Unfallstelle an Gleisen (Foto: SWR)

Taten in Berlin, Hamm, Esslingen, Mannheim

Experten wollen mit Vorurteilen brechen: "Psychisch Kranke sind nicht häufiger gewalttätig"

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AUTOR/IN
Anne Jethon

Innerhalb weniger Tage gab es in Baden-Württemberg, Berlin und Hamm Gewalttaten, von der die Öffentlichkeit betroffen war. Zwei Psychiater erklären, wie es zu solchen Taten kommen kann und warum es nicht die eine Antwort gibt.

In den vergangenen Wochen gab es in Deutschland, darunter auch in Baden-Württemberg gleich mehrere Vorfälle, die für Erschütterung und Anteilnahme gesorgt haben. Die Vorfälle haben aber auch eine Frage aufgeworfen: Welche Rolle spielt die psychische Gesundheit der Täter?

In Esslingen hatte ein Mann ein Kind und seine Betreuerin vor einer Schule mit dem Messer verletzt. In Mannheim hatte ein 36-Jähriger zuerst seinen Vater getötet, danach fuhr er bewusst vier Radfahrer an. Eine Radfahrerin hatte er dadurch tödlich verletzt. In Hamm (Nordrhein-Westfalen) beging ein psychisch Kranker eine Amoktat an einer Hochschule, verletzte mehrere Menschen schwer und tötete eine Dozentin. In Berlin fuhr ein Mann mit seinem Auto in eine Menschenmenge, tötete dabei eine Frau und verletzt 17 Personen. Schnell kommt dabei heraus: Sowohl der Täter in Berlin, als auch der Täter in Hamm leiden an einer paranoiden Schizophrenie. Die Täter aus Mannheim war in psychologischer Behandlung.

Psychiatrie-Direktor: Psychosen oft mit Vorurteilen behaftet

"Es gibt Situationen, in denen eine Psychose dazu führen kann, dass sich jemand gefährlich verhält", weiß Stephan Schieting, medizinischer Direktor des Zentrums für Psychiatrie (zfp) in Emmendingen. Trotzdem sei es der Normalfall, dass Menschen mit so einer Erkrankung nicht straffällig werden. "Das ist mir auch wichtig, dass wir das hier herausstreichen", sagt er im Gespräch mit dem SWR.

Denn die Krankheit sei oft mit Vorurteilen behaftet, viele Betroffene trauten sich nicht, sich psychologische Hilfe zu holen. Dabei wäre die besonders wichtig: Nur mit einer adäquaten Behandlung könne eine Psychose wieder abklingen, betont Schieting.

Ist Corona der Auslöser?

Die Situation in den Psychiatrien in Baden-Württemberg habe sich in den vergangenen Wochen und Monaten nicht verändert. Vor allem während der Corona-Zeit seien Menschen mit Psychosen trotz Lockdowns in die Kliniken gekommen. "Ich denke eher, dass die Pandemie für Kinder und Jugendliche ein großes psychisches Problem darstellt", sagt Schieting.

Auch Psychiater Harald Dressing will Krisen wie die Corona-Pandemie nicht als Grund für die Taten in Baden-Württemberg, Berlin und Hamm verantwortlich machen. Er ist Leiter der forensischen Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. Zwar gebe es im Moment eine Häufung von Krisen und bei den Taten möge sich manches ähneln. "Die Gründe und die Ursachen können aber durchaus verschieden sein", sagt er im Gespräch mit dem SWR.

Dressing: Amoktaten haben einen hohen Nachahmungseffekt

Ist es also Zufall, dass die Taten innerhalb kurzer Zeit aufgetreten sind? "Das ist schon ein sehr typisches Merkmal. Das hat wahrscheinlich damit etwas zu tun, dass solche Taten einen hohen Nachahmungseffekt haben", sagt Dressing. Aus psychologischen Autopsien mit Amoktätern wisse man, dass diese sich häufig sehr intensiv mit anderen Amoktaten befasst hätten. Ob Gewalttaten in der Öffentlichkeit deshalb wirklich häufiger geschehen, dazu gebe es keine belastbaren Erkenntnisse.

Für Dressing ist klar: "Psychisch Kranke sind in ihrer Gesamtheit nicht häufiger gewalttätig als die Allgemeinbevölkerung." Wie hoch der Anteil der psychisch kranken Menschen bei Amokläufen ist, kann Dressing nur vage beantworten. Denn die Schätzungen zu diesem Thema schwankten stark. "Solche Taten werden zu 30 bis 80 Prozent von psychisch gestörten Menschen verübt." Auch wenn beim ersten Blick manches ähnlich erscheine, ergebe eine differenzierte Analyse häufig sehr "unterschiedliche Beweggründe."

Familienleben mit Psychose – im Austausch mit ihrer Schwester versucht Autorin Anna Stein deren Erkrankung zu begreifen. Im Audio hört man ihre Geschichte:

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Unbehandelte Psychosen stellen Risiko dar

Das Problem: Menschen, die unter einer wahnhaften Psychose leiden und sich nicht behandeln lassen, haben laut Dressing ein vierfach höheres Risiko, Gewalttaten zu begehen - und ein zehnfach höheres Risiko Tötungsdelikte zu begehen. Wenn diese Menschen sich jedoch behandeln ließen, seien sie nicht gefährlicher als die Allgemeinbevölkerung. Auch Menschen, die psychisch gesund seien, begingen schwere Straftaten.

Gerade für Menschen, die psychisch schwer krank sind, sei eine Behandlung sehr wichtig. "Wir haben diese Möglichkeiten zur Zeit auch", sagt er. Würde von den psychisch kranken Menschen eine akute Gefahr für die Öffentlichkeit ausgehen, könne man diese auch zwangsunterbringen - wenn auch in eingeschränkter Form, so Dressing.

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