Die Agentur für Arbeit sieht den Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg derzeit als robust an. Um dem trotzdem zunehmenden Fachkräftemangel zu begegnen, schlägt sie verschiedene Maßnahmen vor. Die könnten dazu beitragen, rund 438.000 Vollzeitstellen im Land zu besetzen, heißt es in einem Diskussionspapier. Im Wesentlichen geht es dabei um drei Bereiche:
- 110.000 neue Fachkräfte könnte es geben, wenn die Aus- und Weiterbildung ausgebaut würde. Laut Arbeitsagentur müssten die Angebote passgenauer werden, damit ließen sich auch Abbrüche von Ausbildung oder Studium verringern. Außerdem sollten Betriebe offener für die Ausbildung von älteren Menschen werden und Un- und Angelernte qualifizieren.
- Mit Fachkräften aus dem Ausland könnten bis zu 216.000 Stellen besetzt werden. Allerdings seien die bürokratischen Hürden aktuell noch sehr hoch. Außerdem müssten Sprachkurse im Herkunftsland gefördert und ausländische Abschlüsse schneller anerkannt werden. Baden-Württemberg wirbt bereits in Tunesien oder Indien um Pflegepersonal und ist Mitglied der bundesweiten Initiative "Triple Win" zum selben Thema. Auch die Geflüchteten im Land sieht die Agentur als Potenzial. Viele seien qualifiziert, ihnen fehlten nur Deutschkenntnisse und die Anerkennung ihrer Zeugnisse.
- Viele Frauen arbeiten in Teilzeit oder gar nicht. Unter ihnen sind auch viele Migrantinnen. Wenn sich das ändern würde, gäbe es bis zu 112.000 weitere Vollzeitkräfte. Die Behörde schlägt vor, mehr Menschen im Erziehungsbereich auszubilden und die Beschäftigung von Haushaltshilfen unbürokratischer und bezahlbar zu machen.
In ihrem Positionspapier stellt die Regionaldirektion Baden-Württemberg der Arbeitsagentur fest, der Arbeitsmarkt im Land habe sich nach dem herausfordernden Jahr 2020 im vergangenen Jahr zunehmend erholt, er sei trotz Pandemie und Ukrainekrieg robust. Aber es gebe ein paar Faktoren, die langfristig die guten Zahlen beeinflussen. Dazu gehörten die jetzigen, älter werdenden Fachkräfte aus den geburtenstarken Jahrgängen, die in absehbarer Zeit in Rente gingen, außerdem Trends in der Wirtschaft wie die voranschreitende Digitalisierung, die einige Jobs überflüssig macht, aber auch Potenzial für andere bietet, und der Umbau von Autoindustrie und Bauhandwerk, um den Ausstoß von CO2 zu reduzieren.
So würden zwar bis 2035 etwa 30.000 Stellen im Automobilbereich wegfallen durch die Umstellung auf Elektroantriebe, gleichzeitig könnten aber auch neue entstehen, beispielsweise durch eine inländische Batteriezellenproduktion oder den Aufbau einer Lade-Infrastruktur. Auch der Ausbau der regenerativen Energien und die geänderten Vorgaben im Baubereich (Solardachpflicht, Wärmedämmung et cetera) sorgen für einen steigenden Bedarf an Fachkräften, die nach entsprechenden Schulungen aus anderen Bereichen dorthin wechseln könnten.
In Baden-Württemberg sind momentan noch 35.000 Ausbildungsstellen unbesetzt. Arbeitgeber suchen den Nachwuchs deshalb inzwischen auch auf dem Videoportal TikTok - denn das wird hauptsächlich von jungen Leuten besucht:
Gesundheits- und Bauberufe haben den größten Mangel
Besonders viele Fachkräfte fehlen in bereits seit längerem dafür bekannten Bereichen, insbesondere in Gesundheits- und Bauberufen. Gesucht sind vor allem Alten- und Krankenpfleger und -pflegerinnen, Handwerker und Handwerkerinnen aus dem Aus- und Trockenbau, der Klempnerei, dem Bereich Sanitär/Heizung/Klima und Erzieherinnen und Erzieher. Die würden besonders dringend gebraucht, denn wenn die Kinderbetreuung gesichert sei, seien viele Frauen, die derzeit gar nicht oder in Teilzeit arbeiteten, auch bereit, aufzustocken oder einzusteigen ins Berufsleben. Damit würden sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.
Die Industrie- und Handelskammer Baden-Württemberg hat ausgerechnet, dass der Wirtschaft im Land bis 2035 pro Jahr im Schnitt knapp 400.000 Fachkräfte fehlen werden. Die Zahl der vorhandenen Fachkräfte wird bis dahin demnach um knapp 30 Prozent abnehmen, das entspricht über 1.200.000 Personen. Aktuell fehlen laut IHK 26.000 Akademiker und Akademikerinnen und 64.000 betrieblich weitergebildete Fachleute wie Meister, Techniker und Fachkaufleute. Allein in diesem Jahr wurden über die Arbeitsagentur bisher über 170.000 qualifizierte Mitarbeitende gesucht, etwa ein Fünftel der Stellen war länger als drei Monate ausgeschrieben.
Dazu kommen die Fachkräfte der Zukunft: Lehrstellenbörsen im Internet listen - wenige Tage vor Beginn des neuen Lehrjahres am 1. September - noch rund 20.000 freie Ausbildungsplätze. Der Arbeitsagentur wurden bis Mitte Juli knapp 36.000 freie Lehrstellen im Land gemeldet, das heißt, für knapp die Hälfte aller Lehrstellen werden noch Bewerber gesucht.
Auch Fachkräfteallianz Baden-Württemberg sucht nach Abhilfe
Das Problem der fehlenden Fachkräfte ist keineswegs neu. Deshalb haben sich schon 2011 über 40 Partner zur sogenannten Fachkräfteallianz Baden-Württemberg zusammengeschlossen. Wirtschaftsorganisationen, Gewerkschaften, Ministerien, die Arbeitsagenturen und viele mehr engagieren sich in genau den Bereichen, die die Arbeitsagentur auch jetzt in ihrem Papier hervorhebt: Aus- und Weiterbildung, Qualifizierung von Un- und Angelernten, ältere Azubis, ausländische Fachkräfte, Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt, mehr Frauen in die Wirtschaft.
Die Arbeitsagentur belässt es nach eigenen Angaben aber nicht bei Appellen an Politik und Wirtschaft, sie tut auch selbst einiges. So werden Schülerinnen und Schüler bereits in der neunten Klasse beraten, was ihre Berufswahl angeht. Auch in den Jugendberufsagenturen, auf Ausbildungsmessen und an Hochschulen informieren die Fachleute, denn sie wollen, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihre Ausbildungen auch beenden. Denen, die es nicht im ersten Anlauf geschafft haben, steht die Möglichkeit offen, nachträglich einen Berufsabschluss zu erwerben. Daneben wirbt die Behörde bei Unternehmen dafür, betriebliche Umschulungen zu ermöglichen. Dann könnten Ausbildungsplätze auch mit älteren Azubis besetzt werden - Stichwort "Lebenslanges Lernen".