Die Kindheit der Kessler-Zwillinge
1936 erblickten Alice und - eine dreiviertel Stunde später - Ellen im sächsischen Nerchau das Licht der Welt. Eine schöne und unbeschwerte Kindheit hatten sie nicht. Ihre beiden Brüder sind in jungen Jahren verstorben und der tyrannische Vater suchte oft Zuspruch im Alkohol.
Im Rausch verprügelte er die Mutter, wovon seine hübschen eineiigen Zwillinge verschont blieben. Sie waren sein ganzer Stolz. Da er musisch veranlagt war, drillte er die beiden Mädchen von Kindesbeinen an: Schon im Alter von sechs Jahren erhielten sie Ballettunterricht, lernten Akrobatik und mussten Akkordeon spielen.
Das Leben in Westdeutschland
1952 kamen Alice und Ellen nach Düsseldorf. Dort lebte ihr Vater, der zwischenzeitlich die Familie verlassen hatte. Mit Hilfe eines Besuchervisums gelang ihnen so der Weg in den Westen. Die Entscheidung hier zu bleiben, war ihnen nicht leicht gefallen. Die Mutter war nun allein in Sachsen und die Mädchen vermissten sie sehr. Erst viel später folgte sie nach. Da eine Abhängigkeit vom Vater nicht in Frage kam, mussten sie schnell lernen, selbstständig für sich zu sorgen. Im Düsseldorfer "Palladium" fanden sie eine Anstellung als Revuetänzerinnen.
Der schwere Beginn einer Karriere
Schlechte Bezahlung und ein hohes Arbeitspensum kennzeichneten die erste Zeit ihrer tänzerischen Laufbahn. Ihre Leistungen und die große Begabung machten die Runde, so dass das Ausland auf die beiden aufmerksam wurde. Eines Tages saß im Publikum der Besitzer des weltberühmten und eleganten Pariser Kabaretts "Lido", der von ihrer Schönheit und ihrem Charme so begeistert war, dass er sie für sein Theater verpflichtete. Mit ihrer Körpergröße von 1,76 Metern hatten sie das perfekte Maß, um im dortigen Ensemble auftreten zu dürfen.

Die Kessler-Zwillinge in Paris
1954 gingen sie nach Paris und ihre Karriere bei den Bluebell-Girls begann. Bei dieser Tanztruppe mit exzellentem internationalem Ruf zeigten sie fortan allabendlich ihre schönen, langen Beine. Doch anfangs kämpften sie mit Akzeptanzproblemen, denn Deutsche waren nach dem zweiten Weltkrieg nicht gewollt. Mit ihrer Professionalität, Pünktlichkeit und Freundlichkeit konnten sie jedoch überzeugen. Sie tanzten sich an die Spitze und wurden als die "Zwillinge aus Paris" berühmt.

Die Kessler-Zwillinge und ihre prominenten Fans
Ob der Herzog von Windsor, Maria Callas, Sophia Loren oder Burt Lancaster - unter den Zuschauern fand sich alles, was Rang und Namen hatte. Auch Elvis Presley zählte dazu. Als er in Deutschland seinen Militärdienst ableistete, kam er am Wochenende oft nach Paris, um sich die Show im "Lido" anzusehen. Er war von den körperlichen Reizen der Schwestern angetan und lud sie nach einer Vorstellung ein. Allerdings hatte er mit schmachtenden Mädchen und nicht mit taffem Auftreten gerechnet. Elvis zeigte sich bei dem Treffen völlig verunsichert und schüchtern.
"Ein Mann voller Komplexe."
Der Beginn einer Gesangskarriere
Nebenbei nahmen Alice und Ellen Kessler Gesangsunterricht. Aus Deutschland erreichten sie Filmangebote und bald waren sie hierzulande auf der Leinwand zu sehen. Während Dreharbeiten wurde der Plattenproduzent Gerhard Mendelson auf sie aufmerksam und bot ihnen einen Vertrag an. Unter seiner Regie veröffentlichten sie von 1958 bis 1963 regelmäßig Schallplatten. Vor allem die Titel zusammen mit Peter Kraus brachten Umsatz.
Die Kessler-Zwillinge beim Grand Prix d’Eurovision de la Chanson
1959 wurden die Kessler-Zwillinge dazu auserwählt, Deutschland in Cannes beim Grand Prix d’Eurovision de la Chanson zu vertreten. Mit dem swingenden Schlager "Heute Abend wollen wir tanzen geh’n" und ihrer Tanzeinlage konnten sie allerdings nur den 8. Platz erreichen. Der mäßige Erfolg führte dazu, dass der Titel hierzulande erst gar nicht veröffentlicht wurde, sondern seinerzeit nur in Dänemark auf einer EP herauskam. Außer bei uns nahmen sie auch Platten in französischer und italienischer Sprache auf.

Die Kleiderzensur im italienischen Fernsehen
Vor allem in Italien haben die beiden Schwestern gerne und sehr erfolgreich gearbeitet. 1961 waren sie die ersten Showgirls, die dort im Fernsehen Beine zeigen durften. "Anfangs nur in dicken, schwarzen und blickdichten Strümpfen", erinnerten sie sich. So war bei der Generalprobe ein Vertreter des Vatikans anwesend, der manchmal an Dialogen oder am Bühnenoutfit etwas zu bemängeln hatte.
"Wir sind dann für eine halbe Stunde mit dem Bühnenbildner rausgegangen, haben einfach gewartet und nichts geändert. Dann sind wir unverrichteter Dinge ins Studio zurück und plötzlich war alles in bester Ordnung."
Die Kesslers in Übersee
Auch in Übersee wurde den Kessler-Zwillingen viel Anerkennung zuteil. Sie traten in den Shows von unter anderem Ed Sullivan, Perry Como oder Dean Martin auf, waren am Broadway oder in Las Vegas häufig zu Gast. Von Frank Sinatra wurden sie besonders geschätzt. Als er bei einem TV-Auftritt zwischen den beiden stand und gut einen halben Kopf kleiner war, nahm er die Situation mit Humor und sagte schlagfertig, dass er seine Haare auch hätte hochtoupieren sollen.
Vor Jahren erinnerten sie sich im SWR-Interview daran, dass sie vor dem ersten gemeinsamen Auftritt mit ihm wahnsinnig aufgeregt waren. Um das Lampenfieber zu überstehen, half damals nur Valium und ein Schluck Whisky.

Weltruhm und Bodenständigkeit
Jahrzehntelang waren die Terminkalender der Kessler-Zwillinge randvoll. Mit vielen Weltstars sind sie zusammen aufgetreten, hatten im In- und Ausland eigene TV-Shows. Doch trotz all den Erfolgen in der glitzernden Showszene sind die Schwestern bodenständig geblieben.
"Ich habe meine Arbeit so gut es ging ausgeübt."
Die ungleichen Schwestern
Wie im beruflichen als auch im privaten Bereich sind die beiden Schwestern unzertrennlich. Vermutlich brachte sie der jähzornige Vater dazu, dass sie von Anfang an zum Schutz eine so intensive Bindung entwickelten. Dennoch beschreiben sie sich selbst als grundverschiedene Charaktere: Alice ist eher introvertiert und braucht für alles Bedenkzeit. Ellen ist das Gegenteil davon und aktiv, spontan und manchmal auch ungeduldig. Daher ergänzen sich beide perfekt und der Buchtitel ihrer Autobiographie "Eins und eins ist eins" hätte nicht treffender lauten können.

Die Kessler-Zwillinge heute
Für ihre Leistungen wurden sie 1987 mit dem "Bundesverdienstkreuz am Bande" ausgezeichnet und 2006 erhielten sie in ihrem Geburtsort die Ehrenbürgerschaft. Heute leben Alice und Ellen Kessler in einem schönen Doppelhaus mit Garten in Grünwald. Nach wie vor sind sie fit und fröhlich, machen jeden zweiten Tag Gymnastik und genießen es, dass der Trubel mittlerweile nachgelassen hat. So wird auch der Geburtstag ohne viel Aufsehen ganz ruhig verbracht.
"Wir sind mit Disziplin auf die Welt gekommen und mit Disziplin werden wir uns verabschieden."
Besondere Plattencover der Kessler-Zwillinge


