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Transidentität bei Kindern – Die schwierige Entscheidung der Geschlechtsangleichung

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Silvia Plahl
Silvia Plahl (Foto: SWR, privat)
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Helena Salamun
Candy Sauer

Immer mehr Kinder identifizieren sich nicht mit ihrem zugewiesenen Geschlecht. Die Folgen einer Geschlechtsangleichung müssen sie mit ihren Eltern und Mediziner*innen wie Psycholog*innen gut ergründen.

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Transidentität ist ein Schicksal, das sich niemand aussuchen kann

Die Zahlen sind in den letzten Jahren gestiegen: Schätzungsweise 1,5 bis 2 Prozent der Kinder und Jugendlichen nehmen das zugewiesene Geschlecht im Widerspruch zu dem wahr, was sie selbst als ihre geschlechtliche Identität empfinden. Auffällig viele Kinder, die als Mädchen geboren wurden, fühlen sich als Jungen.

Die Öffentlichkeit äußert deswegen Bedenken: Verbreiten Medien einen „Transgender-Hype“? Gibt es eine „soziale Ansteckung“?

Fachleute aus Medizin und Psychologie sind jedoch überzeugt: Transident zu sein sucht man sich nicht aus. Man muss diese Kinder und Jugendlichen ernst nehmen, ihnen zuhören und Raum und Zeit geben. Die Entscheidung zu einer Geschlechtsangleichung soll wohlüberlegt sein.

Wie findet man heraus, ob ein Kind transident ist?

Kinder im Kindergartenalter probieren oft verschiedene Geschlechterrollen für sich aus. Solche Vorlieben werden auch als „Gendervarianz“ bezeichnet. 

Diese mögliche Fluidität von Geschlecht im jungen Alter ist etwas anderes als die innere Gewissheit, sich nicht mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zu identifizieren. Wenn die Betroffenen darunter leiden, kann man die klinische Diagnose Geschlechtsdysphorie stellen. 

Spezielle Sprechstunden berichten, dass bis zu drei Viertel der Kinder, die sich in ihrem Körper nicht wohl fühlten, das Verlangen nach einem anderen Geschlecht wieder aufgäben. Die Jugendlichen blieben hingegen meist dabei. Sie sollten sich dann intensiv mit ihrer Geschlechtsidentität auseinandersetzen:

  • Was ist mein inneres Gefühl?
  • Wie verhalte ich mich? Was empfinde ich körperlich?
  • Was wünsche ich mir für die Zukunft?

Auch ein Alltagstest mit dem geänderten Vornamen und der Kleidung des anderen Geschlechts kann helfen.

Welche Möglichkeiten bietet die Medizin für transidente Kinder? 

Alle Kinder und Jugendlichen, die ihre Transgeschlechtlichkeit ansprechen, sollten ein Angebot für eine Beratung und eine weitere therapeutische Begleitung bekommen. Dazu gibt es spezielle Sprechstunden in Berlin, Hamburg, München, Münster und Frankfurt am Main. Neben ausführlichen Gesprächen mit den Kindern und deren Familie wird dort gemeinsam die Entscheidung zu einer Hormonbehandlung getroffen.

Mit etwa elf Jahren beginnt heute bei jungen Menschen die Pubertät. Die Sexualhormone sorgen dafür, dass sich die Geschlechtsmerkmale ausbilden. Bei männlichen Körpern startet der Bartwuchs, die Stimme senkt sich, Penis und Hoden werden größer. Bei weiblichen Körpern wächst die Brust, die Regelblutung setzt ein. Ärzte und Ärztinnen können den Kindern dann Medikamente verschreiben, die die Pubertät unterdrücken.

Hormone und Operationen

"Pubertätsblocker" verschaffen etwas Zeit – die unbedingt genutzt werden muss, um mehr Klarheit zu bekommen. Zwei bis drei Jahre nach dieser "Pubertätspause" wird entschieden, ob Hormone für die Pubertät des Zielgeschlechts gegeben werden – Testosteron für Transmänner und Östrogen für Transfrauen. Studien zeigen: So gut wie alle Jugendlichen, bei denen man mit einer pubertätsblockierenden Therapie beginnt, gehen in die geschlechtsangleichende Hormontherapie. Wichtig ist, davor über Maßnahmen zu sprechen, um die Fruchtbarkeit erhalten – zum Beispiel das Einfrieren von Eizellen oder Sperma (Kryokonservierung).

Operationen wie die Mastektomie, die Entfernung der Brust, sind mit 16 Jahren möglich. Für weitere Schritte wie eine Genital-OP oder das Entfernen der Gebärmutter muss man volljährig sein. 

Die Entscheidung für eine Geschlechtsangleichung ist nicht einfach   

In den Gesprächen mit den Familien, Ärzt*innen, Psycholog*innen und den Jugendlichen selbst geht es vor allem darum, zu klären, ob die jungen Menschen wirklich dauerhaft in einem anderen Geschlecht leben wollen. Für die Diagnose Geschlechtsdysphorie muss man sich sicher sein.

Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf nutzt drei Kriterien: Insistierend, konsistent und persistent – das heißt, dass Kinder und Jugendliche wirklich anhaltend und nachdrücklich darauf bestehen, zum anderen Geschlecht zu gehören. Für die anschließende Therapie-Entscheidung gibt es auch noch ein sogenanntes "Readiness"-Kriterium: Die Jugendlichen brauchen innere Reife, um Veränderungen akzeptieren zu können und sich klar über die möglichen Belastungen der Behandlung zu sein.

Denn es geht um eine wichtige Entscheidung! Die Auswirkungen der gegengeschlechtlichen Hormone sind bleibend: Die tiefere oder höhere Stimme, die männliche oder weibliche Brust. 

Ebenso wenig ist jedoch die schon vorangeschrittene Pubertät umkehrbar. Dies kann dazu führen, dass tatsächlich transidente junge Menschen psychisch erkranken. Solche Probleme sind häufig: Viele hilfesuchende Jugendliche fügen sich Selbstverletzungen zu, haben Depressionen oder Essstörungen.

Wie es nach der Geschlechtsangleichung weitergeht

Aber auch, wenn die körperliche Geschlechtsangleichung problemlos verläuft: Nach dem aufwendigen Vorgehen könnten die Jugendlichen weiter unter den ursprünglichen Problemen und unter geschlechtlichen Zuschreibungen leiden, befürchtet ein Vater. Viele trans und gender diverse Jugendliche erleben zum Beispiel Diskriminierungen in der Schule, in der Familie oder im öffentlichen Raum.

Es gibt nur wenige Untersuchungen darüber, wie es Jugendlichen in Deutschland nach einer Geschlechtsangleichung weiter ergeht. Eine Prognose darüber, ob sich junge transidente Menschen auf Dauer damit wohlfühlen, kann niemand mit Sicherheit geben. 

Sicher ist nur: Jungen Menschen steht es zu, dass Erwachsene sie unterstützen, sie vor gesundheitlichen und seelischen Schäden schützen, sie bei ihrer Identitätsfindung begleiten – und ihnen gleichzeitig ihre eigene Identität zugestehen. Über die persönliche Identität entscheidet die betroffene Person am Ende selbst.

Akzeptanz von Transidentität kommt nur langsam in der Gesellschaft an 

Heutzutage geraten die traditionellen Geschlechtervorstellungen in Bewegung. Transidenten Menschen wird mit immer mehr Aufgeschlossenheit begegnet, aber das ist nicht die alleinige Lösung: Die Gesellschaft müsse zusätzlich insgesamt flexibler mit ihren Rollenvorgaben, Erwartungen und Geschlechtermodellen werden, meint Dr. Alexander Korte, Psychiater am Ludwig-Maximilian-Uniklinikum München.

Auch die politischen Gremien befassen sich derzeit mit Transidentität: Das 40 Jahre alte deutsche Transsexuellengesetz soll durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzt werden, das neu regelt, wie trans*, inter* und nonbinäre Menschen selbstbestimmt den Vornamen und die Geschlechtsangabe amtlich ändern können. Psychiatrische Gutachten sollen hierfür nicht mehr nötig sein. Die aktuell regierende Ampelkoalition wird dazu ab Herbst 2022 das Gesetzgebungsverfahren starten. Ob es dann künftig erlaubt sein soll, dass Jugendliche ab 14 Jahren den Geschlechtseintrag beim Amt ohne Zustimmung ihrer Eltern ändern lassen – gerade dieser Punkt wird politisch und öffentlich heftig diskutiert.

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