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Umgang mit Corona – Aus früheren Pandemien gelernt?

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Gábor Paál
Gábor Paál (Foto: SWR, Oliver Reuther)
Christoph König

Spanische Grippe, Asiatische Grippe, SARS. Historische Tonaufnahmen zeigen, wie die Gesellschaft früher mit solchen Situationen umgegangen ist. Was haben wir daraus gelernt? Christoph König im Gespräch mit Gábor Paál

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Spanische Grippe

Die Spanische Grippe ist bis heute die größte Pandemie der Neuzeit. Weltweit starben rund 50 Millionen Menschen. Deshalb – und weil sie jetzt 100 Jahre zurückliegt – drängen sich Vergleiche auf: Gibt es Parallelen zwischen der heutigen Situation und damals?

Auf den ersten Blick kaum. Vielmehr fallen die Unterschiede auf: 1918 tobte der Erste Weltkrieg. Die Grippe traf somit auf eine Welt, die ohnehin geschwächt war. Sie breitete sich auch anders aus. Anders als ihr Name vermuten lässt, hat sie ihren Ursprung nicht in Spanien, sondern höchstwahrscheinlich in den USA. Soldaten brachten sie nach Europa, wo sie sich mit der Kriegsfront ausbreitete.

Ähnlichkeiten und Unterschiede zur Spanischen Grippe

Die Grippe verlief auch anders: Die Inkubationszeit war deutlicher kürzer als beim neuartigen Coronavirus, und der Grippe fielen vor allem die 20- bis 40-Jährigen zum Opfer. Vor allem aber: Man wusste kaum etwas. Nicht einmal der Erreger war bekannt. Lange vermutete man ein Bakterium als Auslöser der Krankheit. Dass es ein Virus war, entdeckten Mediziner erst Jahre nach der Pandemie. Doch schon damals war bekannt: Die Krankheit ist ansteckend, sie überträgt sich durch Kontakte.

Quarantäne – ein altes Konzept

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Auch das Konzept der Quarantäne war keineswegs neu. Das Wort geht schließlich darauf zurück, dass Venedig während der Pest im 14. Jahrhundert die aus dem Osten ankommenden Handelsschiffe 40 (ital.: quaranta) Tage isolierte. Seitdem wurde es immer wieder eingesetzt, um die Ausbreitung von Epidemien wenn nicht zu verhindern, so doch zu verlangsamen.

Und deshalb lohnt sich der Vergleich mit der Spanischen Grippe doch. Denn heute ist klar: Damals waren die Länder zu zögerlich. "In Mannheim hat man 1918 überlegt, ob man die Kinos und Theater schließen lässt", sagt der Heidelberger Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart in SWR2. "Man hat dann davon abgesehen mit der Begründung: 'Die Leute müssen doch irgendwas haben, um sich zu belustigen. Der Krieg ist schon fürchterlich, und jetzt noch die Grippe, das können wir ihnen nicht auch noch nehmen.'" Auch die Schulen traute man sich nicht zu schließen.

Spanische Grippe 1918: Kranke Soldaten in Kansas (Foto: IMAGO, National Museum Of Health)
Spanische Grippe 1918: Kranke Soldaten in Kansas

Schon 1918: Zwei Optionen, mit der Pandemie umzugehen

Aus dem mutmaßlichen Ursprungsland der Spanischen Grippe, den USA, gibt es einen eindrücklichen Beleg für die Wirksamkeit drastischer Maßnahmen. In Philadelphia fand zum Herbstbeginn noch eine große Militärparade statt. 200.000 Bürger und Armeeangehörige füllten die Straßen und Plätze. Drei Tage später waren die Krankenhäuser in Philadelphia überfüllt, innerhalb einer Woche starben fast 5.000 Menschen.

Anders in St. Louis im US-Bundesstaat Missouri. Zwei Tage nach dem Bekanntwerden der ersten Fälle schloss die Stadt Schulen, Kindergärten und Kirchen. Öffentliche Ansammlungen von mehr als 20 Personen wurden untersagt. Die Ausbreitung wurde dadurch zwar nicht verhindert, aber die Infektionsrate deutlich verlangsamt und die Zahl der Toten im Verhältnis zur Einwohnerzahl um die Hälfte reduziert. Dies ergab eine rückblickende Studie aus dem Jahr 2007 in der Fachzeitschrift PNAS.

Vergleicht man die Entwicklung von Philadelphia und St. Louis, zeigt sich eine sehr große Ähnlichkeit mit den Kurven, die während der Corona-Krise unter dem Schlagwort "Flatten the Curve" bekannte wurden.

Spanische Grippe: St. Louis hat im Gegensatz zu Philadelphia rechtzeitig reagiert (Foto: PNAS/Sattenspiel/Herring)
Spanische Grippe: St. Louis hat im Gegensatz zu Philadelphia rechtzeitig reagiert
SWR (Foto: SWR)
"Flatten the Curve": Ein Ziel der derzeitigen Maßnahmen ist es, die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen, um die Überlastung des Gesundheitssystems zu mindern.

1957/58: Die Asiatische Grippe

Wie wenig aus diesen Beispielen gelernt wurde, zeigte sich in den Jahren 1957/58. Damals grassierte die aus China stammende Asiatische Grippe, die zweitgrößte Pandemie des 20. Jahrhunderts nach der Spanischen Grippe. Sie erreichte im Frühsommer 1957 Deutschland. Im Archiv von Radio Bremen findet sich aus dieser Zeit ein Interview mit dem dortigen Gesundheitsamt. Der ärztliche Leiter erklärt, es sei "keinerlei Grund zur Unruhe" gegeben. "Schon die Bezeichnung 'Asiatische Grippe' halte ich für eine Dramatisierung."

Die Beschwichtigungspolitik rächte sich. Vier Monate später sah die Lage nämlich schon ganz anders aus. Das belegt ein ausführlicher Hintergrundbericht, der damals im Süddeutschen Rundfunk lief, und den das SWR2 Archivradio kürzlich publizierte. Im Oktober 1957 waren die Infektionsraten mittlerweile in die Höhe geschossen, Ärzte und Krankenschwestern mit Hausbesuchen völlig überlastet.

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Händewaschen? Nein: Gurgeln mit Wasserstoffsuperoxid!

Und die Präventionsmaßnahmen? Die Schulen blieben offen, der Unterricht fiel etwa in Heidelberg nur aus, wenn mehr als die Hälfte einer Klasse erkrankt war. Der Radiobericht gab auch Hinweise zur Vorbeugung: Nicht etwa Händewaschen wurde empfohlen, sondern das "Gurgeln mit Wassersuperoxid" sowie das Einnehmen "formalinfreisetzender Tabletten".

Angesichts dieser unzureichenden Maßnahmen hatte auch die Asiatische Grippe leichtes Spiel. Innerhalb eines Jahres starben in Deutschland daran geschätzt 30.000 Menschen. Erstaunlicherweise findet sich aus dieser Zeit in den deutschen Rundfunkarchiven nur eine Handvoll Hörfunkberichte zum Thema. Die reinen Nachrichtensendungen wurden damals allerdings auch kaum archiviert.

Zeitgleich: Einführung der Polio-Schutzimpfung

Immerhin gab es 1957 bei einer anderen Infektionskrankheit einen großen Fortschritt: Im April dieses Jahres begann in Deutschland die Massenschutzimpfung gegen Polio. Es sollte dann aber fast 50 Jahren dauern, bis sie in Europa ausgerottet war.

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Und heute?

Der große Unterschied zu heute ist: Das Virus ist bekannt. Es gibt Pandemiepläne, die jetzt greifen – und an die Besonderheiten des neuen Virus angepasst werden. Es gibt einen Test, wenn er auch nur in begrenztem Umfang zur Verfügung steht. Es gibt die Grundlage für Impfstoffe. Denn seit der SARS-Epidemie 2003 ist klar, dass sich jederzeit ein neues, modifiziertes Virus entwickeln kann. So steht es auch in einer Risikoanalyse der Bundesregierung von 2012.

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Manche Nutzer in den sozialen Medien schließen aus diesem Bericht, die Regierung sei gewarnt gewesen und habe nichts unternommen. Tatsächlich aber folgen die jetzigen Maßnahmen ziemlich genau den Plänen, die seit Jahren in den Schubladen liegen. In der Risikoanalyse lautete die Empfehlung:

Die antiepidemischen Maßnahmen beginnen, nachdem zehn Patienten in Deutschland an der Infektion verstorben sind. Die Anordnung der Maßnahmen geschieht in den Regionen zuerst, in denen sich Fälle ereignen.

Gemessen daran setzten die ersten Maßnahmen sogar früh ein: Denn den zehnten Corona-Todesfall verzeichnete Deutschland am 15. März 2020. Da waren Reisebeschränkungen, Veranstaltungsverbote und Quarantänemaßnahmen längst in Kraft. Es scheint: Inzwischen sind die Lehren aus den früheren Pandemien hierzulande durchaus angekommen.

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