Stapel mit Akten liegen auf einem Schreibtisch. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Stephanie Pilick)

Weniger Bürokratie

Brandbrief an Kretschmann: Kommunen und Wirtschaft in BW fordern Reformen

Stand

Der offene Brief an den BW-Ministerpräsidenten hat den Titel: "In großer Sorge um unser Land". Und er hat es in sich. Darin werden "bürokratische Hürden" und "lähmende Behäbigkeit" angeprangert.

Ein breites Bündnis aus Kommunen und Wirtschaft hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in einem offenen Brief zu einem dringenden Abbau von bürokratischen Hürden und staatlichen Vorgaben aufgefordert.

Städte-, Gemeinde- und Landkreistag sowie die Vertreter der Wirtschaft warnen Kretschmann vor einem "Weiter-so" und empfehlen radikale Schritte. "Bisher gefundene politische Antworten und das Festhalten an Koalitionsvereinbarungen - deren Geschäftsgrundlage eigentlich nicht mehr existiert - hindern Staat und Gesellschaft, die erforderlichen Veränderungen zu erreichen", heißt es in dem Brief, der dem SWR vorliegt.

Brandbrief an Kretschmann für klimagerechte und digitale Transformation

In Zeiten von sich überlagernden Krisen brauche es einen "grundlegenden Reformprozess". Dazu gehöre unter anderem eine klimagerechte und digitale Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Geschrieben haben den Brandbrief die Chefs der kommunalen Spitzenverbände, Handwerk und Industrie sowie Sparkassen- und Genossenschaftsverbände.

Die "Zeitenwende" im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zwinge das Land dazu, neu zu bestimmen, was vorrangig ist und noch finanziert werden kann. "Die Zeit eines ungebremsten Draufsattelns bei Standards, Rechtsansprüchen und staatlichen Leistungszusagen ist vorbei", heißt es in dem Schreiben.

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Kein weiterer Krisengipfel, dafür Zukunftskonvent gefordert

Kommunen und Wirtschaft fordern Kretschmann auf, einen "Zukunftskonvent", also ein Treffen, einzuberufen, "um einen Wandel hin zu einem modernen Zukunftsstaat mit verlässlichen und umsetzbaren Zusagen" anzustoßen. Ziel müsse es dabei sein, rechtliche Rahmenbedingungen zu flexibilisieren, staatliche Standards zu senken und bürokratische Hürden abzubauen. Der geforderte Zukunftskonvent dürfe aber kein weiterer Krisengipfel sein, heißt es in dem Schreiben.

"Bei ehrlicher Betrachtung beschäftigen sich Staat, Wirtschaft und Gesellschaft viel zu oft mit sich selbst."

Die Liste der kritisierten Punkte ist lang. So werden als Beispiele die vielfältigen Anforderungen des Datenschutzes, fehlende Effizienz der Klimaschutzmaßnahmen, überbordende Regelungen beim Bauen, ein kompliziertes Vergaberecht oder die Auflagen für kleine und mittlere Banken genannt. Die Folge seien lähmende Behäbigkeit und ein empfundener Stillstand.

Kretschmann nimmt Kommunen selbst in die Pflicht

Dem SWR ließ Ministerpräsident Kretschmann mitteilen: "Die Landesregierung teilt das Anliegen des Briefes, bürokratische Hemmnisse abzubauen. Wir sehen dieselben Probleme, und wir tun viel, um sie auf Landesebene anzugehen. Das ist mir auch persönlich sehr wichtig, deshalb ist der Bürokratieabbau bei mir ein Dauerthema, das mich jede Woche intensiv beschäftigt."

"Darüber hinaus sind wir immer offen für konkrete Vorschläge, wie wir Verfahren vereinfachen und Bürokratie abbauen können.“

Allerdings richteten sich die Forderungen aus dem Brief nicht nur an das Land, sondern an alle staatlichen Ebenen, an die Kommunen, und insbesondere auch an den Bund und die EU, betonte Kretschmann. Zudem sieht er laut Deutscher Presse-Agentur auch die Kommunen selbst in der Pflicht, Bremsen zu lösen - etwa bei Genehmigungen von Windrädern.

Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) ging in seiner Rede zur Lage der Nation auf die Sorgen von Bürgern und Unternehmen ein:

Man müsse alle staatlichen Ebenen für dieses Projekt gewinnen, sonst würde es nicht im gewünschten Maße vorankommen. "Wie das mit dem notwendigen Tempo und der gebotenen Entschlossenheit gelingen kann, darüber tausche ich mich sehr gerne mit den Initiatoren aus", sagte der Grünen-Politiker am Freitag. An einem Format, das dafür geeignet sei, arbeite die Landesregierung noch. Letztlich könne dieses Thema keine Ebene für sich alleine lösen.

CDU sagt Unterstützung zu

Manuel Hagel, CDU-Fraktionsvorsitzender im Landtag von Baden-Württemberg, begrüßt die Forderung nach einem Zukunftskonvent. Deutschland sei wie vom Wohlstand betäubt gewesen, teilte er als Reaktion auf den Brandbrief am Freitag mit. Das Land brauche ein "Update". Man müsse sich fragen: "Was kann weg? Was muss bleiben?" Die CDU werde tatkräftig mit anpacken. "Wir haben in den letzten Jahren engagierte Debatten um Nachrangiges wie die Einführung eines Veggie Days geführt."

Mehr Vorgaben, höhere Standards und neue Richtlinien - das überfordere nicht nur die Kommunen, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen. "Wir als Politik sind jetzt aufgefordert, kraftvoll zu führen und schnell zu entscheiden", so Manuel Hagel weiter, dessen CDU zusammen mit den Grünen in Baden-Württemberg die Regierung stellt.

SPD und FDP fühlen sich durch Brief bestätigt

SPD-Partei- und Fraktionschef Andreas Stoch sieht sich durch den Brief bestätigt und sprach von einer "völlig unangemessenen Behäbigkeit" der grün-schwarzen Regierung. "Wer jetzt nicht die Hände aus den Taschen kriegt, verspielt wertvolle Zeit und Zukunftschancen für das Land."

Die FDP stieß in das gleiche Horn. Grün-Schwarz zeige "Ermüdung, wo Taten gefragt sind", monierte der Fraktionsvorsitzende Hans-Ulrich Rülke. Sein Kollege Niko Reith sagte, der Brief spreche ihm "aus der Seele".

Von der AfD heißt es, man könne den Forderungen nach Bürokratieabbau und der Erleichterung von Bauvorschriften zwar zustimmen. Ansonsten stecken in dem Brief jedoch "mehr Falsches als Richtiges", sagte Fraktionschef Bernd Gögel. Insbesondere die Forderung nach einem zusätzlichen Gremium sei "einfach Quatsch". Man könne nicht für jedes Problem im Land einen Stuhlkreis bilden.

DGB fordert "kluge Zukunftskonzepte"

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Baden-Württemberg, Kai Burmeister, entgegnete der Forderung eines "Zukunftskonvents", laute Rufe nach Bürokratieabbau und Standardabsenkungen seien in der aktuellen Situation nicht hilfreich. Im Gegenteil, das Land müsse seine Handlungsspielräume jetzt voll ausschöpfen. Beschäftigte und Betriebe bräuchten Sicherheit und eine langfristige Perspektive.

"Als Deutscher Gewerkschaftsbund haben wir dazu konkrete Vorschläge gemacht. Wir werben für den Dreiklang Beschäftigung sichern, Energiewende konsequent vorantreiben und die Menschen entlasten, " äußerte sich Burmeister in einer Mitteilung.

Um die parallelen Krisen zu bewältigen, brauche es kluge Zukunftskonzepte. Für neue Formate sei man offen, überflüssig wäre hingegen das erneute Abspielen der alten Platte vom schlanken Staat, so Burmeister weiter. "Es geht um einen handlungsfähigen Staat, der die industrielle Transformation aktiv begleitet und den Menschen Sicherheit im Wandel vermitteln kann", sagte er.

Schon im April hatte der Präsident des Gemeindetags, Steffen Jäger, neue politische Prioritäten gefordert. Viele Standards müssten auf den Prüfstand gestellt werden. Man müsse die Menschen auch auf Zumutungen einstimmen. Der Chef des Landkreistags, Joachim Walter, hatte zudem Anfang der Woche Kretschmann aufgefordert, schon bald auf höchster Ebene über Entbürokratisierung zu sprechen.

Vertreter von über 35 Landkreisen und 800.00 Betrieben in BW

An dem Brief beteiligte sich neben Jäger und Walter auch Städtetagschef Peter Kurz. Außerdem mit dabei: Christian Erbe, Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags (BWIHK), Rainer Dulger vom Verband Unternehmer Baden-Württemberg, Rainer Reichhold vom Handwerk sowie Peter Schneider, Präsident des Sparkassenverbandes, und Roman Glaser vom Genossenschaftsverband.

Sie verweisen darauf, dass sie die 1.101 Städte und Gemeinden, 35 Landkreise sowie die etwa 800.000 Betriebe, 50 Sparkassen und rund 140 Volksbanken und Raiffeisenbanken vertreten.

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