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Verbrecherjagd im Internet – Wie Reporter Datenspuren auswerten

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Marten Hahn
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Candy Sauer

Recherchekollektive wie Bellingcat oder Forensic Architecture überführen analoge Verbrecher mithilfe digitaler Spuren. Sie entlarven Fake News und bekämpfen staatliche Propaganda auf Social Media.

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Ukraine: Kriegsverbrechen in Butscha schockieren Weltöffentlichkeit

Was die russische Armee in Butscha zurücklässt, schockiert die Weltöffentlichkeit. Bewohner der ukrainischen Kleinstadt und Journalisten berichten: Hier haben vermutlich Kriegsverbrechen stattgefunden.

Als im Netz erste Videos von Augenzeugen auftauchen, läuft Russlands Propagandaapparat schon auf Hochtouren: Keinem einzigen Einwohner sei Gewalt widerfahren. Die Fotos und Videos aus Butscha seien für die westlichen Medien inszeniert worden, heißt es am 3. April 2022 aus dem russischen Außenministerium.

Journalisten der New York Times und der BBC widerlegen die Behauptungen. Von ihren Schreibtischen aus, mithilfe von Videoanalysen und Satellitenbildern, entlarven sie russische Falschinformationen.

OSINT – Open Source Intelligence

Ihre Methode: OSINT – Open Source Intelligence, das Zusammentragen öffentlich im Netz verfügbarer Informationen.

50 Jahre nach dem Watergate-Skandal haben sich die Recherche-Möglichkeiten für Investigativjournalisten radikal verändert. Falsch datierte Videos, auf Youtube kopierte Explosionsklänge, falsche Militärfahrzeuge. Mit OSINT, Open Source Intelligence, lassen sich die Tricks der russischen Desinformationskampagne enttarnen.

Bellingcat analsysiert 2014 den Absturz von MH17 über der Ukraine

Am bekanntesten sind die Rechercheure von Bellingcat. Methodisch und für jeden nachvollziehbar verifizieren sie Angriffe auf Schulen und Kindergärten oder weisen den Einsatz von Streumunition nach.

Es ist vor allem ein Ereignis, das dem Recherchenetzwerk Bellingcat zum Durchbruch verhilft. Ein Ereignis, das zeigt, wie lange sich die Investigativ-Journalisten schon mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigten: seit 2014. Als Malaysia Airlines Flug MH17 im Juli 2014 im Osten der Ukraine abstürzte, war schnell klar: Alle 298 Insassen kamen ums Leben. Und: Das Passagierflugzeug auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur wurde abgeschossen. Wer war für die Attacke verantwortlich? Bellingcat-Gründer Eliot Higgins:

"Wir begannen damit, nach der Herkunft des Raketenwerfers zu suchen. Wir verorteten alle Videos und Fotos mithilfe der Schatten. Bei einigen konnten wir die genaue Zeit berechnen, weil wir die Position der Kamera kannten. Das ergab einen zeitlichen Ablauf. Wir hatten auch Fotos von den Rauchschwaden der Rakete, Satellitenbilder eines verbrannten Feldes, die mit der Richtung des Rauchs übereinstimmten. Es gab Social-Media-Posts von Augenzeugen, die sagten, sie hätten den Start der Rakete gesehen. Andere sahen, wie der Raketenwerfer selbst damals durch die Städte fuhr."

All diese digitalen Puzzleteile fügten Higgins und sein Team zusammen. Innerhalb weniger Monate konnten die Investigativ-Journalisten so die Reise des russischen Buk-Raketensystems nachzeichnen, mit dem MH17 abgeschossen wurde. Der Weg führte von einer russischen Militärbasis bis in die von prorussischen Rebellen kontrollierte Ost-Ukraine. Auch die Befehlskette der involvierten Soldaten legte Bellingcat offen. Die Ergebnisse wurden später vom staatlichen MH17-Ermittlerteam bestätigt. Aber Higgins und sein Team waren nicht nur schneller als die Behörden. Sie hatten das Puzzle auch ohne größeres Budget gelöst. Und ohne je vor Ort gewesen zu sein. Mithilfe von OSINT-Methoden.

Brennende Trümmer einer Boeing 777 der Malaysia Airlines liegen nahe Donezk in der östlichen Ukraine. Das Passagierflugzeug mit der Flugnummer MH17 war am 17. Juli 2014 mit 283 Passagieren und 15 Crewmitgliedern an Bord abgeschossen worden. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa/epa | Alyona Zykina)
Brennende Trümmer einer Boeing 777 der Malaysia Airlines liegen nahe Donezk in der östlichen Ukraine. Das Passagierflugzeug mit der Flugnummer MH17 war am 17. Juli 2014 mit 283 Passagieren und 15 Crewmitgliedern an Bord abgeschossen worden.

Eine der Methoden: Geolocation bzw. Geolokalisierung

Tauchen in den sozialen Medien beispielsweise Bilder zerstörter Wohngebäude auf, überprüft das Bellingcat-Team, ob die Aufnahmen auch wirklich am genannten Ort entstanden sind. Stadtviertel um Stadtviertel, Straßenzug um Straßenzug suchen Johanna Wild und ihre Kollegen nach dem Gebäude, das im Social-Media-Post zu sehen ist. Wild ist Deutsche und gehört zum 15-köpfigen, festen Kern des Bellingcat-Teams.

Flüsse, Seen, Straßenmarkierungen. Alles was man von oben gut erkennen kann, hilft. Geolocation heißt diese Methode. Geolokalisierung. Lange nutzte Bellingcat dafür vor allem kostenfreies Bildmaterial von Google Maps oder Google Earth. Allerdings sind die Aufnahmen manchmal Jahre alt.

"Inzwischen haben wir aber auch ein Abonnement bei einem Anbieter von Satellitenbildern; das ist Planet Labs. Und wir können in Einzelfällen einen Satelliten an einen bestimmten Ort schicken, um da ein Bild zu machen von einem Ort, den wir wirklich in hoher Auflösung und einem bestimmten Datum sehen wollen."

Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus ist fließend

Revolutioniert OSINT den Journalismus? Können die neuen Methoden helfen, Kriegsverbrecher zu Verantwortung zu ziehen?

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Buchkritik Eliot Higgins – Digitale Jäger

Die Privat-Reporter von Bellingcat decken mit öffentlich zugänglichen Internet-Daten Kriegsverbrechen auf. Gründer Eliot Higgins erklärt die Methode seines digitalen Recherchenetzwerks.
Rezension von Marten Hahn.
Quadriga; 1. Aufl. 2021 Edition, 288 Seiten, 18 Euro
ISBN: 978-3869951065

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