Ein Turm aus Styropor-Bausteinen, der den ohne Fachkräfte zusammenbrechenden Arbeitsmarkt symbolisieren soll (Foto: dpa Bildfunk, Picture Alliance)

Fachkräftemangel in Baden-Württemberg

Arbeitsagentur BW: Über 400.000 Vollzeitjobs mehr wären möglich

Stand

Die Agentur für Arbeit in Baden-Württemberg schlägt verschiedene Maßnahmen vor, um dem zunehmenden Fachkräftemangel zu begegnen. Damit könnten rund 438.000 Vollzeitstellen besetzt werden.

Die Agentur für Arbeit sieht den Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg derzeit als robust an. Um dem trotzdem zunehmenden Fachkräftemangel zu begegnen, schlägt sie verschiedene Maßnahmen vor. Die könnten dazu beitragen, rund 438.000 Vollzeitstellen im Land zu besetzen, heißt es in einem Diskussionspapier. Im Wesentlichen geht es dabei um drei Bereiche:

  • 110.000 neue Fachkräfte könnte es geben, wenn die Aus- und Weiterbildung ausgebaut würde. Laut Arbeitsagentur müssten die Angebote passgenauer werden, damit ließen sich auch Abbrüche von Ausbildung oder Studium verringern. Außerdem sollten Betriebe offener für die Ausbildung von älteren Menschen werden und Un- und Angelernte qualifizieren.
Ausbildung mit über 50 (Foto: SWR)
Auch mit über 50 kann man noch eine Ausbildung anfangen. (Sujetbild)
  • Mit Fachkräften aus dem Ausland könnten bis zu 216.000 Stellen besetzt werden. Allerdings seien die bürokratischen Hürden aktuell noch sehr hoch. Außerdem müssten Sprachkurse im Herkunftsland gefördert und ausländische Abschlüsse schneller anerkannt werden. Baden-Württemberg wirbt bereits in Tunesien oder Indien um Pflegepersonal und ist Mitglied der bundesweiten Initiative "Triple Win" zum selben Thema. Auch die Geflüchteten im Land sieht die Agentur als Potenzial. Viele seien qualifiziert, ihnen fehlten nur Deutschkenntnisse und die Anerkennung ihrer Zeugnisse.
Pflegerin aus Namibia legt Blutdruckmessgerät bei Patient an (Foto: SWR)
Fachkräfte aus dem Ausland könnten den Pflegenotstand verringern helfen.
  • Viele Frauen arbeiten in Teilzeit oder gar nicht. Unter ihnen sind auch viele Migrantinnen. Wenn sich das ändern würde, gäbe es bis zu 112.000 weitere Vollzeitkräfte. Die Behörde schlägt vor, mehr Menschen im Erziehungsbereich auszubilden und die Beschäftigung von Haushaltshilfen unbürokratischer und bezahlbar zu machen.
Spanische Erzieherin in Schwäbisch Haller Kita (Foto: SWR)
Wenn die Kinderbetreuung geregelt ist, sind Frauen auch bereit, Vollzeit zu arbeiten.

In ihrem Positionspapier stellt die Regionaldirektion Baden-Württemberg der Arbeitsagentur fest, der Arbeitsmarkt im Land habe sich nach dem herausfordernden Jahr 2020 im vergangenen Jahr zunehmend erholt, er sei trotz Pandemie und Ukrainekrieg robust. Aber es gebe ein paar Faktoren, die langfristig die guten Zahlen beeinflussen. Dazu gehörten die jetzigen, älter werdenden Fachkräfte aus den geburtenstarken Jahrgängen, die in absehbarer Zeit in Rente gingen, außerdem Trends in der Wirtschaft wie die voranschreitende Digitalisierung, die einige Jobs überflüssig macht, aber auch Potenzial für andere bietet, und der Umbau von Autoindustrie und Bauhandwerk, um den Ausstoß von CO2 zu reduzieren.

So würden zwar bis 2035 etwa 30.000 Stellen im Automobilbereich wegfallen durch die Umstellung auf Elektroantriebe, gleichzeitig könnten aber auch neue entstehen, beispielsweise durch eine inländische Batteriezellenproduktion oder den Aufbau einer Lade-Infrastruktur. Auch der Ausbau der regenerativen Energien und die geänderten Vorgaben im Baubereich (Solardachpflicht, Wärmedämmung et cetera) sorgen für einen steigenden Bedarf an Fachkräften, die nach entsprechenden Schulungen aus anderen Bereichen dorthin wechseln könnten.

In Baden-Württemberg sind momentan noch 35.000 Ausbildungsstellen unbesetzt. Arbeitgeber suchen den Nachwuchs deshalb inzwischen auch auf dem Videoportal TikTok - denn das wird hauptsächlich von jungen Leuten besucht:

Gesundheits- und Bauberufe haben den größten Mangel

Besonders viele Fachkräfte fehlen in bereits seit längerem dafür bekannten Bereichen, insbesondere in Gesundheits- und Bauberufen. Gesucht sind vor allem Alten- und Krankenpfleger und -pflegerinnen, Handwerker und Handwerkerinnen aus dem Aus- und Trockenbau, der Klempnerei, dem Bereich Sanitär/Heizung/Klima und Erzieherinnen und Erzieher. Die würden besonders dringend gebraucht, denn wenn die Kinderbetreuung gesichert sei, seien viele Frauen, die derzeit gar nicht oder in Teilzeit arbeiteten, auch bereit, aufzustocken oder einzusteigen ins Berufsleben. Damit würden sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen.

Die Industrie- und Handelskammer Baden-Württemberg hat ausgerechnet, dass der Wirtschaft im Land bis 2035 pro Jahr im Schnitt knapp 400.000 Fachkräfte fehlen werden. Die Zahl der vorhandenen Fachkräfte wird bis dahin demnach um knapp 30 Prozent abnehmen, das entspricht über 1.200.000 Personen. Aktuell fehlen laut IHK 26.000 Akademiker und Akademikerinnen und 64.000 betrieblich weitergebildete Fachleute wie Meister, Techniker und Fachkaufleute. Allein in diesem Jahr wurden über die Arbeitsagentur bisher über 170.000 qualifizierte Mitarbeitende gesucht, etwa ein Fünftel der Stellen war länger als drei Monate ausgeschrieben.

Dazu kommen die Fachkräfte der Zukunft: Lehrstellenbörsen im Internet listen - wenige Tage vor Beginn des neuen Lehrjahres am 1. September - noch rund 20.000 freie Ausbildungsplätze. Der Arbeitsagentur wurden bis Mitte Juli knapp 36.000 freie Lehrstellen im Land gemeldet, das heißt, für knapp die Hälfte aller Lehrstellen werden noch Bewerber gesucht.

Auch Fachkräfteallianz Baden-Württemberg sucht nach Abhilfe

Das Problem der fehlenden Fachkräfte ist keineswegs neu. Deshalb haben sich schon 2011 über 40 Partner zur sogenannten Fachkräfteallianz Baden-Württemberg zusammengeschlossen. Wirtschaftsorganisationen, Gewerkschaften, Ministerien, die Arbeitsagenturen und viele mehr engagieren sich in genau den Bereichen, die die Arbeitsagentur auch jetzt in ihrem Papier hervorhebt: Aus- und Weiterbildung, Qualifizierung von Un- und Angelernten, ältere Azubis, ausländische Fachkräfte, Geflüchtete auf dem Arbeitsmarkt, mehr Frauen in die Wirtschaft.

Die Arbeitsagentur belässt es nach eigenen Angaben aber nicht bei Appellen an Politik und Wirtschaft, sie tut auch selbst einiges. So werden Schülerinnen und Schüler bereits in der neunten Klasse beraten, was ihre Berufswahl angeht. Auch in den Jugendberufsagenturen, auf Ausbildungsmessen und an Hochschulen informieren die Fachleute, denn sie wollen, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihre Ausbildungen auch beenden. Denen, die es nicht im ersten Anlauf geschafft haben, steht die Möglichkeit offen, nachträglich einen Berufsabschluss zu erwerben. Daneben wirbt die Behörde bei Unternehmen dafür, betriebliche Umschulungen zu ermöglichen. Dann könnten Ausbildungsplätze auch mit älteren Azubis besetzt werden - Stichwort "Lebenslanges Lernen".

Der Fachkräftemangel ist in vielen Bereichen spürbar:

Baden-Württemberg

Platz- und Fachkräftemangel in Kitas Verband schlägt Alarm: Kita-Personal in BW am Anschlag

In den Kitas in BW fehlt Personal. Das wird sich so schnell nicht ändern, warnt der Verband VBE und fordert: Die Kommunen müssen mehr Geld in die Betreuung investieren.

Guten Morgen Baden-Württemberg SWR1 Baden-Württemberg

Abkommen mit Bundesagentur für Arbeit BW sucht verstärkt Pflegekräfte aus dem Ausland

Der Personalmangel in der Pflege ist hoch. Die Landesregierung will verstärkt Fachkräfte aus dem Ausland wie aus Tunesien oder Indien anwerben und mehr in Sprachkurse investieren.

SWR1 Baden-Württemberg SWR1 Baden-Württemberg

Baden-Württemberg

Viele haben den Job gewechselt Kliniken in BW: OP-Termine verzögern sich durch Personalmangel

Die Krankenhausgesellschaft BW nennt den Fachkräftemangel "bittere Realität". Sie fordert deshalb, Pflegekräfte sollen sich nicht impfen lassen müssen - und kürzer in Quarantäne.

SWR1 Baden-Württemberg SWR1 Baden-Württemberg

Baden-Württemberg

Trotz Rechtsanspruch bis 2030 Studie: Viel zu wenige Fachkräfte für Ganztagsbetreuung in BW-Schulen

In Baden-Württemberg fehlen Fachkräfte für die Ganztagesbetreuung. Laut einer Studie kann bis zum Ende des Jahrzehnts nicht jedem Grundschulkind dieses Angebot gemacht werden.

Guten Morgen Baden-Württemberg SWR1 Baden-Württemberg

Stand
AUTOR/IN
SWR