Auf diversen Geldscheinen liegen Medikamente ausgebreitet. (Foto: Getty Images, Thinkstock -)

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Übertherapiert – Wann ist medizinische Behandlung sinnlos?

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Horst Gross
Horst Gross (Foto: SWR, privat)

Im Zweifel für die Therapie. Viele Ärzte verschreiben lieber mehr als zu wenig. Heraus kommt eine Medizin, die oft dem Patienten schadet, aber der Kasse des Krankenhauses nutzt.

„Ich vertraue dem Arzt, dass er mir auf alle Fälle helfen will. Aber ich vertraue dem Arzt nicht dahin gehend, dass er auch Hilfe beenden wird, wenn es notwendig ist, damit der Mensch sterben kann.“ Diese Befürchtung haben viele Menschen. Millionen Deutsche wappnen sich mit Patientenverfügungen gegen eine fragwürdige Medizin am Lebensende.

Lebensverlängerung um jeden Preis?

Medizinische Überversorgung: Das klingt nach einem Luxusproblem. Fehlt es doch weltweit Milliarden Menschen an der Grundversorgung. Aber kann zu viel Medizin überhaupt Probleme machen? Besonders in der Kritik steht die Intensivmedizin. Denn kein anderes Fach hat so weitreichende Möglichkeiten zur Lebensverlängerung. Aber werden diese Chancen immer im Sinn des Patienten eingesetzt?

In den USA wird intensiv zu diesem Thema geforscht. Das CBS-Fernsehmagazin „60 Minutes“ fasste 2010 die Studienergebnisse zusammen: „Rund 20 Prozent aller Amerikaner verbringen ihre letzten Tage auf einer extrem teuren Intensivstation. Diese Form des Sterbens ist unwürdig. Für das letzte Lebensjahr geben die Amerikaner mehr Geld aus, als der US-Regierung für Bildung zur Verfügung steht. 30 Prozent der Krankenhausaufenthalte in dieser Lebensphase scheinen sinnlos zu sein."

Auf den Intensivstationen kommt alles zum Einsatz, was die moderne Medizintechnik zu bieten hat. Aber wie groß ist dabei das Missbrauchspotenzial? Pionierarbeit bei dieser Fragestellung hat die Intensivmedizinerin Thanh Huynh von der Universität von Los Angeles geleistet: „Bei jedem fünften ihrer Intensivpatienten hatten die Ärzte in unserer Studie ernsthafte Zweifel, wie sinnvoll ihre Therapiebemühungen eigentlich sind.“ Und das zu Recht. Der Großteil dieser Patienten verstarb, trotz aller Bemühungen, kurz nach der Verlegung von der Intensivstation.

Nach Meinung von Thanh Huynh müsse unbedingt geklärt werden, warum so eine Form von Medizin überhaupt durchgeführt wird. Doch dieser entscheidenden Frage nähert sich die Fachwelt nur zögerlich. So fehlen bis heute in Deutschland entsprechende Statistiken. Niemand weiß, wie oft in deutschen Kliniken Therapien erfolgen, die der behandelnde Arzt seinen eigenen Angehörigen wohl ersparen würde. Aber wieso konnte es überhaupt so weit kommen?

„Auf einer Intensivstation stirbt heute kaum noch ein Mensch, wenn man nicht eine Entscheidung trifft, dass er sterben darf“, erklärt der Kölner Medizinethiker Dr. Gerald Neitzke. Schuld daran ist für ihn der rasante medizinische Fortschritt. Für ihn stellt sich die Frage: Wenn Ärzte Leben erhalten, Leben retten, Leben verlängern können, ist es dann auch sinnvoll das Leben zu retten und zu verlängern?

Ist es in jedem Fall sinnvoll, Leben zu erhalten?

Doch wer soll festlegen, ob eine Therapie sinnvoll ist? Früher haben sich die Mediziner diese Entscheidung angemaßt. Heute steht die Autonomie des Patienten im Vordergrund. Ärzte sind in erster Linie Experten. Sie kennen die Details der Therapie. Doch sie kennen nicht die individuellen Lebensvorstellungen des Patienten. An diesem Punkt begegnet dem Kölner Ethiker oft eine gewisse Betriebsblindheit: „Wir Ärzte neigen dazu, die technische Sinnhaftigkeit in den Vordergrund zu stellen. Wir müssen uns die Frage gar nicht stellen, ob es aus Sicht eines beispielsweise hochbetagten Menschen überhaupt sinnvoll ist, ihn zu behandeln.“

Ärzte mit Kitteln und Mundschutz während einer Operation (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Heutzutage sind viele intensivmedizinische Eingriffe möglich, um Leben zu erhalten oder zu verlängern.

Von dieser Problematik ist auf dem Kongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, der 2016 in Hamburg stattfand, wenig zu spüren. Ganz im Gegenteil: Hier zeigt die Intensivmedizin, was sie kann. Künstliche Lungen, Dialysemaschinen und Pumpen zur Unterstützung des Herzens: sie gehören mittlerweile zum Standard der modernen Intensivmedizin. Dass schwere Krankheiten zum Organversagen führen, ist heutzutage selbst im hohen Alter kein Todesurteil mehr. Nur, die gleichen Organausfälle kennzeichnen auch den natürlichen Sterbeprozess. Bei betagten Patienten ist deshalb die Grenze zwischen sinnvoller Therapie und unsinniger Verlängerung des Sterbeprozesses oft schwer erkennbar.

Fachmediziner versuchen, sich dem Problem zu stellen

Professor Uwe Janssens, Mitautor eines Positionspapieres zur Problematik der sinnlosen Intensivmedizin, stellt die Frage, wie eine sinnhafte Intensivtherapie zu definieren wäre. Sinnlos sei eine Therapie beispielsweise dann, wenn ein fortgeschrittenes Krebsleiden wichtige Organe befallen hat.  Aber auch, wenn der Patient mit dem, was durch die Behandlung erreicht werden soll, nicht einverstanden ist. Und auch wenn die Behandlung selbst unerträglich wird, muss man die Möglichkeit haben „Nein“ zu sagen. Der Fachverband hat klare Prinzipien definiert, deren Umsetzung in der Praxis leider allzu oft scheitert.

Der Arzt als selbstloser Helfer sei ein Auslaufmodell, meint der Wittener Palliativmediziner Matthias Thöns. In seinem Bestseller „Patient ohne Verfügung - Das Geschäft mit dem Lebensende“ stellt er eine provozierende These auf: Ärzte würden immer mehr zum Anhängsel eines geschäftigen Medizinbusiness degenerieren. Die Interessen des Patienten blieben dabei auf der Strecke. Matthias Thöns wirft einen kritischen Blick auf das Treiben in den Krankenhäusern: „Die Rahmenbedingungen im Krankenhaus sind von der Politik extrem schlecht gestaltet. Gespräche werden überhaupt nicht bezahlt, sondern nur Eingriffe, Operationen und Chemotherapien.“ Das enge Korsett des Fallpauschalen-Systems zwinge die Kliniken dazu, ums wirtschaftliche Überleben zu kämpfen. Da komme die ärztliche Fürsorgepflicht oft ungelegen.

Pflegepersonal im Dauerstress

Medizin ohne erkennbaren Nutzen schadet allen Patienten - schließlich fehlen deshalb Gelder für wirklich wichtige Maßnahmen. Aber auch das Pflegepersonal auf den Intensivstationen ist betroffen. Für ein Viertel des Pflegepersonals auf den Intensivstationen ist diese Art der Medizin zur psychischen Belastung geworden. Alarmierende Berichte über Burn-Out-Fälle häufen sich. Manche verlassen sogar den Beruf.

Eine Krankenschwester hält die Hand einer älteren Frau (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Sterbende sollen besser betreut werden (Symbolbild)

Der Tuttlinger Intensivmediziner Andrej Michalsen hat an einer solchen Studie mitgewirkt, die eindeutig zeigt: Das Gefühl von Sinnlosigkeit ist der entscheidende Stressfaktor im Bereich der Intensivpflege. „Es gibt tatsächlich einen Zusammenhang, zwischen dem erhöhten Burn-Out-Gefühl und der Absicht den Arbeitsplatz zu verlassen. Das ist besonders gravierend, weil wir in Deutschland nicht genügend Pflegekräfte haben“, erklärt Andrej Michalsen. Dabei müsste das alles gar nicht sein. Modellprojekte zeigen, wie sich Frust unter dem Pflegepersonal vermeiden lässt: Ärzte und Intensivpersonal müssten mehr über diese Probleme reden. In der Praxis scheitern derartige Projekte aber an der zu knappen Personaldecke und der fehlenden Zeit.

Schweigen ist oft der bequemere Weg für die Ärzte

Dabei ist der Arzt eigentlich der Garant der Patienteninteressen. Er muss dafür sorgen, dass das Ganze Sinn macht. So steht es auch im Gesetz. Paragraph 1901b Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs sieht vor, dass der behandelnde Arzt zu prüfen hat, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist.

Doch das werde ihm unter den aktuellen Bedingungen unmöglich gemacht, findet der Freiburger Ethiker Professor Giovanni Maio. Zeitaufwendige Gespräche mit Angehörigen und Teamsitzungen sind für die Klinikbetreiber ein Verlustgeschäft. Nicht abrechnungsfähig. Wirtschaftlich gesehen macht es also keinen Sinn, der Medizin einen Sinn zu geben. Die Möglichkeiten der modernen Medizin an die individuellen Bedürfnisse der Patienten anzupassen ist für Maio die eigentliche Kunst. Doch dazu braucht der Arzt den nötigen Freiraum.

Ein Arzt sitzt seiner Patientin gegenüber und macht Notizen. (Foto: Colourbox, Foto: Colourbox.de -)
Um einschätzen zu können, ob eine Therapie sinnvoll ist, müssten sich die Ärzte Zeit für die Fragen und Interessen ihrer Patienten nehmen.

Doch ganz so aussichtslos, wie es auf den ersten Blick erscheint, ist die Lage vielleicht doch nicht. Denn auch mit den Mitteln der Wissenschaft ließe sich sinnlose Medizin, zumindest teilweise, aus der Welt schaffen. Der Göttinger Internist Professor Gerd Hasenfuß ist maßgeblich an der Kampagne „Klug entscheiden“  der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin beteiligt. Er und seine Kollegen schlagen Alarm, weil immer wieder Therapien eingesetzt werden, die wissenschaftlich gesehen wirkungslos sind. Es geht nicht nur um nutzlose Antibiotika bei Erkältung. Auch unsinnige Chemotherapien bei fortgeschrittenen Krebsleiden sind ein Problem.

Das Konzept »Klug entscheiden« hat sich in den USA bewährt. Es könnte ein Teil des Wegs sein, den die Medizin in Deutschland gehen sollte. Auch, um das beschädigte Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wieder herzustellen.

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