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Taiwans schwierige Geschichte – Von der Diktatur zur Demokratie

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Lena Fiedler
Tobias Sauer
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Lorraine Ring
Candy Sauer

Taiwan ist durch seine Halbleiter- und Computerchipproduktion weltweit von wirtschaftlicher Bedeutung. Durch den schwelenden Konflikt mit China ist die Versorgungssicherheit mit IT-Produkten nun aber bedroht. Denn das kommunistische China beansprucht den Inselstaat Taiwan für sich.

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Taiwans Zeit der Diktatur ist bis heute nicht aufgearbeitet

Taiwans Vergangenheit ist komplex und bis heute fehlt die Aufarbeitung der Diktatur unter General Chiang Kai-shek (1887 - 1975). Die Verbrechen seiner Einparteien-Diktatur werden bis heute nur widerwillig diskutiert.

Taiwan – heute eine Vorzeigedemokratie in Asien 

Seit Ende der 1980er hat sich das Land zu einer der fortschrittlichsten Demokratien Asiens entwickelt: Es wird angeführt von einer Präsidentin, ist das erste Land Asiens mit gesetzlich verankerter Ehe für alle und hat eine vorbildliche Gesundheitsversorgung. So erscheint Taiwan wie ein Leuchtturm für demokratische Werte. Doch die junge Demokratie wird bedroht. 

Chinesischen Bürgerkrieg (1927 – 1949): Ursprung des Konflikts mit China

Chiang Kai-shek, chinesischer General und Führer der Kuomintang (KMT), verlor 1949 den Bürgerkrieg gegen die Kommunistische Partei und floh auf die Insel Taiwan. Fast zwei Millionen Menschen kamen mit ihm.

Taiwan als japanische Kolonie (1885 – 1945) 

Zuvor hatte Taiwan 50 Jahre lang unter japanischer Kolonialherrschaft gestanden. Das japanische Kaiserreich sah Taiwan als eine erfolgreiche Modellkolonie, in der die Bevölkerung unter Einsatz von Gewalt zur Annahme der japanischen Sprache und Kultur gezwungen wurde. Nach der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg fiel Taiwan an China. 

Misstrauen zwischen Festlandchinesen und Taiwanern 

"Als Chiang Kai-shek nach Taiwan kam, sah er keine Landsleute, sondern umzuerziehende, japanisierte Taiwaner, die wieder zu Chinesen gemacht werden sollten, und zwar mit Gewalt", so Jhy-Wey Shieh, Taiwans Repräsentant in Deutschland. Schnell wuchs bei den Taiwanern die Unzufriedenheit mit der KMT, unter der die Inflation stieg und die Korruption zunahm. Obwohl das Verhältnis von Festlandchinesen zu Taiwanern 1:3 betrug, waren Festländer Generäle und Taiwaner Untertanen, sagt Shieh. Sprachliche Differenzen – Hochchinesisch bei den Festländern und Japanisch bei den Taiwanern – heizten das Misstrauen zusätzlich an. 

28. Februar 1947: Eine Menschenmenge vor der Taipeh-Niederlassung des Bureau of Monopoly. Ein chinesischer Polizist des Bureaus hatte eine Frau dabei ertappt, wie sie westliche Zigaretten auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Es war der Beginn eines wochenlangen Aufstands, den Taiwans oberster Verwaltungschef mit militärischer Hilfe des Festlands blutig niederschlagen ließ. Die Zahl der taiwanischen Opfer wird auf bis zu 30.000 geschätzt. Das Ereignis ist auch als 228-Massaker bekannt.  (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / CPA Media Co. Ltd | -)
28. Februar 1947: Eine Menschenmenge vor der Taipeh-Niederlassung des Bureau of Monopoly. Ein chinesischer Polizist des Bureaus hatte eine Frau dabei ertappt, wie sie westliche Zigaretten auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Es war der Beginn eines wochenlangen Aufstands, den Taiwans oberster Verwaltungschef mit militärischer Hilfe des Festlands blutig niederschlagen ließ. Die Zahl der taiwanischen Opfer wird auf bis zu 30.000 geschätzt. Das Ereignis ist auch als 228-Massaker bekannt.

Nach dem 228-Massaker 1947 beginnt der "Weiße Terror"

Der Konflikt eskalierte am 28. Februar 1947, als in Taipeh ein chinesischer Polizist eine Frau dabei ertappte, wie sie westliche Zigaretten auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Es war der Beginn eines wochenlangen Aufstands. Taiwans oberster Verwaltungschef ließ ihn mit militärischer Unterstützung vom Festland niederschlagen. Viele tausend Menschen wurden wahllos massakriert. Die offizielle Schätzung beläuft sich auf 10.000 bis 30.000 Tote. 

Mit dem Aufstand begann die jahrzehntelange Phase des "Weißen Terrors". Das Kriegsrecht wurde 1949 verhängt, Oppositionsparteien wurden verboten, es gab keine freien Parlamentswahlen mehr. Und der Notstand ermöglichte die massenhaften Festnahmen und Hinrichtungen von tatsächlichen oder vermeintlichen Oppositionellen. Schätzungsweise 140.000 Menschen wurden inhaftiert. 

Dangwai-Bewegung: Wie die Demokratie die Diktatur ablöste 

Einen wichtigen Grundstein für das Ende des "Weißen Terrors" legte die Dangwai-Bewegung – "Dangwai" bedeutet so viel wie "außerhalb der Partei". Schon in den 1970ern und 1980ern war die Bewegung im Untergrund aktiv. 1986 gründeten Mitglieder der Dangwai im Untergrund die Fortschrittspartei, kurz DPP. Chiang Ching-kuo (1910 - 1988), der Sohn und autoritäre Nachfolger Chiang Kai-sheks, beugte sich ein Jahr später dem gesellschaftlichen Druck und ließ nach 38 Jahren das Kriegsrecht aufheben. 

Chiang Kai-shek (rechts) und sein Sohn Chiang Chin-kuo (links) in Chengdu, der letzten Kuomintang-kontrollierten Stadt in Festland-China, am 10. Dezember 1949. Sie wurden noch am selben Tag per Flugzeug nach Taiwan evakuiert.  (Foto: IMAGO, IMAGO / UIG)
Chiang Kai-shek (rechts) und sein Sohn Chiang Chin-kuo (links) in Chengdu, der letzten Kuomintang-kontrollierten Stadt in Festland-China, am 10. Dezember 1949. Sie wurden noch am selben Tag per Flugzeug nach Taiwan evakuiert.

"Im März 1990 saß ich mit 6.000 Studenten eine Woche lang in der Chiang-Kai-shek-Gedächtnishalle, weil der Präsident Lee Teng-hui vom alten Kongress zum neuen Führer gewählt werden sollte. Vom Kongress, nicht vom taiwanesischen Volk", erinnert sich Fan Yun, Abgeordnete für die DPP im taiwanischen Parlament. Mit der Besetzung der Gedächtnishalle konnte die Studentenbewegung eine Demokratisierung des Wahlsystems erwirken – Es war das erste Mal in der Geschichte Taiwans, dass eine Studentenbewegung erfolgreich war. 

Ursachen mangelnder Aufarbeitung 

Unter der Herrschaft Chiang Ching-kuos formierte sich zunehmend Widerstand. Doch das Protestieren war gefährlich. Das Misstrauen gegenüber Nachbarn und Kolleginnen auf der Arbeit und die Angst vor Verhaftungen und Repressionen brachte viele Menschen dazu, sich auf die reine wirtschaftliche Existenzsicherung zu konzentrieren, so beschreibt es Professor Jia-He Lin, Verfassungsrechtler an der National Chenghi Universität. Diese Ängste wirken bis heute nach und erklären zum Teil, warum die Aufarbeitung in Taiwan so kompliziert ist. 

Ein weiterer Grund ist, dass die KMT auch nach Aufhebung des Kriegsrechts weitere 14 Jahre regierte. "Mit der Demokratisierung beginnt nicht die Vergangenheitsbewältigung von Taiwan", sagt deshalb Jia-He Lin. Wer auf den "Weißen Terror" zu Sprechen komme, positioniere sich automatisch gegen die Partei, so der Vorwurf. Das mangelnde Interesse an dem Thema liegt Lins Meinung nach daran, dass Aufarbeitung in Taiwan politisch ist: "Nur etwa 20 bis 30 Prozent der Leute in Taiwan haben Interesse an Vergangenheitsbewältigung". 

Taiwanische Aktivisten werfen am 20. Juli 2018 rote Farbballons auf die Statue Chiang Kai-sheks. Sie zeigen damit Solidarität mit Unterstützern der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung, die den Sarg des ehemaligen Diktators zum 71. Jahrestag des 228-Massakers mit roter Farbe beschmiert hatten und deren Gerichtsprozess am 20. Juli 2018 startete. (Foto: IMAGO, IMAGO / AFLO)
Taiwanische Aktivisten werfen am 20. Juli 2018 rote Farbballons auf die Statue Chiang Kai-sheks. Sie zeigen damit Solidarität mit Unterstützern der taiwanischen Unabhängigkeitsbewegung, die den Sarg des ehemaligen Diktators zum 71. Jahrestag des 228-Massakers mit roter Farbe beschmiert hatten und deren Gerichtsprozess am 20. Juli 2018 startete.

"Es gab viele Opfer, aber keine Täter"… 

… besagt ein Taiwanisches Sprichwort. Wer nach den Tätern fragt, geht immer auch die Gefahr ein, Geheimnisse offenzulegen, sagt Lin. Das zeigte sich jüngst auch 2021, als sich ein hochrangiges Mitglied der DPP als ehemaliger Informant der Kuomintang entpuppte. Die Aufarbeitung der Vergangenheit erfolgte deshalb in erster Linie über die finanzielle Entschädigung der Opfer, dafür aber werden die Täter geschont.  

So wird Chiang Kai-shek in der Gedächtnishalle Taipehs weiterhin als Held gefeiert – mit einer großen Statue und flankiert von einer Ausstellung. Ein Nachfahre des ehemaligen Diktators wurde Ende 2022 zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt.  

Ein Mann trägt am 28. Februar 2023 den von einer Statue Chiang Kai-sheks abgetrennten Kopf durch die Straßen Taipehs, um an das 228-Massaker von 1947 zu erinnern. Die Protestierenden fordern die Entfernung der Statuen und anderer Monumente des ehemaligen Diktators.  (Foto: IMAGO, IMAGO / ZUMA Wire)
Ein Mann trägt am 28. Februar 2023 den von einer Statue Chiang Kai-sheks abgetrennten Kopf durch die Straßen Taipehs, um an das 228-Massaker von 1947 zu erinnern. Die Protestierenden fordern die Entfernung der Statuen und anderer Monumente des ehemaligen Diktators.

Aufarbeitung als Abgrenzung zur Volksrepublik China 

Angesichts zunehmender Spannungen zwischen Taiwan und China könnte eine entschiedenere Aufarbeitung der autoritären Vergangenheit die Gemeinsamkeit mit westlichen Demokratien stärken und den Unterschied zur Volksrepublik China betonen.

Am 4. Juni 2023 jährte sich zum 34. Mal die blutige Niederschlagung der Massenproteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Gedenkfeiern sind in China bis heute verboten und auch in Hongkong ist öffentliches Erinnern inzwischen weitgehend eingeschränkt. In Taiwan sollte es anders laufen, wünscht sich Jhy-Wey Shieh. 

Drohungen gegen Taiwan seitens China nehmen zu

Der Konflikt zwischen dem autoritären China und dem demokratischen Taiwan spitzt sich seit einiger Zeit weiter zu: Ernst zu nehmende militärische Manöver häufen sich seit der Wahl von Xi Jinping zum Staatspräsidenten der Volksrepublik 2013 und insbesondere seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022.

Am 4. Juni 2023 drohte der chinesische Verteidigungsminister, Li Shangfu, nun sogar öffentlich mit Krieg.

Forum Taiwan im Fadenkreuz – Droht eine chinesische Invasion?

Martin Durm diskutiert mit
Prof. Dr. Thomas Heberer, Ostasienwissenschaftler, Universität Duisburg
Anna Marti, Leiterin des Taipeh-Büros der Friedrich Naumann Stiftung
Steffen Wurzel, ehem. ARD-China-Korrespondent

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Ein Thema auf der China-Reise Außenministerin Baerbock ist der Konflikt zwischen China und Taiwan. Ein Angriff der Volksrepublik auf das Land hätte fatale Folgen für die Weltwirtschaft – der Grund sind Mikrochips.

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Zum Jubiläum im Juli präsentiert sich Chinas KP so stark wie nie: totale Kontrolle im Inland, wachsender Einfluss im Ausland. Wie wurde die KP so mächtig?

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Lesung Thilo Diefenbach (Hg.): Zwischen Himmel und Meer. Eine Anthologie taiwanischer Literaturen

„Zwischen Himmel und Meer“ – da ungefähr liegt die Insel Taiwan. Genauer gesagt: 130 km vor der chinesischen Küste, aufgefädelt zwischen Japan und den Philippinen. Von dort kommt jetzt eine umfangreiche und außergewöhnlich vielfältige „Anthologie taiwanischer Literaturen“. Literaturen im Plural, weil es auf Taiwan neben dem vorherrschenden Mandarin auch das Taiwanische gibt, außerdem das Hakka und eine Vielzahl indigener Sprachen. Da Taiwan bis 1945 von Japan kolonisiert war, gehören für mehrere Jahrzehnte auch japanische Texte zur taiwanischen Literatur.
„Zwischen Himmel und Meer“ heißt die zauberhafte Anthologie, die Legenden und Lyrik, moderne Prosa und Essay aus mehreren Jahrhunderten bietet. Jeder Text wurde umfangreich und teils auch sehr unterhaltsam kommentiert. Die Lektüre dieser Anmerkungen allein ist schon ein großes Vergnügen.
Hören Sie auf SWR2 zwei Gedichte aus der Anthologie: eins von 1661 und eins von 2014.
Lesung von Johannes Wördemann.
Iudiucium Verlag, 548 Seiten, 48 Euro
ISBN 978-3-86205-559-3

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