USA, Großbritannien, Frankreich: „Bestens vorbereitet“
Welche Länder sind am besten auf eine Pandemie vorbereitet? Ein Forschungskonsortium unter Führung der Johns- Hopkins-Universität erstellt seit Jahren regelmäßig ein Ranking zu dieser Frage – den Global Health Security Index (GHS-Index). Auf den Spitzenplätzen standen dort ausgerechnet die USA, Großbritannien und Frankreich – jene Länder, die in der Corona-Krise besonders viele Opfer zu beklagen haben. Deutschland dagegen galt als nur mittelmäßig auf eine Pandemie vorbereitet – erweist sich heute jedoch als ein Land, das die Krise bisher sehr gut bewältigt hat. Wie konnten die Prognosen so daneben liegen?
Ranking kann vieles nicht erfassen
Zum einen spielen sicher Faktoren eine Rolle, die in einem solchen Ranking kaum zu berücksichtigen sind, zum Beispiel: Wie entschlossen handelt die aktuelle Regierung im konkreten Fall? Dass sowohl Donald Trump in den USA als auch Boris Johnson in Großbritannien die Gefahr anfangs bagatellisierten und so wertvolle Zeit verstreichen ließen, konnte niemand vorher in Prognosen berücksichtigen.
Ebenso wie auch Zufälle eine Rolle spielen: Wo landet das Virus als erstes? Italien hatte das Pech, dass das Virus dort sehr früh ankam und sich dann rasch ausbreitete. Andere europäische Länder wie Deutschland konnten diese Entwicklung als zusätzliche Warnung nehmen. Als die ersten deutschen Fälle gemeldet wurden, war die Bereitschaft für scharfe Maßnahmen umso höher.
Aber auch das kann nicht alles erklären. Großbritannien etwa war ebenso gewarnt, hat aber völlig anders reagiert als Deutschland.

Ein unterschätzter Faktor: Der Wohlfahrtsstaat
Möglicherweise hat sich der GHS-Index bei seinen Prognosen auf die falschen Parameter gestützt oder sie zumindest falsch gewichtet. Die medizinischen Faktoren – also etwa wie gut die Krankenhäuser ausgestattet sind – wurden viel stärker gewichtet als etwa die politisch-gesellschaftlichen Strukturen eines Landes. Dabei spielen die nach Auffassung des Bielefelder Soziologen Michael Huber eine zentrale Rolle.
Dazu gehören wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen: Dass in Deutschland so etwas wie Kurzarbeit vorgesehen und geregelt ist, habe in der Krise sehr geholfen, um schnell wirksame Maßnahmen wie die Kontaktverbote einzuführen.
„Sie können Quarantänemaßnahmen für eine ganze Gesellschaft quasi nicht durchsetzen, wenn Sie nicht auch wohlfahrtsstaatliche Flankierungsmaßnahmen bereitstellen,“ so Michael Huber. In Großbritannien sei das Modell der Kurzarbeit nicht etabliert. Und in den USA haben viele Menschen nicht nur keine Arbeitslosen-, sondern auch keine Krankenversicherung. „Aus dem Nichts entsteht dann sozusagen die Notwendigkeit rauszugehen, trotzdem zu arbeiten. Und das erklärt, weshalb die Lockdown-Maßnahmen in den USA weit weniger erfolgreich sind als beispielsweise in Deutschland.“

Mehr Corona-Gesetze zur Rettung der Wirtschaft als für Lockdown verabschiedet
In der Corona-Pandemie in Deutschland wurden weitaus mehr Gesetze verabschiedet, die die Wirtschaft retten und Menschen vor Arbeitslosigkeit schützen sollten als solche, die für den eigentlich Lockdown notwendig waren. Wegen einer Pandemie das öffentliche Leben einzuschränken, war kein plötzlicher Einfall der Regierung – im Infektionsschutzgesetz sind diese Maßnahmen für einen solchen Fall schon lange vorgesehen.
Aber: Bundesregierung und Kanzlerin waren für den Infektionsschutz in Deutschland bisher kaum zuständig. Das zu ändern war die eigentliche Gesetzesänderung. Am 28. März 2020 nahm der Bundestag die sogenannte „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ in das Infektionsschutzgesetz neu auf und ermächtigte damit den Bundesgesundheitsminister, ohne Zustimmung des Parlaments, zum Beispiel Quarantänemaßnahmen zu verhängen, Arzneimittel zu rationieren oder Pflegepersonal zwangszuverpflichten.
Die Vorzüge des Föderalismus
Vielleicht war das zu diesem Zeitpunkt auch richtig. Doch später bewährte sich das, was auch als „Kleinstaaterei“ oder „Flickenteppich“ verschrien ist: Der Föderalismus – den es in Frankreich oder Großbritannien ebenfalls nicht gibt. Dessen Vorteile zeigen sich vor allem beim Weg aus dem harten Lockdown heraus.
„Sie können in Deutschland relativ leicht von Kurzarbeit wieder zu Normalarbeitszeiten umschalten. Sie können das auch regional organisieren. In England können Sie nicht sagen: Südengland arbeitet, Nordengland muss noch zwei Wochen in Quarantäne bleiben. Denen fehlt gewissermaßen das Instrumentarium, um damit umzugehen“, so der Soziologie Michael Huber. Auch in Frankreich gelte das Prinzip, dass Menschen in den verschiedenen Regionen nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen. „Und mit der Corona-Krise wird das erste Mal jetzt versucht, regionale Differenzen einzuführen. Das ist sozusagen etwas ganz Neues.“
Ein Lob auf die „untere Verwaltungsbehörde“
Der Verfassungsrechtler Oliver Lepsius geht sogar noch einen Schritt weiter. Nicht die Bundesländer, sondern die Landkreise und kreisfreien Städte seien die eigentlich Basis des deutschen Rechtsstaats – auch bei der Eindämmung der Corona-Pandemie.
“Für den Vollzug von Gesetzen ist – das klingt jetzt ganz trocken juristisch – die untere Verwaltungsbehörde zuständig. Die können das eigentlich sehr gut machen – punktuell, lokal mit harten Quarantänemaßnahmen. Und in vielen anderen Ländern gibt es so etwas Schönes wie die „untere Verwaltungsbehörde“ gar nicht. In Europa beneiden uns viele um Föderalismus und eine funktionierende lokale Verwaltung", so Lepsius.
Doch als starker Staat wird die Vielfalt der rund 400 lokalen Kreis- und Stadtverwaltungen in Deutschland kaum wahrgenommen. Ein Fehler, meint Lepsius: “Wenn ich von Verwaltung rede oder von Zuständigkeit rede, sagen, glaube ich, viele: Oh Gott, ist das langweilig. Man erkennt nicht, welche Systemleistung in solchen Fragen steckt. Föderalismus ist gelebt, aber in der politischen Bildung für viele doch eine Black Box. Also Fazit: Müssen wir ändern.“