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Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe

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Bartholomäus Laffert
Bartholomäus Laffert  (Foto: Bartholomäus Laffert )
Alicia Prager
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Candy Sauer

Soldaten vergewaltigen Frauen und Mädchen, ein besonders schreckliches Kriegsphänomen. Sexualisierte Gewalt gilt als effiziente Waffe. Fachleute beobachten: Die Verbrechen nehmen zu.

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Vergewaltigung als Kriegswaffe in der Forschung

In den vergangenen Jahren ist "Vergewaltigung als Waffe“ mehr und mehr in den Fokus der Öffentlichkeit und auch der Wissenschaft gerückt. Regina Mühlhäuser ist eine der Pionierinnen in Deutschland, wenn es um Forschung zu sexualisierter Gewalt in Kriegen geht.

"Es war die Frauenbewegung in den 1970er-Jahren, die begonnen hat, diese Form von Gewalt zu erforschen und als Verbrechen zu markieren."

Auch wenn sich seit den 1970ern einiges verändert habe, kritisiert Regina Mühlhäuser, dass bis heute meist nur sexualisierte Gewalt von Rebellengruppen und Milizen in Asien oder Afrika untersucht werde. Staatliche Akteure, das Verhalten von Militärs westlicher Länder, würde bislang eher vernachlässigt. Und sie betont: Sexualisierte Gewalt auch in aktuellen Konflikten ließe sich oft besser verstehen, wenn man die historische Dimension des Phänomens berücksichtige. So war Vergewaltigung ein zentraler Bestandteil des Überfalls von Nazi-Deutschland auf Osteuropa.

Sexualisierte Gewalt im Zweiten Weltkrieg

"Für die Wehrmacht und die SS in diesen sogenannten besetzten Ostgebieten zum Beispiel war sexuelle Gewalt Teil des rassistischen, des antisemitischen Eroberungskrieges und auch des Holocaust in den Ostgebieten. [...] Sie haben sie zum Beispiel gegen ihren Willen an den Genitalien berührt, mit Stöcken und Waffen geschlagen, sie sexuell gefoltert, genitalverstümmelt, vergewaltigt, sexuell versklavt."

Solche Taten seien extrem oft mit anderen Gewalttaten einhergegangen, erzählt Mühlhäuser. Besonders jüdische Frauen hätten viele dieser Gewalttaten gemeinsam erlebt und seien anschließend oft von den Tätern ermordet worden. Die wollten vertuschen, dass sie die nationalsozialistischen Rassengesetze übertreten hatten, nach denen Sex mit jüdischen Personen strikt verboten war.

"Manche dieser Formen von Gewalt waren ein institutionalisierter Teil der militärischen Gewalt, also zum Beispiel Frauen und Mädchen zu zwingen, sich zu entkleiden, ihre Körperöffnungen zu durchsuchen und so weiter. [...] Andere Formen sexueller Gewalt, zum Beispiel Vergewaltigungen, waren stärker situationsbedingt abhängig von den einzelnen Soldaten vor Ort, wie die sich verhalten haben."

Massenvergewaltigungen, die Soldaten der Roten Armee in den besetzten deutschen Gebieten verübt haben, sind weitaus präsenter sind in der deutschen Erinnerungskultur als die Taten von Wehrmacht und SS.

"Für die sowjetischen Truppen waren die Bedingungen ganz andere. Die sowjetischen Truppen kamen aus ihren Heimatländern, zogen in Richtung Deutschland und für sie war sexuelle Gewalt ein Teil eines Rachefeldzugs."

Motive sexualisierter Gewalt

Regina Mühlhäuser ist es wichtig darzustellen: Sexualisierte Gewalt im Krieg hat verschiedene Motive. Mal geht es darum, eine ganze Bevölkerungsgruppe auszulöschen, mal darum, sich zu rächen; mal ist es ein individuelles Verlangen nach sexueller Befriedigung, das die Soldaten vergewaltigen lässt.

Umso interessanter scheint die Frage, mit der sich die Wissenschaft seit vielen Jahren beschäftigt: Wird sexualisierte Gewalt tatsächlich systematisch als Waffe eingesetzt – oder ist sie das Nebenprodukt eines sowieso schon brutalen Krieges?

"Es wird häufig davon ausgegangen, dass es quasi so sei, als ob es eine Art Befehl gibt, dass die militärischen Befehlshaber sagen: „Geh und vergewaltige!“ Aber so ist es nicht, sondern die Kommunikation innerhalb der Armee ist viel komplizierter."

Ein gutes Beispiel dafür sei das Massaker von My Lai durch US-Soldaten während des Vietnamkriegs. Der befehlshabende General habe versucht, seine Kämpfer auf das Massaker vorzubereiten.

"Er sagt zu ihnen nicht: "Geht und vergewaltigt!". Sondern er sagt: „Everything you find is yours“. Also: „Alles, was ihr findet, gehört euch!“

Am nächsten Tag seien die Soldaten schließlich losgezogen und hätten nicht nur Lebensmittel und Tiere geplündert, sondern auch Frauen vergewaltigt.

Männlichkeit und geschlechtsspezifische Gewalt im Krieg

Auch die Gynäkologin Monika Hauser beschäftigt sich seit Jahren mit sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe. Auslöser für ihre Arbeit dazu war der Bosnien-Krieg von 1992 bis 1995. Monika Hauser hörte von unzähligen Vergewaltigungen und reiste im Winter 1992 nach Bosnien. In der Kleinstadt Zenica baute sie ein Frauenzentrum auf und behandelte Überlebende von sexualisierter Gewalt. Zurück in Köln gründete sie kurz darauf die Organisation medica mondiale, die heute weltweit Frauen in Konflikten und Kriegsgebieten unterstützt.

"Die Institution Krieg bedeutet per se eine Entgrenzung von Gewalt und Verhaltensnormen und Regeln, die vielleicht noch im Frieden gelten, verändern sich sofort. Also es kommt zu einer Schwächung von Normenvorstellungen, von Schuldgefühlen, weil man eben alle Hemmungen fallen lassen kann unter den Bedingungen, dass man in dieser Situation alles machen darf."

Monika Hauser sagt, dass eine destruktive Mischung aus Sexualität und Aggression in Kriegen zu viel Gewalt führen könne. Einerseits nutze das Militär die individuelle Motivation von Männern und lasse sie etwa zur Belohnung Frauen vergewaltigen oder die sexualisierte Gewalt zumindest stillschweigend geschehen. Andererseits nutzten Soldaten die ihnen durch das Militär verliehene Macht aus, um Frauen zum Sex zu zwingen.

"Diese überhöhte Männlichkeit, die dann auch unter Peer Groups im Militär extrem zum Tragen kommt, basiert auf einer tief verankerten Missachtung von Frauen und einem Hass und eine Wut auf Frauen. Und das führt dann auch zusammen mit der Straflosigkeit, dass hier diese Gewalt ausgeübt werden kann, ohne dass dem Einhalt geboten wird."

Monika Hauser betont aber auch: In der Vor- und in der Nachkriegszeit komme es ebenfalls immer zu einem Anstieg von häuslicher und sexualisierter Gewalt, sowie von Prostitution und Frauenhandel. Der Fokus auf sexualisierter Gewalt als Waffe greife daher zu kurz. Hauser spricht deshalb von einem Kontinuum der Gewalt. Fisseha Tekle von Amnesty International erzählt von ähnlichen Entwicklungen in Äthiopien. Geschlechterspezifische Gewalt gäbe es immer, im Krieg aber verschärfe sich die Situation.

Sexualisierte Gewalt im Krieg: lange international ignoriert

Wer sich mit sexualisierter Gewalt im Krieg befasst, muss feststellen: Vergewaltigungen sind ein sehr effizientes Mittel, um nicht nur Individuen, sondern ganze Gesellschaften nachhaltig zu schädigen. Den Militärs war und ist das durchaus bewusst. Umso erstaunlicher mutet daher an, wie lange die internationale Gemeinschaft das Thema ignoriert hat.

„Murad-Kodex“: Die Täter zur Rechenschaft ziehen

Sexuelle Gewalttaten werden in vielen Kriegen und Konfliktregionen verübt, auch in Europa. Das kann man aktuell im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sehen.

Die ukrainische Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen in Fällen von Mord und Vergewaltigung aufgenommen. Es geht um mögliche Kriegsverbrechen der russischen Armee.

Bei der Beweisführung sollen neue Mindeststandards gelten. Dafür hat die britische Regierung im April 2022 gemeinsam mit Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad den sogenannten „Murad-Kodex“ eingeführt – ein globaler Kodex zur Bekämpfung konfliktbedingter sexualisierter Gewalt. Dieser soll helfen, Beweise von Überlebenden und Zeugen sicher und effektiv zu sammeln. Denn allzu oft habe die Anzeige sexualisierter Gewalt negative Folgen für die Überlebenden, sagte Nadia Murad bei der Vorstellung des Kodex.

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