Spielende Kinder in einem Klettergerüst (Foto: Getty Images, Thinkstock -)

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Denken in Bewegung – Wie unser Gehirn die Welt versteht

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Franziska Hochwald
Franziska Hochwald (Foto: SWR, privat)
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)
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Ulrike Barwanietz

Das wichtigste Instrument für Intelligenz und Konzentration wird bislang unterschätzt: unser Körper und seine Fähigkeit, sich im Raum zu bewegen.

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Kindergartenkinder lernen heute Englisch in der Krabbelgruppe, sie machen wissenschaftliche Versuche im Rahmen der sogenannten Einstein-Projekte und sollen wenn möglich schon vor Schulbeginn lesen und schreiben können. Kognitive Trainingsprogramme werden derzeit ganz groß geschrieben in den Förderkonzepten der unter 6-jährigen. Doch das wichtigste Instrument für unsere Intelligenz scheint schlicht und einfach unser Körper zu sein.

Wir lernen über unseren Körper, der sich im Raum bewegt

Kleinkinder erobern sich robbend und krabbelnd die Welt. Diese Art des Lernens über den Körper und über die Räume, die dieser Körper durchmisst, behalten wir das ganze Leben bei. So die Theorie. Mit bildgebenden Verfahren wird das nun untersucht. Hier hat sich gezeigt, dass tatsächlich motorische Hirnareale aktiv sind, wenn man Wörter oder auch Zahlen verarbeitet.

Neuropsychologe Professor Hans-Christoph Nürk hat gemeinsam mit Forschungsteams aus Tübingen und Ludwigsburg eine Reihe von Forschungsprojekten durchgeführt, um heraus zu finden, wie körperliche Konzepte unser abstraktes Denken strukturieren. Dabei haben sich die Wissenschaftler zunächst den Bereich des mathematischen Lernens vorgenommen.

Schließlich streiten sich Pädagogen bis heute, ob das Abzählen von Rechenaufgaben mit den Fingern ein Zeichen von mathematischer Schwäche darstellt, oder ob es als Lernmöglichkeit akzeptabel ist.

Das Wissenschaftlerteam um Nürk hat dazu eine Interventionsstudie unter Kindern gemacht. Die Wissenschaftler interpretieren die Daten so, dass das Abzählen an den Fingern eine wichtige Basis ist für alle einstelligen Ziffern. Kinder, die Zahlen an den Fingern abzählten, schnitten besser oder zumindest gleich wie die Vergleichsgruppe ab, die das nicht durfte.

Begreifen wir Zahlen zuerst mit dem Körper?

Verstehen wir als Erwachsene Zahlen rein abstrakt? Oder ist unser Körper das Medium, mit dem wir Zahlen und Mengen überhaupt erst begreifen können – mit fünf Fingern an jeder Hand, mit Beinen und Füßen, die einen, zwei, viele Schritte machen können? Diese Frage ist wichtig für Lernmethoden und didaktische Modelle. Deshalb wird daran geforscht.

Nur ein bewegliches, mobiles Wesen braucht überhaupt ein Gehirn, so lautet die Theorie des Neurophysiologen Rodolfo Llinás. Er beschreibt in seinem 2002 erschienen Buch "I of the Vortex: From Neurons to Self", dass unser Gehirn im Lauf der Evolution entstanden ist, als sich das Leben in Bewegung setzte.

Rodolfo Llinás erklärt das am Beispiel eines winzigen quallenähnlichen Tieres, der sogenannten Seescheide: Die Larve kommt mit einem einfachen Rückenmark und einem aus 300 Neuronen bestehenden "Gehirn" zur Welt. In den ersten 12 Stunden ihres Lebens muss sie eine Koralle finden, auf der sie sich niederlassen kann. Sobald sie diese Reise erfolgreich beendet hat, isst sie ihr Gehirn einfach auf, denn sie braucht es nicht mehr.

Der Neurophysiologe zieht daraus die Schlussfolgerung: Was wir Denken nennen, ist die evolutionäre Internalisierung von Bewegung.

Bewegung macht klug

Sieht man, wie vielfältig die Wirkungen von täglicher Bewegung auf unser Gehirn sind, müssten unsere Kindergärten und Grundschulen eigentlich intensive Bewegungsorte sein. In einem Modellversuch an einer Grundschule in Karlsruhe wurde von 1993 bis 1997 die tägliche Sportstunde eingeführt, dafür wurden andere Fächer gekürzt.

Der Karlsruher Sportwissenschaftler Prof. Klaus Bös und seine Kollegen konnten erstaunliche Ergebnisse dokumentieren: Die Kinder zeigten deutlich bessere Werte nicht nur im Sozialverhalten, sondern auch in ihrer Leistungsfähigkeit. Überdies kam es zu keinem Leistungsabfall in den gekürzten Fächern.

Kinder bewegen sich viel zu selten

Man sollte meinen, dass diese Ergebnisse einen Boom der Bewegung auslösten. Doch das Gegenteil ist der Fall: Sportwissenschaftler Alexander Woll untersuchte Bewegungsmöglichkeiten für Kinder und zog das Fazit: Das Leben der Kinder war noch nie so bewegungsarm wie heute.

Der Superfaktor Bewegung wird auch in Schulen wichtig

Der Psychiater und Autor John Ratey berichtet in seinem Buch "Superfaktor Bewegung" von einer Schule in Naperville, einem Vorort von Chicago, die ein revolutionär neues Unterrichtskonzept entwickelt hat. Auf freiwilliger Basis können die Kinder dort in der Nullten Stunde, also vor Schulbeginn, ein Fitnesstraining besuchen. Ausgestattet mit einer Pulsuhr trainieren sie dort in ihrem persönlichen Hochleistungsbereich.

Ein kleiner Junge stützt sich während des Fußballspiels mit einem Fuß auf dem Ball ab. (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Bewegung macht klug

Gleich anschließend besuchen sie das Schulfach besuchen, in dem sie die meisten Schwierigkeiten haben. Die Ergebnisse sind erstaunlich. Die Kinder sind nicht nur fitter und weniger übergewichtig, sie bringen auch großartige schulische Leistungen. Die Schule in Naperville kam so in einem weltweiten Vergleich in der Sektion Naturwissenschaften auf Platz 1 vor Singapur, und auch in Mathematik lagen sie international auf Platz 6. Insgesamt war die "bewegte" Schule die beste teilnehmende Us-amerikanische Schule.

Immer mehr Kindern werden Aufmerksamkeitsstörungen attestiert

Die Zahl der Kinder, bei denen ADS oder ADHS diagnostiziert werden, steigt ständig an. Die meisten werden mit Medikamenten behandelt. Doch sind Störungen wirklich angeboren? Oder wirken hier nicht viele andere Faktoren mit, die Konzentration und Aufmerksamkeit erschweren.

Wenn man den Zappelphilipp öfters zappeln lässt, entwickelt er gar kein ADHS

... meint Sportwissenschaftler Woll. Das Problem heute liege im Ab-Erziehen von Bewegung.

Die Kinder sollten sich ja gar nicht bewegen, sollten lieber still sitzen. Zum Bewegungsmangel komme der erhöhte Medienkonsum, der es den Kindern schwer mache, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Bei Computerspielen oder Handyspielen erhielten Kinder ja sofort die Belohnung, es gehe ein Level höher und das relativ stressfrei. Kinder hätten daher oft keine Frustrationstoleranz mehr. Sport sei da ein wichtiges Lernfeld, hier können Kinder eine gesunde Leistungsmotivation aufbauen.

Möglicherweise führt Bewegungsmangel im Kleinkindalter zu Aufmerksamkeitsstörungen

Es gibt die These, dass unter anderem der Bewegungsmangel im Kleinkindalter dazu beiträgt, dass immer mehr Kinder unter Dauerstress stehen und deshalb Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität zeigen.

Interessant wäre daher die Kombination von Bewegung und Wissensvermittlung vor allen Dingen im Kindergarten. Wissenschaftler halten das für einen Aspekt, der dringlich in den nächsten Jahren angegangen werden sollte.

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