Nach langem Warten endlich in Sicherheit

Flucht vor den Taliban: Wie vier Afghaninnen nach Deutschland kamen

Stand

Von Autor/in Sophie Rebmann

Etwa 1.000 Menschen pro Monat sollten nach der Machtübernahme der Taliban durch ein Programm nach Deutschland kommen. Vier Frauen haben das nach unsicherem Warten jetzt geschafft.

Mit Blumen und zwei selbstgebastelten Willkommens-Schildern will Qutbuddin Ishanch seine Schwestern im Kreis Tübingen begrüßen. Vier Jahre lang haben sich die Geschwister nicht mehr gesehen. Seine älteste Schwester ist in der Zeit Mutter geworden. Die jüngste sei noch ein Kind gewesen, als er sie zum letzten Mal in Afghanistan sah. "Jetzt ist sie eine erwachsene Frau", sagt Qutbuddin.

Emotionales Wiedersehen

Dann läuft er dem kleinen Minibus hinterher, in dem seine Schwestern aus Karlsruhe angefahren kommen. Dort waren sie zuvor eine Nacht lang untergebracht, ehe sie nun in einem kleinen Ort im Landkreis Tübingen in Unterkunft gebracht werden. An jeder Station wurden die Frauen erneut registriert, ihre Pässe abfotografiert und die Daten aufgenommen. Vor der Unterkunft zieht Qutbuddin die Schiebetür des Busses auf - und die Geschwister fallen sich in die Arme. "Jetzt bin ich sehr glücklich" sagt er und auch seine Schwestern freuen sich sehr.

Lebensgefahr in Afghanistan

Für den Mittdreißiger geht damit ein langer Kampf zu Ende, für die Schwestern Monate des Bangens und der Ungewissheit. Seit der Machtübernahme der Taliban hat Qutbuddin Ishanch dafür gekämpft, sie nach Deutschland zu holen. Die älteste, Sharifa Shukori, war den Taliban als Sozialarbeiterin und Frauenrechtlerin ein Dorn im Auge. Und als Ruwaida Shukori sich weigerte, einen Taliban zu heiraten, verübten diese einen Mordanschlag auf die beiden Schwestern: Mit drei Motorrädern fuhren sie in die Rikscha der beiden Frauen, die den Überfall verletzt überlebten. So erzählt es die Familie und zeigt Fotos der verletzten Schwestern. Danach war aber klar: In Afghanistan sind sie nicht mehr sicher.

Der Afghanistan-Experte Wolfgang Bauer im SWR-Interview über die Lage der Menschen vor Ort und die Aufnahme nach Deutschland:

Wie kommen besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan nach Deutschland?

Sie erfüllen die Kriterien des Bundesaufnahmeprogramms Afghanistan, das im Oktober 2022 gestartet wurde, um besonders gefährdeten Menschen in Deutschland Schutz zu bieten. Damit sind Afghaninnen und Afghanen gemeint, die sich unter anderem durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Bildung oder Wissenschaft besonders engagiert haben und deshalb gefährdet sind. Außerdem Personen, die aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Religion besonders in Gefahr sind. Etwa 1.000 Menschen pro Monat, vor allem Frauen und Mädchen, sollten nach der Machtübernahme der Taliban auf drei Jahre verteilt nach Deutschland kommen. Zivilgesellschaftliche Meldestellen schlugen Personen vor, die Bundesregierung wählte aus. Es folgte eine Sicherheitsüberprüfung, dann erst wurde ein Visum erteilt und die Einreise erlaubt.

Quälendes Warten im Ungewissen

Trotz der Aufnahmezusage aus Deutschland, dauerte es fast ein weiteres Jahr, bis die Schwestern ausreisen konnten. Über Monate bekamen sie keinen Termin für die Sicherheitsüberprüfung. Für das Sicherheitsinterview waren Ruwaida, Sharifa und die anderen Familienmitglieder nach Pakistan gereist, weil es in Afghanistan keine deutsche Botschaft mehr gibt. Zehn Monate lang haben sie in Islamabad auf einen Termin gewartet.

Ruwaida Shukori, eine junge Frau mit dunklen Locken, lächelt in die Kamera.
Ruwaida Shukori ist dankbar dafür, dass sie in Deutschland aufgenommen wurde, spricht schon ein bisschen Deutsch - und will ihr Studium fortsetzen, sobald es geht.

Auch dort waren sie bald nicht mehr sicher: Im Dezember begann die pakistanische Regierung, Afghaninnen und Afghanen aus dem Land abzuschieben. Die Geschwister verließen fortan das Haus nicht mehr. "Sie sind dort genauso gefangen, wie in Afghanistan", sagte Ishanch damals. "Das war eine schlimme Zeit", sagt Ruwaida über die Zeit in Pakistan. Jeden Tag hätten sie in der Angst gelebt, dass die Polizei sie holen und nach Afghanistan abschieben könnte.

Der SWR hatte auch schon damals über die Familie berichtet - anonymisiert, um die Schwestern nicht noch weiter zu gefährden. Qutbuddin Ishanch hielt über das Internet mit den Schwestern Kontakt. Er ist vor zwei Jahren mit Frau und Kindern als Wissenschaftler an die Uni Tübingen gekommen. Auch er ist zunächst nach Pakistan geflohen, hat in Deutschland ein DAAD-Stipendium erhalten. "Als die Taliban an die Macht kamen, habe ich meinen Job als Wissenschaftler verloren, sie haben all meine Träume zerstört, gedroht mich zu töten."

Endlich in Sicherheit und Freiheit

Der Fahrer des Minibusses öffnet den Kofferraum. Gemeinsam ziehen sie ein paar Taschen und Koffer und einen Kinderwagen aus dem Bus. Zwei Koffer pro Person, das ist alles, womit sie in ihr neues Leben starten. Aber darauf kommt es den Schwestern nicht an: Sie seien überglücklich, jetzt in Sicherheit und in Freiheit zu sein, sagt Sharifa Shukori. Und ihre Schwester Ruwaida ergänzt auf Deutsch: "Ich freue mich sehr." Sie sei der Bundesregierung und der Meldestelle dankbar für die Aufnahme, sagt sie auf Dari.

"Ich konnte nicht glauben, dass ich hierherkommen kann und meinen Bruder wirklich treffe. Jetzt ist es Realität und es ist unbeschreiblich."

Drei Personen laufen einen Feldweg entlang
Qutbuddin Ishanch und seine Schwestern sind jetzt wieder vereint. Noch müssen sie sich am neuen Wohnort einleben.

Auch Andreas Linder vom Tübinger Verein "Move On" freut sich. Die Bundesregierung hatte seinen Verein als eine von rund 70 zivilgesellschaftlichen Meldestellen anerkannt. Daher stellte er die Anträge für die Familie und ist erleichtert: "Ich bin sehr glücklich, weil das einer von den Fällen ist, wo wir wirklich sehr lange gearbeitet haben, dass die Menschen ihre Menschenrechte haben. Und ich hoffe, dass wir auch in den weiteren Fällen solche Erfolge haben werden." Er betreut zehn weitere Familien, die mit einer Aufnahmezusage noch auf ihr Visum warten. Sie gehören zu den rund 1.300 Menschen, die bereits eine feste Zusage der Bundesregierung erhalten haben - aber weiterhin auf ein Visum warten.

Aktiv werden nach Monaten des Stillstands

Ruwaida und ihre Schwestern wollen die Chance nutzen, die sie bekommen haben: Nach Monaten des Stillstands endlich aktiv werden, Deutsch lernen, in ihrem neuen Leben ankommen. Ruwaida wünscht sich sehnlichst, ihr Medizinstudium fortsetzen. In Afghanistan musste sie es unterbrechen, als die Taliban an die Macht kam: "Ich konnte es nicht abschließen, aber hier ich möchte weitermachen mein Studieren. Ich möchte Zahnmedizin-Ärztin werden."

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