Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) hält eine Aufarbeitung der Corona-Politik im Bundestag für nötig, um sich in Zukunft noch besser für Pandemien und Krisen zu wappnen. "Ich glaube, man könnte sich an der baden-württembergischen Enquête ein gutes Beispiel nehmen, wie man mit der Frage umgegangen ist", sagte der Grünen-Politiker im SWR-Videopodcast "Zur Sache! intensiv".
Bisher keine Einigung auf Corona-Rückblick im Bundestag
Trotz der Forderung vieler Expertinnen und Experten gibt es auch fünf Jahre nach Ausbruch der Corona-Krise keine Aussicht darauf, dass der Bundestag die Pandemie aufarbeitet. Zuletzt hatte sich die inzwischen zerbrochene Ampel-Koalition im Oktober nicht auf ein Verfahren einigen können. Dagegen hat in BW die Enquête-Kommission "Krisenfeste Gesellschaft" schon Mitte vergangenen Jahren ihren Abschlussbericht vorgelegt und 480 Handlungsempfehlungen für künftige Pandemien abgegeben.
Lucha würde künftig Kinder früher in den Blick nehmen
Lucha verteidigte die deutsche Corona-Politik energisch. "Für die grundsätzlichen Entscheidungen, glaube ich, müssen wir uns wirklich nicht rechtfertigen. Da haben wir die richtige Spur gelegt." Aber: Künftig müsse man in einer solchen Krise sofort in den Blick nehmen, was Schulschließungen für die Psyche von Kindern und Jugendlichen bedeuten.
"Niemand von uns hätte geahnt, dass die jugendlichen Routinen, die im normalen Alltag fürs gesamte persönliche Reifen so wichtig sind, so schnell in eine Disbalance kommen." Dennoch rechtfertigte er die Schließung von Kitas und Schulen. "Infektionsketten unterbrechen sie nur, wenn sie die Mobilität von Menschen und Viren unterbrechen."
Debatte zu Spätfolgen der Corona-Pandemie BW-Gesundheitsminister zu Corona: "Würden heute sofort Sonderstab für Kinder und Jugendliche einrichten"
Wie hat die Corona-Pandemie die Gesellschaft verändert? Fünf Jahre nach dem ersten Covid-19-Fall in Deutschland haben politisch Verantwortliche und Betroffene im SWR auf die Corona-Zeit zurückgeblickt.
Minister macht Maßnahmen-Gegner für Polarisierung verantwortlich
Zudem hätte aus Luchas Sicht die Kommunikation noch besser sein können, um den Gegnern der Corona-Maßnahmen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Er denke immer noch darüber nach: "Können wir es noch plausibler erklären, warum die Maßnahmen richtig waren?" Die Gesellschaft sei polarisiert, "weil es doch Kräfte, die mengenmäßig nicht viele waren, aber stimmenmäßig laut", geschafft hätten, die Integrität der Corona-Politik infrage zu stellen. "Und das hat uns auseinandergetrieben", ist der Grünen-Politiker überzeugt. "Manchmal kommt‘s mir so vor, als muss jetzt Corona für alles, was die Leute vorher schon bewegt hat, sozusagen herhalten als Erklärung, wie schlimm alles ist."
Auch für Impfgegner hat der Gesundheitsminister nur bedingt Verständnis, denn die schnelle Bereitstellung des Impfstoffs sei der "Gamechanger" der Pandemie gewesen. Man habe auf die Impfungen gedrungen, um Corona schnell in den Griff zu bekommen. "Wenn das als Druck empfunden wurde, dann wird man das nicht auflösen können", sagte Lucha. Wenn jemand normale Impfangst habe, nehme man das ernst. Aber die Gegner seien dann mit Verschwörungstheorien gekommen. "Das war auch nicht mehr wissenschaftsbasiert." Lucha fragte: "Wie sollen Sie darauf reagieren?"
Lucha entschuldigt sich anstelle von Spahn bei Älteren
Ein echter Fehler sei zu Beginn der Impfungen passiert. "Wo ich mich wirklich entschuldige, ist bei den älteren Menschen in der ersten Impfphase, die Angst hatten, keinen Impfstoff zu bekommen." Damals habe Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) darauf gedrungen, die Termine über die Telefonnummern 116117 zu organisieren, was dann aber nicht gut funktioniert habe. Das habe "sehr viel Panik und sehr viele Ängste bei älteren Menschen, die ja dann wirklich um ihr Leben fürchteten, ausgelöst".
BW-Gesundheitsminister: Rücktritt kam für ihn nie infrage
In der Pandemie musste Lucha als oberster Corona-Manager viel Kritik einstecken. Die Opposition hielt ihm schleppendes Impftempo, eine verspätete Teststrategie und Kommunikationspannen vor und forderte mehrfach seinen Rücktritt. Doch Lucha verwies immer wieder darauf, dass BW vergleichsweise gut durch die Krise gekommen sei. Doch selbst bei den Grünen hieß es immer wieder, das kleine Sozialministerium sei mit der Riesenaufgabe Corona eigentlich überfordert gewesen. Auf die Frage, ob er mal darüber nachgedacht habe, hinzuschmeißen, sagte Lucha nun: "Kein einziges Mal."
Dazu müsse er eine persönliche Geschichte erzählen: "Ich kam ja unmittelbar aus Haiti." Seine beide adoptierten Kinder seien beide aus dem karibischen Inselstaat. Das brutale Elend in dem bitterarmen Land habe ihn schockiert. Er habe auch das Waisenhaus besucht, in dem einst seine Tochter als Findelkind abgegeben worden war und habe 40 dem Tod geweihte Kleinkinder gesehen. Und dann habe er die Verhältnisse mit denen in Deutschland verglichen. "Es hat mich angetrieben, das zu lösen, weil ich gesagt habe: Es gibt einfach Leute, denen geht es noch viel schlechter wie uns." Deswegen sei es für ihn nicht infrage gekommen, angesichts der Herausforderung zu jammern.
Fünf Jahre nach dem ersten Covid-19-Fall in Deutschland ging der SWR am 27. März in einer 90-minütigen "Zur Sache! Extra"-Sendung der Frage nach, wie die Corona-Pandemie die Gesellschaft verändert hat: