglichkeiten gewesen, die Pandemie einzudämmen.

"Mit dem Wissen von heute würde man manche Dinge sicher anders entscheiden. Dazu gehört - wie auch Ministerpräsident Kretschmann bereits eingeräumt hat - etwa die Folgen von Schulschließungen bei den Corona-Maßnahmen stärker zu gewichten."

Auch Rosemarie Daumüller vom Landesfamilienrat erkennt an, dass die Politik versucht, Lehren aus der Pandemie zu ziehen. Allerdings reagiere das Land meist nur mit kurzfristigen Maßnahmen. Doch brauche es mehr. "Man muss aus diesen begrenzten Programmen rauskommen zu einer verlässlichen und nachhaltigen Förderstruktur", sagt sie. "Wir brauchen eine krisenfeste Familienpolitik."

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Land will Familienförderstrategie entwickeln

Tatsächlich will das Land laut Sozialministerium noch in der laufenden Legislaturperiode unter Einbindung von Familien und Familienverbänden eine Familienförderstrategie entwickeln. Zudem soll sich die Enquete-Kommission „Krisenfeste Gesellschaft“ im Landtag mit der Frage befassen, wie in künftigen Krisen die Beteiligung aller Bevölkerungskreise gewährleistet werden kann - mit besonderem Augenmerk auf mögliche negative Folgen für Kinder und Jugendliche.

Doch so lange können Familien in Baden-Württemberg laut Katharina Decken eigentlich nicht warten. Sie kann es nicht verstehen, warum ein Land wie Deutschland den aktuellen Medikamentenengpass für Kinder nicht lösen kann - zur Not mit Geld. Das Problem sei schon länger bekannt gewesen, doch es sei nicht gehandelt worden: "Das ärgert mich, dass da gesagt wird: 'Es ist ja nur Ibuprofen oder Paracetamol'."

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Auch das Problem des Fachkräftemangels ist für die Mutter lösbar. Seit Jahren werde darüber geredet, nur gehandelt werde kaum. Man müsse die Berufe attraktiver machen und dazu gehöre auch eine bessere Bezahlung, so Decken: "Wenn ich bei Bildung und Erziehung mit dem ganzen Personalmangel draufschaue, wird mir ehrlich gesagt ein bisschen schlecht. Wir laufen auf eine massive Überbelastung zu. Und das sind doch letztlich die Menschen, denen wir unsere Kinder anvertrauen."

Das unterstreicht auch Gudrun Christ von pro familia: "Für 2026 ist der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule beschlossen. Von intensiver Vorbereitung und massiven Investitionen in die Ausbildung von Fachkräften und Lehrkräften ist nichts zu spüren. Unser Schulsystem verschärft eher die soziale Benachteiligung von Kindern." Darüber hinaus nennt sie noch weitere strukturelle Probleme, die aus ihrer Sicht längst angegangen werden müssten: Bezahlbarer Wohnraum für Familien sowie Kinder- und Familienarmut.

Landesfamilienrat: "Es trifft mit voller Wucht die Kinder"

In der Summe kommt Christ daher zum Schluss, dass insbesondere Familien mit geringem Einkommen keine Lobby haben. Doch auch die übrigen Familien würden nicht genügend berücksichtigt. Diese Meinung teilt auch Rosemarie Daumüller vom Landesfamilienrat. "Familien haben immer eine schwierige und schlechte Lobby", sagt sie. Besondes bitter: "Es trifft mit voller Wucht die Kinder."

Auch für Tanja Michael, Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des Saarlandes, ist die Lage eindeutig. Sie forscht selbst zu den Folgen der Pandemie bei Kindern und Jugendlichen und hat die SWR-Befragung "Familien in Krisenzeiten" wissenschaftlich begleitet. Familien in Land und Bund haben für sie "jedenfalls eine zu schlechte Lobby. Das zeigt sich an vielen Stellen und ist besonders zu Tage gekommen in der Pandemie", sagt sie. "Es war aber schon vorher so und noch sehe ich keine Trendwende."

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Mutter fordert: Politik muss näher an die Familien heran

Das beschäftigt auch Katharina Decken. Für sie ist die Frage nach der Lobby von Familien nicht endgültig zu beantworten. Klar ist für die Mutter aber: "Ich habe oft das Gefühl, viele Leute in der Politik haben Ahnung von juristischen oder wirtschaftlichen Themen. Aber die Realität in Schule und Kindergarten, der Alltag von Familien - davon sind sie weit weg."

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