Mit der ersten Zinserhöhung seit elf Jahren reagieren Europas Währungshüter auf die Rekordinflation. Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) kündigte am Donnerstag an, im Juli die Leitzinsen im Euroraum um jeweils 25 Basispunkte anheben zu wollen. Zunächst bleibt der Leitzins aber auf dem Rekordtief von null Prozent, Banken müssen für geparkte Gelder bei der EZB weiterhin 0,5 Prozent Zinsen zahlen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte in Aussicht gestellt, die Negativzinsen bis Ende September zu beenden.
Das Ende der Netto-Anleihkäufe
Zugleich beschloss der EZB-Rat bei seiner auswärtigen Sitzung in Amsterdam, die milliardenschweren Netto-Anleihenkäufe zum 1. Juli einzustellen. Das Ende dieser Käufe hatte die Notenbank in ihrem längerfristigen geldpolitischen Ausblick ("Forward Guidance") zur Voraussetzung für eine Zinserhöhung erklärt.
Die Leitzinserhöhung wirkt sich indirekt aus, erklärt Jutta Kaiser aus der SWR-Wirtschaftsredaktion:
BW-CDU und FDP begrüßen die Wende in der EZB-Zinspolitik
Baden-Württemberg Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) sieht die EZB in der Verantwortung, mit ihrer Geldpolitik die Effekte der steigenden Verbraucherpreise abzumildern. Sie sagte dem SWR am Freitag (10. Juni): "Die jetzt eingeleitete Zinswende war nach dem Urteil der meisten Ökonomen überfällig." Eine stabile Währung sei für Wirtschaft und Gesellschaft wichtig. Ob sich die Auswirkungen der Inflation weiter ausweiteten, hänge "wesentlich von den geldpolitischen Weichenstellungen" - und damit von der EZB - ab.
Auch der Fraktionsvorsitzende der oppositionellen FDP, Hans-Ulrich Rülke, sagte auf SWR-Anfrage, es sei höchste Zeit für die Zinserhöhung aus Frankfurt gewesen.
Hoffmeister-Kraut: Wieder an Leben mit positiven Zinsen gewöhnen
Die Zinserhöhung werde zwar zunächst das Wirtschaftswachstum bremsen, so Wirtschaftsministerin Hoffmeister-Kraut. Mittelfristig werde sie aber Wirtschaft, Produzenten und Verbrauchern guttun.
Erst wenn die inflationäre Welle gebrochen sei, könne man in Baden-Württemberg wieder "auf einen soliden Wachstumskurs einschwenken".
Bayaz: "Geldpolitik alleine bekommt das Problem nicht in den Griff"
Bereits am Donnerstagabend (9. Juni) hatte sich Baden-Württembergs Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) auf Twitter geäußert. Auch er sprach von einer Zinswende, die die EZB einleiten würde. "Ein Anfang und sicherlich nicht der letzte Schritt", schrieb Bayaz. Er mahnte aber gleichzeitig auch an, dass durch die steigenden Rohstoff und Energiepreise nicht die Geldpolitik alleine die Probleme in den Griff bekommen könnten. "Darum sind auch wir in der Politik, vorne weg die Bundesregierung, gefragt, weiter dort gegenzusteuern, wo Hilfe für Bürger und Unternehmen am Nötigsten ist."
Zustimmung, aber auch Kritik von LBBW und IHK
"Nach genau acht Jahren Negativzinspolitik wird der heutige Tag ambivalent in Erinnerung bleiben: Einerseits als Zäsur", erklärte Elmar Völker, Analyst bei der Landesbank Baden-Württemberg, der Nachrichtenagentur Reuters. Denn seit heute sei klar, dass die Zeit negativer Leitzinsen aller Voraussicht nach im September zu Ende gehen würde. "Andererseits hat die EZB eine Gelegenheit verpasst, um mittels eines sofortigen Endes von Anleihekäufen und Negativzinspolitik ein klares Zeichen der Entschlossenheit zu zeigen." Der Hintergrund scheine klar: Die EZB will nicht Auslöser sein für neuerliche massive Finanzmarktturbulenzen. "Die Zurückhaltung könnte sich jedoch später rächen, falls weiter ausufernder Teuerungsdruck in der Folge umso größere Zinssprünge erzwingt", so Völker.
Auch der Chefsvolkswirt der LBBW, Moritz Kraemer, bezeichnete die Ankündigung der EZB auf SWR Anfrage als "zu zurückhaltend." Das sei kein Paket, das dazu geeignet wäre, die sich verselbständigenden Inflationserwartungen wieder einzufangen. Das Risiko ist jetzt, dass sich Inflationserwartungen weiter verfestigen. Als Ergebnis müsste die EZB dann später umso stärker an der Zinsschraube drehen um wieder in die Nähe des Zwei-Prozent-Ziels zu kommen. Das würde das Risiko einer Rezession und steigender Arbeitslosigkeit erhöhen, so Kraemer.
Wolfgang Grenke, Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertages (BWIHK), stimmt dem zu und sagt: "Die Entscheidung geht mit Blick auf die Inflationsrate in die richtige Richtung." Ohne die eingeleitete Zinswende würde der Euro gegenüber dem Dollar noch mehr an Wert verlieren, was beispielsweise importierte Energie weiter verteuern könnte. "Insgesamt steht die EZB vor großen Herausforderungen, denn auf der anderen Seite sehen wir derzeit negative Konjunktursignale", so Grenke weiter.
Die Hauptaufgabe der EZB ist es, dafür zu sorgen, dass die Preise in den Euroländern ungefähr gleich bleiben, erklärt Jutta Kaiser aus der SWR-Wirtschaftsredaktion:
Die Bauzinsen haben sich verdreifacht - und könnten weiter steigen
Bereits seit Jahresbeginn sind die Bauzinsen angestiegen. Angesichts der angekündigten Leitzinserhöhung durch die EZB könnte diese Entwicklung weitergehen. Mirjam Mohr ist Vorständin des großen Münchner Baufinanzierers Interhyp, der auch eine Niederlassung in Stuttgart hat. Sie sieht die Entscheidung aus Frankfurt positiv: "Wir begrüßen dieses klare Signal, denn es schafft Klarheit für den Kapitalmarkt und ist eine Möglichkeit der hohen Inflation, die unseren Wohlstand gefährdet, etwas entgegenzusetzen."
EZB Zinsentscheidung Bauzinsen steigen - was Sie wissen müssen
Die Europäische Zentralbank (EZB) wird den Leitzins in der Eurozone ab Juli anheben. Die Bauzinsen steigen jedoch bereits seit Frühjahr. Wir erklären, warum.
Einen abrupten Anstieg beim Baugeld erwartet Mohr auch bei einer Anhebung des Leitzinses im Sommer nicht. Zwar haben sich die Bauzinsen seit Jahresbeginn von einem auf 2,8 Prozent fast verdreifacht, aber, so die Vorständin des Baufinanzierers mit Sitz und München und Niederlassung in Stuttgart gegenüber dem SWR: "Im Jahresverlauf erwarten wir einen weiteren Anstieg der Zinsen, aber langsamer als im ersten Halbjahr." Dann könnten die Zinsen auf zehnjährige Baudarlehen aus Expertensicht auf zwischen 3 und 3,5 Prozent steigen, erklärt Mohr.
Steigende Energiepreise treiben Inflation hoch
In den vergangenen Wochen hatte der Druck auf Europas Währungshüter deutlich zugenommen, nach Jahren des ultralockeren Kurses umzusteuern und mit Zinsanhebungen die rekordhohe Teuerung einzudämmen. Im Euroraum lagen die Verbraucherpreise im Mai 2022 um 8,1 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonates, in Europas größter Volkswirtschaft Deutschland sprang die jährliche Inflationsrate im Mai vorläufigen Zahlen zufolge mit 7,9 Prozent auf den höchsten Stand seit fast 50 Jahren.
Die EZB strebt für den Währungsraum der 19 Länder mittelfristig stabile Preise bei einer jährlichen Teuerungsrate von zwei Prozent an. Höhere Inflationsraten schmälern die Kaufkraft von Verbraucherinnen und Verbrauchern, weil sie sich für einen Euro dann weniger leisten können. Getrieben wird die Inflation seit Monaten vor allem von steigenden Energiepreisen, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine nochmals kräftig anzogen. Auch Probleme in den Lieferketten sorgen für steigende Preise.
Einlagensatz könnte auf 0,5 Prozent steigen
Volkswirte rechneten vor der EZB-Sitzung vom Donnerstag mit einer Serie von EZB-Zinsschritten nach oben im laufenden Jahr. Bis zum Ende des Jahres könnte der Einlagensatz demnach auf plus 0,5 Prozent steigen und der Hauptrefinanzierungssatz ein Niveau von 0,75 Prozent erreichen. Andere Notenbanken wie die Federal Reserve in den USA oder die Bank of England haben ihre Leitzinsen bereits mehrfach erhöht. Bis höhere Zinsen bei Sparerinnen und Sparern ankommen, dauert es allerdings erfahrungsgemäß eine Weile.
Die Gratwanderung zwischen hoher Teurungsrate und gestiegenen Risiken
Europas Währungshüter hatten lange an der Einschätzung festgehalten, die steigende Inflation sei von Sonderfaktoren getrieben und daher vorübergehend. Nun versucht die EZB eine Gratwanderung zwischen hoher Teuerungsrate und gestiegenen Risiken für die konjunkturelle Erholung aus dem Corona-Tief wegen des Ukraine-Krieges.