Die Täter kommen aus dem Nahfeld
13.539 Kinder unter 14 Jahren wurden im Jahr 2017 Opfer von sexuellem Missbrauch. Das ergab die Sonderauswertung 2018 der polizeilichen Kriminalstatistik. Statistisch gesehen sitzt in jeder Klasse heute mindestens ein sexuell missbrauchtes Kind. Die allermeisten Täter kommen aus dem Nahfeld der Kinder, das heißt, sie sind meist Freunde oder Bekannte der Familie, es können Nachbarn sein, Verwandte, oder Eltern, Stiefeltern, Geschwister. Laut Bundeskriminalamt bleiben viele Taten unentdeckt.
Erwachsene tun zu wenig für den Kinderschutz
Das Dunkelfeld erschreckt, die hohen Fallzahlen gehen kaum zurück, zudem steigen Besitz und Verbreitung von Kinderpornographie rasant. Johannes-Wilhelm Rörig, der Unabhängige Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs findet, Erwachsene täten immer noch zu wenig, um Kinder zu schützen. Er beobachtet, dass sich viele Eltern und Lehrkräfte nach wie vor hinter dem Tabu versteckten.
Kinder finden nur schwer Hilfe
Kinder und Jugendliche erleben sexuelle Übergriffe meist im familiären Umfeld. Hier ist es für die Kinder besonders schwer, sich Hilfe zu holen – weil die Täter starken psychischen Druck auf sie ausüben, weil die Kinder aus Scham schweigen oder aus Angst, die Familie zu verlieren. Oft wird ihnen auch nicht geglaubt oder Pädagogen und Behörden befürchten, dass sie jemanden zu Unrecht verdächtigen.
Auch die sexualisierte Gewalt unter Gleichaltrigen, in der Peer-Group oder in den sozialen Medien hat eklatant zugenommen. Schulen können darauf reagieren, indem sie Schülerinnen und Schüler ihre sexuelle Integrität bewusst machen, ihre Rechte und ihre Grenzen ansprechen und im Alltag achten.
Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt
Deutschlands Schulen sollen so genannte „Kompetenzorte“ gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen werden – darauf arbeitet Bundesbeauftragter Rörig hin. Mit der Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ will er Aufklärung leisten und die Schulen dazu auffordern, Schutzkonzepte zu erarbeiten. Im Gegensatz zu Kindertagesstätten, Sportvereinen, katholischen Pfarreien und evangelischen Kirchengemeinden, die ebenfalls solche Konzepte bräuchten, hätten Schulen den Vorteil, dass sie alle Kinder und Jugendlichen erreichten.

Klares Leitbild und klare Regeln nötig
Ein Schutzkonzept gegen sexuelle Gewalt ist nicht identisch mit moderner Sexualpädagogik oder dem vernünftigen Umgang mit sozialen Medien. Obwohl sich diese Themen in den Schulen oft vermischen. Es bedeutet, sich in einem Leitbild der Schule gegen sexuelle Gewalt klar zu positionieren, Strategien für eine Intervention festzulegen, mit Fachleuten zu kooperieren, das gesamte Personal in die Verantwortung zu nehmen und auch fortzubilden. Grenzachtende Verhaltensregeln müssen formuliert werden – Schülerinnen und Schüler sollten sich beteiligen können.
Kaum Schulen mit Schutzkonzept
Kinder und Eltern sollten auch regelmäßig Informationen darüber bekommen, wie sexueller Gewalt vorgebeugt werden kann, mit Projekten, Materialien und Ausstellungen zum Stichwort Prävention. Dieses Gesamtpaket fehlt an über 80 Prozent der deutschen Schulen, nur 13 Prozent der Schulen haben überhaupt ein umfassendes Schutzkonzept. Und nur die wenigsten Einrichtungen analysieren, in welchen Situationen oder an welchen Orten auf ihrem Gelände Risiken bestehen, die sexuelle Übergriffe begünstigen könnten.
Schutz vor sexueller Gewalt per Gesetz
In Kindertagesstätten ist ein Konzept für den Kinderschutz bereits gesetzlich verpflichtend. Bei den Schulen setzt der Bundesbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig noch auf die Kraft und das Potenzial der freiwilligen Selbstverpflichtung. Er kündigt allerdings an, sich für konkrete Schutzkonzepte per Gesetz stark zu machen, sollten die bisherigen Maßnahmen nichts bewirken.
Bislang haben nur rund die Hälfte der Schulen ihren Lehrkräften Fortbildungsangebote zum Thema sexuelle Gewalt unterbreitet. Für das Schulpersonal ist die Ausarbeitung eines Schutzkonzeptes oft eine große, zusätzliche Belastung. Aber für den Bundesbeauftragten gegen Kindesmissbrauch ist sie alternativlos. Es geht darum, Missbrauch zu verhindern, ihn, wenn er stattgefunden hat, zu erkennen und den betroffenen Kindern sensibel und schnell zu helfen.
Aufklärung und Not-Telefon für Kinder
Auf Initiative des Bundesfamilienministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung tourt derzeit das Theaterstück „Trau Dich!“ mit begleitenden Aktionen durch die Bundesländer. In dem Stück werden die Geschichten von vier Kindern, die sexuelle Übergriffe erleben, erzählt. Die acht- bis 12-jährigen Mädchen und Jungen im Publikum erfahren, welche Rechte sie als Kinder haben und wer ihnen helfen kann. Sie hören vom Not-Telefon „Nummer gegen Kummer“ oder werden aufgefordert, einen Brief an die Oma zu schreiben. Die „Trau Dich!“-Tour geht noch bis Ende 2022.
Links und Infos:
Unabhängiger Bundesbeauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs:
Hilfetelefon: 0800-2255530 anonym & kostenfrei, Hilfe und Beratung für Betroffene, für Jugendliche, für Angehörige, für besorgte Menschen aus dem sozialen Umfeld, für Fachkräfte
Literatur:
- Margit Miosga/Ursula Schele: Sexualisierte Gewalt und Schule. Was Lehrerinnen und Lehrer wissen sollten. Beltz Verlag 2018.
- Carmen Kerger-Ladleif: Kinder beschützen! Sexueller Missbrauch - Eine Orientierung für Mütter und Väter. Verlag mebes & noack 2012.
Links:
Unabhängiger Bundesbeauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs:
www.hilfeportal-missbrauch.de
www.kein-raum-fuer-missbrauch.de
www.schule-gegen-sexuelle-gewalt.de
www.fragen-an-dich.de kostenloses Online-Tool "Du bist gefragt" des DJI zur Befragung der Schüler*innen an der eigenen Schule (für 14- bis 17-Jährige)
www.petze-kiel.de Petze Institut für Gewaltprävention Kiel
www.trau-dich.de Kinderportal für 8- bis 12Jährige sowie Infos zum gleichnamigen Theaterstück mit Materialien des Bundesfamilienministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Auf Initiative des Bundesfamilienministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung tourt derzeit das Theaterstück „Trau Dich!“ mit begleitenden Aktionen durch die Bundesländer. In dem Stück werden die Geschichten von vier Kindern, die sexuelle Übergriffe erleben, erzählt.