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Überwachtes Leben – Gesichtserkennung und Tracking

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Thomas Kruchem
Thomas Kruchem (Foto: SWR, privat)
Cäcilia Kruchem
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Ulrike Barwanietz / Candy Sauer

Immer mehr Menschen werden automatisch auf den Bildern von Überwachungskameras identifiziert – eine Gefahr für die Freiheitsrechte.

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Gesichtserkennung: elegante Methode der Biometrie

Menschen werden anhand ihrer DNA, Handvenen oder Iris, anhand ihrer Stimme oder ihrer Bewegungsmuster erkannt. Als eleganteste Methode der Biometrie gilt die Gesichtserkennung durch Foto- und Videoanalyse: Sie kommt ohne Berührung aus; die Betroffenen merken gar nicht, dass ihre Gesichter untersucht werden.

Jeder Einsatz von Gesichtserkennung und Biometrie jedoch berührt den Kern unserer Identität und unser Recht auf Anonymität im öffentlichen Raum, erklärt Francesco Ragazzi, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Leiden und Autor einer Studie zum Thema für das Europäische Parlament.

"Security" ist allgegenwärtig in London (Foto: SWR, Thomas Kruchem)
"Security" ist allgegenwärtig in London Thomas Kruchem Bild in Detailansicht öffnen
Am Co-op-Laden in der Grays Inn Road in London überwacht die Kamera auch den öffentlichen Gehweg – vermutlich mit Gesichtserkennung Thomas Kruchem Bild in Detailansicht öffnen
Hinweise auf die Überwachung sind am Ladeneingang von Co-op in der Grays Inn Road in London nur schwer zu identifizieren Thomas Kruchem Bild in Detailansicht öffnen
An den Eingängen des Southern Co-op-Laden vor der St. Paul’s Cathedral sind zwar insgesamt vier Überwachungskameras installiert. Es gibt jedoch keinerlei Aufklärung von Kunden und Passanten. Thomas Kruchem Bild in Detailansicht öffnen

Im öffentlichen Raum muss Anonymität gesichert sein

Auch die Datenschutz-Grundverordnung der EU sagt: Ich selbst entscheide, wer was über mich weiß. Im öffentlichen Raum muss ich mir meiner Anonymität sicher sein können. In diese Rechte eingreifen darf der Staat nur aus einem Grund, der per Gesetz explizit definiert ist. Der Eingriff muss zudem notwendig, angemessen und auf seinen eigentlichen Zweck begrenzt sein.

Nach den Krawallen in Hamburg 2017 griff die Polizei in die Grundrechte unzähliger Bürger ein, als sie Zehntausende Stunden an Videomaterial mit Gesichtserkennungssoftware durchforstete. Mit frappierendem Erfolg – resümiert in der Tagesschau vom 7. Juli 2020 Sandra Levgrün, Sprecherin der Hamburger Polizei, denn aus dem Videomaterial ergaben sich 430 Öffentlichkeitsfahndungen und die Festnahme von 135 Tatverdächtigen.

Gesichterkennung in deutschen Großstädten

Der massive Einsatz von Gesichtserkennung in Hamburg ist bis heute ein Einzelfall in Deutschland. Unter dem Radar der Öffentlichkeit jedoch werde die Technologie intensiv erprobt, monieren Kritiker; und die Logistik für ihren Einsatz werde ausgebaut: Am Berliner Bahnhof Südkreuz, zum Beispiel, testete das Bundesinnenministerium 2017 Massenüberwachung per Gesichtserkennung.

Parallel werden in Großstädten wie Köln und Stuttgart immer neue Überwachungskameras installiert. Um Brennpunkte der Kriminalität zu überwachen, sagen die Behörden. Tatsächlich erfassen etliche Kameras auch Eingänge von Arztpraxen, Anwaltskanzleien, Moscheen und Treffpunkten sexueller Minderheiten.

Unternehmen clearview.ai benutzt Milliarden Fotos ohne Erlaubnis

Nach eigenen Angaben hat das Unternehmen clearview.ai bisher 20 Milliarden Fotos aus dem Internet zusammengerafft, ohne Betroffene zu fragen. Ende 2022 sollen es hundert Milliarden sein. Der Australier Hoan Ton-That hatte das Startup Clearview.ai erst 2017 gegründet. Das Unternehmen füttert seinen Algorithmus der Gesichtserkennung mit Bildern aus dem Internet – aus sozialen Medien wie Facebook und Instagram vor allem.

Clearviews Algorithmus habe eine beeindruckend hohe Trefferquote, bestätigen Experten. Entsprechend groß ist die Nachfrage bei der Polizei: Rund 3.000 Polizeibehörden in den USA nutzen die Clearview-Software; Polizeibehörden in Kanada, Schweden, Neuseeland und Australien nutzten sie zeitweise. Tausende Verdächtige seien bereits identifiziert worden, sagt das Unternehmen – darunter Dutzende Teilnehmer des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar 2021.

Clearview stellt seinen Algorithmus der Ukraine zur Verfügung

Im März 2022 stellte Clearview seinen Algorithmus kostenlos dem Verteidigungsministerium der Ukraine zur Verfügung. Mit der Software sollen die Ukrainer russische Gefallene identifizieren und über deren Profile in sozialen Medien Angehörige informieren, sagt der Clearview-Chef am 18. April 2022 im US-Fernsehsender News Nation.

Die Regierungen von Kanada, Australien, Schweden, Großbritannien und Italien haben derweil Clearviews Selbstbedienung an Bildern im Internet für illegal erklärt. Eine E-Mail des SWR mit der Bitte um ein Interview hat Clearview nicht beantwortet.

Gesichtserkennung in Europa: Gesetze und Kontrollmechanismen notwendig

Insgesamt stünden Europäer der Gesichtserkennung eher positiv gegenüber – wenn sie das Leben erleichtert, meint der in Leiden lehrende Politik-Professor Francesco Ragazzi. Nur in Deutschland seien die Menschen etwas kritischer, sagt Ragazzi. Da hätten viele noch Nazizeit und Stasi im Hinterkopf.

Zudem fordern in Europa über 200 Organisationen der Zivilgesellschaft ein kategorisches Verbot von Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. Und die EU-Institutionen arbeiten zurzeit an einem Gesetz über künstliche Intelligenz, dem ersten weltweit.

Kritiker der Gesichtserkennung befürchten, dass unter massivem Druck auch demokratisch gewählte Regierungen der Versuchung erliegen könnten, alle verfügbaren Machtmittel einzusetzen. Strikte Gesetze zu künstlicher Intelligenz und engmaschige Kontrollmechanismen seien deshalb eine Voraussetzung für unser aller Freiheit.

Gesichtserkennung und Überwachung

Technik Digitale Identität aller Menschen – Fortschritt oder globale Überwachung?

250 Millionen Kinder haben keine Geburtsurkunde, viele Flüchtlinge keine Papiere. Wie wäre es, wenn wir alle per Irisscan beweisen könnten, wer wir sind – weltweit? Pläne dazu gibt es schon.

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ARD Radiofeature Verräterische Daten – Doku über die Gefahren der Biometrie

Biometrische Merkmale identifizieren jeden Menschen zweifelsfrei. Sicherheitsbehörden sammeln und nutzen diese Daten immer stärker. In den falschen Händen sind diese Daten tödlich. Von Rebecca Ciesielski und Maximilian Zierer

SWR2 Feature SWR2

Sicherheit Überwachungstechnik für Diktatoren – Wie die EU den Export bremsen will

Mit Spähsoftware und intelligenter Videoüberwachung kann man Terroranschläge verhindern – aber auch Regimegegner kontrollieren. Der Export dieser Techniken ist kaum geregelt.

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Wissen Überwachungstechnik aus Israel – Hintergrund zur Pegasus-Software der NSO Group

Weltweit sind offenbar Journalisten und Oppositionelle mit einer mächtigen Spionagesoftware ausgespäht worden. Das zeigt eine internationale Recherche, an der auch NDR, WDR, Süddeutsche Zeitung und DIE ZEIT beteiligt waren. Schon vorher berichteten wir in SWR2 Wissen darüber: Israels Cyber-Unternehmen knacken selbst verschlüsselte Handy-Kommunikation. Die Firmen gelten als führend in dieser Technik und verkaufen sie weltweit. Sie hilft, Terroranschläge zu vereiteln – aber auch, Oppositionelle zu überwachen. Von Benjamin Hammer (SWR 2021). Inzwischen ist bekannt, in welchem Ausmaß mit Hilfe der Software Oppositionelle und Journalisten in aller Welt ausgespäht wurden: https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/spaeh-software-pegasus-projekt-101.html

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Technologie Das Internet – Zwischen freier Information und staatlicher Überwachung

Schlagzeilen von autoritären Regimes, die das Internet sperren, gibt es viele. Lässt sich das Internet einfach so abschalten? Und: wie wird der Internetzugang in Deutschland geregelt?

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Sicherheitspolitik Cyberwar – Das Internet als Waffe

Die Staaten rüsten digital auf: Sie sammeln IT-Sicherheitslücken, entwickeln Schadprogramme und gründen militärische Einheiten für den sogenannten Cyberkrieg.

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China

Überwachung Chinas Weg in die IT-Diktatur – Das Punkteregister von Peking

China möchte bis 2020 ein System, das das Verhalten seiner Bürger bewertet. Kritiker warnen vor einem digitalen Überwachungswahn und sehen China auf dem Weg in die IT-Diktatur.

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Digitalisierung Chinas Big-Data-Industrie – Guizhou im Digital-Rausch

Fast alle wichtigen Internet- und Computerkonzerne der Welt investieren viele Milliarden Euro und bauen in der chinesischen Provinz Guizhou Rechenzentren und Büros.

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OSINT – Open Source Intelligence

Investigativ-Journalismus Verbrecherjagd im Internet – Wie Reporter Datenspuren auswerten

Recherchenetzwerke wie Bellingcat decken Kriegsverbrechen und Propaganda auf – nur mithilfe von Online-Daten, Open Source Intelligence. Ist OSINT die Zukunft des Journalismus?

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Stalking

Gesellschaft Cyberstalking – Was tun gegen digitale Gewalt?

Häufig sind Frauen die Opfer von Cyberstalking: Sie werden digital beleidigt und bedroht. Obwohl der Stalking-Paragraf verschärft wurde, ist es schwer, die Täter zu belangen.

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Psychologie Stalking – Wenn aus Liebe Wahn wird

Angst und Isolation sind mögliche Folgen von Stalking. Jedes vierte Stalking-Opfer denkt an Suizid. Schärfere Gesetze sollen die meist männlichen Täter nun stärker abschrecken.

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Volkszählung und Datenschutz

15.12.1983 Das Volkszählungs-Urteil: Bundesverfassungsgericht erklärt "informationelle Selbstbestimmung" zum Grundrecht

15.12.1983 | Im April 1983 hätte es nach langer Zeit wieder mal eine Volkszählung geben sollen, doch das Bundesverfassungsgericht hat das Vorhaben gestoppt, zunächst per einstweiliger Anordnung, dann, im Dezember 1983, auch mit einer ausführlichen Begründung: Eine Volkszählung an sich sei in Ordnung – aber der Staat dürfe auch nicht beliebig Daten sammeln. Das Urteil ist wegweisend, denn erstmals erklärt das Verfassungsgericht die informationelle Selbstbestimmung zu einem Grundrecht. Dies leiten die Richter aus dem zweiten Artikel des Grundgesetzes ab, das die freie Entfaltung der Persönlichkeit garantiert.
Die Volkszählung musste nach der Entscheidung aus Karlsruhe neu organisiert werden und fand dann erst 1987 statt.

15. bis 21.5.1987 Volkszählung 1987: Brandanschläge und „grüne“ Boykottaufrufe

15. bis 21.5.1987 | 1987 fand die Volkszählung endlich statt. Die war eigentlich schon für 1983 geplant worden , wurde aber gestoppt, weil das Bundesverfassungsgericht datenschutzrechtliche Bedenken hatte.
1987 ist die Aufregung schon deutlich abgeebbt. Die breite Bevölkerung trägt die Volkszählung mit, doch die Grünen sind nach wie vor dagegen und rufen zum Boykott auf. Dies hat zur Folge, dass einige Parteitage zunächst nicht genehmigt werden. Gleichzeitig gibt es im Vorfeld der Volkszählung Angriffe auf Volkszähler. Die anderen Parteien sehen die Verantwortung dafür bei der Boykott-Kampagne der Grünen, zum Beispiel, als es am 15. Mai 1987 zu einem Brandanschlag auf das Büro der Volkszählung in Heilbronn kommt.
Eine Woche später, am 21. Mai, diskutiert der Bundestag über den Boykottaufruf der Grünen, über die Sabotageakte in verschiedenen Bundesländern und die Frage, ob es zwischen beidem einen Zusammenhang gibt – ob die Grünen also für die Angriffe auf Volkszähler mitverantwortlich sind.

Digitalisierung: aktuelle Beiträge

Hochschule ChatGPT an der Uni – Wie Text-Bots Studium und Lehre verändern

Künstlich intelligente Text-Bots wie ChatGPT können ganze Hausarbeiten schreiben. Ein paar Stichworte – und schon ist die akademische Leistung erbracht. Viele Unis sind ratlos, wie sie mit ChatGPT umgehen sollen. Dabei hilft der Text-Bot Studierenden nicht nur beim Schummeln. Für manche ist die KI ein hilfreiches Lerntool. Von Kai Rüsberg. (SWR 2023) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/chatgpt-uni | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: @swr2wissen@social.tchncs.de

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Gesundheitswesen Karl Lauterbach stellt neuen Plan für digitale Patientenakte vor

Die elektronische Patientenakte sollte mehr Digitalisierung in das Gesundheitswesen bringen. Doch bisher wird sie kaum genutzt. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach stellte deshalb heute einen Neustart vor – bis 2024 soll die E-Akte verbindlich werden.

SWR2 Impuls SWR2

Diskussion Schmutziges Geschäft – Der Kampf um die Seltenen Erden

Deutschland ist ein rohstoffarmes Land und wir sind nicht nur bei Energie auf andere angewiesen: kritische Metalle und seltene Erden – ohne sie geht moderne Technik nicht. Und wenn wir bei Erdgas eine fatale Bindung an Russland hatten, ist der kritische Partner bei vielen anderen Rohstoffen China. Wie groß ist der Schaden, warum sind wir abhängig und wie kommen wir da weg? Werner Eckert diskutiert mit Prof. Dr. Hubertus Bardt - Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln, Prof. Dr. Dagmar Goll - Materialwissenschaftlerin, Hochschule Aalen, Jakob Kullik - Politologe und Autor, Chemnitz

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