Ein Beispiel für Zolpidem-Sucht
Angefangen hat Melanie Büttners Sucht vor über 20 Jahren. 1994 verschreibt ihr der Hausarzt das Schlafmittel Zolpidem. Es sei, so sagt er, völlig frei von Nebenwirkungen. Doch bald hat sie Halluzinationen, schlafwandelt, bekommt aber das Medikament immer wieder von Ärzten verschrieben.
Aus einer Tablette am Abend werden im Laufe der Jahre immer mehr. Melanie Büttner muss ihre Dosis ständig steigern. Sie wird süchtig, nimmt die Schlafmittel sogar tagsüber – bis zu 20 Stück. Ihrem Umfeld bleibt das natürlich nicht verborgen. Immer häufiger lässt sich die Verwaltungsangestellte krankschreiben, ist tagelang kaum ansprechbar, aber ständig auf der Suche nach neuen Schlaftabletten.
Schwere Sucht in Deutschland
Geschätzt 1,7 Millionen Deutsche sind abhängig von Medikamenten, der weitaus größte Teil von Schlafmitteln. Etwa eine halbe Million sind schwer süchtig. Der Pharmakologe Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen hat die Verschreibungszahlen von Schlafmitteln analysiert. Für ihn ist unverständlich, dass viele Ärzte ohne aufzuklären Schlafmittel verschreiben – und die Patienten nachher dann mit ihrer Sucht alleine lassen.
Die Journalistin Dagmar Stoeckle wollte herausfinden, wie leicht es ist, sich von Ärzten Schlafmittel wie Zolpidem, Zopiclon oder Zaleplon verschreiben zu lassen. Das sind die so genannten Z-Drugs, die nach vier bis sechs Wochen Dauereinnahme süchtig machen und dennoch (bis auf das nicht mehr zugelassene Zaleplon) in Deutschland jedes Jahr millionenfach verschrieben werden.

Dagmar Stoeckle hat einen einfachen Test gemacht: Gegenüber Allgemeinmedizinern und Internisten erzählte sie, sie leide an Einschlafstörungen. Keiner der Ärzte hat Dagmar Stoeckle vorher gekannt, keiner kannte irgendwelche Vorbefunde von ihr – oder hat danach gefragt. Zwar bekam sie beim ersten Anlauf die Warnung vor einer Suchtgefahr der Medikamente, doch trotzdem das Rezept dafür.
Z-Drugs: Weniger Verschreibungen - aber trotzdem mehr Umsatz
Man erzählt eine gute Geschichte und bekommt die gewünschten Schlafmittel. Dass diese Z-Drugs schnell abhängig machen, ist bekannt - und für viele Ärzte wohl ein Grund, einen bestimmten Trick anzuwenden. Denn nur so lässt sich erklären, dass in Deutschland zwar die Zahl der Verschreibungen sinkt, sich die Zahl der hier verkauften Schlafmittel-Packungen jedoch verdoppelt hat. Warum das so ist, erlebt Dagmar Stoeckle beim nächsten Arzt.
Sie bekam wieder zwei Rezepte, diesmal allerdings grüne Rezepte. Das bedeutet: Privatrezepte. Denn über die Hälfte der Rezepte wird inzwischen privat ausgestellt. Das ist für den Pharmakologen Gerd Glaeske von der Universität Bremen ein Skandal. Er hat die Verschreibungsdaten von Schlafmitteln untersucht – und weiß, warum Ärzte gerne Privatrezepte ausstellen.

Ein Privatrezept, das vom Patienten selbst gezahlt werden muss, hat für die Ärzte den Vorteil, dass das Privatrezept nicht erfasst wird bei den Kassen. Viele Ärzte haben sich offenbar an das regelmäßige Verschreiben gewöhnt – und riskieren so die Abhängigkeit ihrer Patienten.
Melanie Büttner entschließt sich 2015 zu einem kontrollierten Entzug in einer Suchtklinik. Sie schafft die Entgiftung in 30 Tagen und auch die dreimonatige Reha danach. Doch 20 Jahre Tablettenmissbrauch haben Spuren hinterlassen. Mittlerweile ist Melanie Büttner clean. Doch die ehemalige Verwaltungsangestellte ist jetzt frühverrentet - wegen mehrerer Bandscheibenvorfälle - und als Folge ihrer jahrelangen Schlaftablettensucht. Ihre Ärzte hätten das vermeiden können.
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