Sorge wegen Resistenzen

Ärzte in Baden-Württemberg verschreiben immer mehr Antibiotika

Stand
Onlinefassung
Joana Kerschbaum

Die Zahl der Antibiotika-Verordnungen war 2023 außerordentlich hoch. Das zeigt eine Analyse der AOK. Dabei seien viele Rezepte auch Unsinn, sagen Expertinnen und Experten.

Mandel-, Lungen- oder Blasenentzündung, Scharlach oder Blutvergiftung - für Ärztinnen und Ärzte ist das oft ein Fall für Antibiotika. Das Medikament wird verschrieben, um die Infektion wieder loszuwerden. Die "Wunderwaffe" sollte aber nur gezielt und sparsam verwendet werden, um ihre Wirksamkeit zu erhalten. Genau das scheint aber in Baden-Württemberg nicht der Fall zu sein: Nach neuen Zahlen der gesetzlichen Krankenversicherung werden Antibiotika auch bei anderen Diagnosen verschrieben - immer häufiger und oft zu sorglos. Das hat Folgen.

Eine Analyse des Wissenschaftlichen Instituts der AOK zeigt, dass der Einsatz von Antibiotika in Baden-Württemberg 2023 außerordentlich hoch war. Demnach sind bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) 4,1 Millionen Packungen Antibiotika abgerechnet worden, das sind deutlich mehr als in den Vorjahren und sogar mehr als 2019, also der Zeit vor der Pandemie. 2021 waren es laut AOK 2,8 Millionen Abrechnungen, im Jahr 2022 etwa 3,6 Millionen. Die Analyse berücksichtigt nur Antibiotika, die über die gesetzliche Krankenversicherung abgerechnet wurden.

Sorgenfall Reserveantibiotika 

Besonders schwierig ist der hohe Stand an verschriebenen Reserveantibiotika. Sie kommen als letzte Therapieoption bei schweren Infektionen zum Einsatz, also dann, wenn Infektionen durch ansonsten nicht mehr behandelbare multiresistente Bakterien ausgelöst werden. Ziel sollte es sein, Reserveantibiotika möglichst sparsam zu verordnen, um keine weiteren Resistenzen zu fördern.  Deshalb sei es auch "besonders alarmierend", dass in Baden-Württemberg 2023 1,9 Millionen Reserveantibiotika verordnet wurden - ein Höchststand, teilte die AOK mit.

Damit machten Reserveantibiotika in Baden-Württemberg bereits 46,6 Prozent aller Antibiotikaverordnungen aus. Dieser Wert liege deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 43,4 Prozent. "Wenn fast jedes zweite verordnete Antibiotikum ein Reserveantibiotikum ist, kann von Reserve keine Rede mehr sein", kritisiert Arzneimittelexperte Frank Wienands von der AOK Baden-Württemberg. "Ihr Einsatz in diesem Maß erhöht die Gefahr von Resistenzen, was die Behandlung lebensbedrohlicher Infektionen erheblich erschweren kann." 

Reserveantibiotika sollten nur dort verordnet werden, wo nichts anderes helfe, sagte Wienands. Das ist laut AOK der Fall beim Nachweis multiresistenter Erreger oder bei schweren, potenziell tödlich verlaufenden Infektionen, wenn der Erregernachweis nicht abgewartet werden kann.

Antibiotika auch bei Erkältung verschrieben

Eigentlich waren die Verordnungen für die Bakterienbekämpfer deutschlandweit seit 2014 zurückgegangen. Seit 2022 steigt die Zahl wieder. 2023 wurden bei der gesetzlichen Krankenversicherung bundesweit 36,1 Millionen Packungen Antibiotika abgerechnet. Das sind etwa 18 Prozent mehr als 2022, da waren es rund 30,5 Millionen. Wienands sieht bei dem Trend vor allem die Ärztinnen und Ärzte in der Verantwortung: "Oft wird ein Antibiotikum verordnet, ohne zuvor zu testen, ob das verordnete Antibiotikum überhaupt hilft", sagt er der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Teilweise erhielten Patientinnen und Patienten auch bei normalen Erkältungen wieder mehr Antibiotika. Da eine einfache Erkältung mit Symptomen wie Husten, Schnupfen und manchmal leichtem Fieber normalerweise durch Viren verursacht wird und von selbst ausheilt, ist der Einsatz von Antibiotika dabei wenig sinnvoll.

Uniklinik Freiburg: Einsatz des Medikaments oft nicht gezielt genug

Das kritisiert auch die Uniklinik Freiburg. Sie attestiert Krankenhäusern in einer Studie deutliche Mängel bei der Verschreibung von Antibiotika. Für die Studie haben die Forschenden zehn Krankenhäuser in Baden-Württemberg untersucht. Ihr Fazit: Oft werden Antibiotika falsch oder nicht gezielt genug verschrieben. Jeder dritte Patient erhalte im Krankenhaus mindestens ein Antibiotikum.

Dabei würden oft Breitbandantibiotika bevorzugt, obwohl in jedem zweiten Fall ein Mittel mit schmalerem Wirkspektrum möglich gewesen wäre, heißt es in der Studie aus dem Jahr 2021. Die Ergebnisse der Studie wurden im vergangenen November vorgelegt. 

Freiburg

Uniklinik warnt vor Resistenzen Neue Studie aus Freiburg: Antibiotika müssen gezielter eingesetzt werden

In deutschen Krankenhäusern gibt es deutliche Mängel bei der Verschreibung von Antibiotika. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Universitätsklinik Freiburg.

SWR4 am Nachmittag SWR4

Ärzte brauchen mehr Infos über Verordnungsverhalten

Die Kassenärztliche Vereinigung verteidigt hingegen die Medizinerinnen und Mediziner: "Nach unserer Einschätzung gehen unsere Ärztinnen und Ärzte im Großen und Ganzen durchaus verantwortungsvoll mit der Verordnung von Antibiotika und Reserveantibiotika um", sagt Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärzte-Vertretung. Es gebe zudem einen Austausch mit den Praxen. 

Ärzten sei daran gelegen, Informationen über ihr Verordnungsverhalten zu bekommen, um vielleicht nachjustieren und korrigieren zu können.

Schneller neue Resistenzen als neue Antibiotika

Das Problem bleibt aber: Je häufiger Bakterien mit einem bestimmten Antibiotikum in Kontakt kommen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie resistent gegen dieses Antibiotikum werden und das Medikament seine Wirkung verliert.

Nach Angaben des noch amtierenden Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) nimmt die Zahl von solchen Resistenzen schneller zu, als neue Antibiotika entwickelt werden. Das ist ein chronischer Engpass im globalen Gesundheitswesen, denn die Einführung neuer Antibiotika ist relativ teuer. Die Gewinnmargen sind aber eher bescheiden. Deswegen sind viele Pharmakonzerne bei der Entwicklung zurückhaltend. In den vergangenen zehn Jahren waren lediglich 9 von 362 neuen Wirkstoffen auf dem Markt.

Anwendung, Wirkung, Risiken Antibiotika richtig einnehmen: Darauf kommt es an

Antibiotika sollen in der Infektionszeit für schnelle Abhilfe sorgen. Doch eine falsche Einnahme kann gefährliche Folgen haben. Worauf sollte man achten und gibt es Alternativen?

Doc Fischer SWR

Medizin Antibiotikaresistenz: Stehen wir vor einer Krise, wenn Medikamente versagen?

Die Antibiotikaresistenz steigt. Neue Modellberechnungen zeigen: Bis 2050 könnten mehr als 39 Millionen Menschen an resistenten Keimen sterben.

Erkältungszeit Antibiotikaresistenzen: Darum wirken Antibiotika nicht immer

Bei einem Infekt, der nicht viral und trotzdem hartnäckig ist, kann ein Antibiotikum helfen. Aber zu oft sollte man nicht zu ihnen greifen, da sich Resistenzen bilden.

Landesschau Rheinland-Pfalz SWR RP

Stand
Onlinefassung
Joana Kerschbaum

Reportagen, Shorts und Erklärvideos SWR Aktuell nun mit eigenem YouTube-Kanal am Start

Ab sofort ist SWR Aktuell auch bei YouTube mit einem eigenen Kanal zu finden. Damit ist die Nachrichtenmarke des SWR künftig neben Instagram und Facebook auch auf der wichtigsten Nachrichtenplattform präsent. 

Baden-Württemberg

Die wichtigsten News direkt aufs Handy SWR Aktuell Baden-Württemberg ist jetzt auch auf WhatsApp

Der WhatsApp-Kanal von SWR Aktuell bietet die wichtigsten Nachrichten aus Baden-Württemberg, kompakt und abwechslungsreich. So funktioniert er - und so können Sie ihn abonnieren.

Baden-Württemberg

SWR Aktuell - der Morgen in Baden-Württemberg Jetzt abonnieren: Newsletter mit BW-Nachrichten am Morgen!

Sie wollen morgens auf dem neuesten Stand sein? Dann abonnieren Sie "SWR Aktuell - der Morgen in BW". Die News aus Ihrem Bundesland ganz bequem in Ihrem Mailpostfach.