Krieg in Europa sei eine Zeitenwende so Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) über die Kehrtwende in der deutschen Außenpolitik: Deutschland liefert nicht nur Waffen in die Ukraine, sondern will in diesem Jahr ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr investieren, zudem will die Bundesregierung längerfristig mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. Die Politik steht ungewöhnlich geschlossen hinter dieser Entscheidung.
Mutlangen, die Friedensbewegung - und jetzt?
In Baden-Württemberg sorgte in den 80er-Jahren die Friedensbewegung für internationales Aufsehen. Aktivisten der ersten Stunde sehen sich in der heutigen Situation an damals erinnert. Wolfgang Schlupp-Hauck war mittendrin: "Ich war im Zentrum von Mutlangen und Pressesprecher bei der Prominenten-Blockade, war als Beobachter bei Friedensverhandlungen der UNO und bin ehemaliger Vorsitzender der Friedenswerkstatt Mutlangen."
Von den jüngsten politischen Entscheidungen zeigt sich Schlupp-Hauck wenig überrascht: "Es war klar, dass die Lehren, die man aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen hat - keine Waffenexporte in Kriegesgebiete - sehr wackelig geworden sind. Doch dass man aus dem Ganzen gleich ein Zukunftsprojekt macht, erzürnt mich besonders."
"Waffenlieferungen verlängern Blutvergießen"
Die Ukraine habe gegen die russische Übermacht lediglich die Möglichkeit den Vormarsch zu verlangsamen und vielleicht einen Partisanenkrieg weiterzuführen. "Aber sie hat nicht die Macht, Putin zu vertreiben. Die Waffenlieferungen verstärken die Möglichkeit, sich zu wehren und verlängern damit das Blutvergießen," ist Schlupp-Hauck überzeugt. Außerdem befürchtet er, je größer die Bedrohung für Russland werde, desto größer sei die Gefahr, dass sich der Krieg ausweite.
Der Protest 1983 in Mutlangen (Ostalbkreis) steht heute noch symbolisch für die Friedensbewegung der Achtziger. 150 Prominente, darunter auch der Nobelpreisträger Heinrich Böll, blockierten mit einem Sitzstreik die Zufahrten zum Depot der US Armee, in dem US-Mittelstreckenraketen gelagert wurden. Hunderttausende formten eine Menschenkette von Stuttgart nach Neu-Ulm, um gegen die Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses und damit die Stationierung von Pershing-II-Waffensystemen auf der Mutlanger Heide zu demonstrieren.




Besonders kritisiert Schlupp-Hauck die Grünen. Gründungsmitglieder der Partei haben in den 80er-Jahren mit den Aktivisten in Mutlangen gegen Atomraketen demonstriert. Für ihn markiert die jetzige Politik nach dem Jugoslawienkrieg in den neunziger Jahren den zweiten Wendepunkt, "um Regierungsfähigkeit zu zeigen".
Gerät das Klima aus dem Fokus?
Auch Frieder Fahrbach vom Verein "Friedensregion Bodensee" befürchtet durch Waffenlieferungen in die Ukraine eine bloße Verlängerung des Krieges. Die diplomatischen Bemühungen im Vorfeld kritisiert er als "halbherzig". Durch die nun zu den Waffenlieferungen beschlossene Erhöhung der Bundeswehrmittel befürchtet Fahrbach, dass die Förderung des Klimaschutzes wirtschaftlich in den Hintergrund rückt. "Mal abgesehen davon, dass ein Krieg an sich bereits eine Umweltkatastrophe ist."
Eine gut ausgestattete Armee könne eine wichtige Rolle im Sinne des Katastrophenschutzes übernehmen. "Das sind aber nicht die Mittel, die jetzt sündhaft teuer angeschafft werden. Für den Umwelt- und Katastrophenschutz braucht man grobes Gerät. Die heutige militärische Entwicklung läuft aber immer mehr auf elektronische, hochspezialisierte Geräte hinaus," so Fahrbach.
Wie Fahrbach und Schlupp-Hauck will auch der Theologe und Friedensaktivist Rainer Schmid aus Aalen (Ostalbkreis) nicht als Putin-Versteher gesehen werden. Es bestünde kein Zweifel: "Der Einmarsch in die Ukraine war ein Bruch des Völkerrechts." Die Friedensbewegung habe jedoch jahrelang vor der Eskalation und Aufrüstung gegenüber Russlands gewarnt. In der jetzigen Situation appelliert er an ein Ende der Kämpfe: "Am Ende eines solchen Krieges stehen immer Verhandlungen, ich möchte, dass man sich das spart und gleich an den Verhandlungstisch kommt."
Ein Revival der Friedensbewegung durch neue Demos?
Für den ehemaligen Mutlanger Friedensaktivisten Schlupp-Hauck sind die aktuellen Demonstrationen kein Revival der Friedensbewegung der Achtziger. "Das ist sehr getragen von der Solidarität mit der Ukraine." Eine Friedensbewegung, die geprägt ist vom Glauben an Abrüstung und Gewaltfreiheit, sieht er aktuell nicht. Vielmehr erlebe er eine große Hilflosigkeit, geprägt vom Gefühl, irgendwas müsse man tun - selbst wenn es Waffenlieferungen seien.
"Gandhi sagt, wenn man nur die Wahl zwischen Feigheit und Gewalt hat, rät er zu Gewalt. Aber er sagt auch, es gibt immer einen dritten Weg."
Daher beobachten die Friedensaktivisten mit Sorge, wenn auf heutigen Friedensdemonstrationen Waffen für das Kriegsgebiet gefordert werden. Schlupp-Hauck vermisst in den Medien die Berichterstattung über den zivilen Widerstand, den es sowohl in der Ukraine als auch in Russland durchaus gebe. Bei allem Verständnis für die ukrainische Bevölkerung, die sich mit Gewalt wehrt, wünschen sich die Aktivisten von der Politik ein deeskalierendes Vorgehen.
Kritischer Blick auf Rüstungsfirmen in Baden-Württemberg
Mit Argwohn beobachten sie auch, wie sich der Politikwechsel an der Börse niederschlägt: Grundsätzlich verzeichnen viele Rüstungsunternehmen seit der Entscheidung der Bundesregierung deutliche Kursspünge. Bei der in Baden-Württemberg beheimateten Rüstungsindustrie hält man sich angesichts eines gestiegenen Verteidigungsetats noch bedeckt.
Man stehe bereit, den Bedarf der Bundesregierung zu decken, heißt es von Airbus Defence and Space aus Immenstaad am Bodensee. Das Unternehmen stellt unter anderem Drohnen her, die zu Übungszwecken eingesetzt werden. Das ebenso am Standort Immenstaad angesiedelte Unternehmen Hensoldt teilt mit, man könne die Produktionsrate beispielsweise für leistungsfähige Luftverteidigungsradare rasch erhöhen.
Vorbereitungen für Ostermärsche
Währenddessen laufen im ganzen Land die Vorbereitungen für die traditionellen Ostermärsche. In Bregenz soll am Ostermontag erneut der internationalen Bodensee-Friedensweg stattfinden. Fahrbach von der "Friedensregion Bodensee" erwartet einen starken Zulauf. "Die Menschen merken, für Frieden muss man etwas tun. Ich erwarte eine Verstärkung der Friedensbewegung und hoffe, dass sie anhält." Ob neue Friedensdemonstrationen mit oder ohne den Ruf zu den Waffen auskommen, werden die Aktivisten von damals genau beobachten.
Außenpolitischer Sprecher der SPD verteidigt Pläne
Unterdessen hat der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und frühere Wirtschaftsminister Baden-Württembergs Nils Schmid die geplante militärische Aufrüstung Deutschlands durch die Bundesregierung und Waffenlieferungen an die Ukraine verteidigt. Die Regierung setze auf Dialog und Abschreckung, so Schmid im SWR. Man habe in den vergangen 30 Jahren allerdings die Seite der Abschreckung zu sehr ausgeblendet.
Die geplanten 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bedeuten laut Schmid nicht, dass anderswo gespart werden müsse. Innenpolitische Ziele der Koalition würden davon nicht berührt, da die 100 Milliarden als Sondervermögen durch einen Kredit zustande kämen.
Sehen Sie hier den kompletten Themenkomplex in der SWR-Sendung "Zur Sache! Baden-Württemberg" vom 3. März inklusive dem Interview mit Nils Schmid: