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Russland und die Ukraine – Geschichte eines Krieges

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David Beck
Bild von David Beck, Reporter und Redakteur SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Impuls. (Foto: SWR, Ilyas Buss)
Pascal Siggelkow
Pascal Siggelkow (Foto: NDR / Jann Wilken)
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Candy Sauer

Für Putin ist die Ukraine ein sowjetisches Konstrukt, den Einmarsch begründet er historisch. Der Konflikt um die ukrainische Unabhängigkeit reicht bis ins Mittelalter zurück.

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Ein Jahr ist es her, dass Wladmir Putin seine Panzer in Richtung Kiew schickte – am 24. Februar 2022 war das. Der Plan, die ganze Ukraine einzunehmen, ist vorerst gescheitert – auch dank der Unterstützung aus dem Westen. So kam etwa US-Präsident Joe Biden kurz vor dem Jahrestag des Angriffs überraschend in die ukrainische Hauptstadt Kiew: Am 20. Februar 2023 traf er Präsident Wolodymyr Selenskyj und versprach der Ukraine weitere Waffenlieferungen.

Für Wladimir Putin gehört die Ukraine zu Russland

Eine unabhängige Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin nie akzeptiert. Für den ehemaligen KGB-Offizier ist der Zerfall der Sowjetunion die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Die Ukraine selbst sei erst durch die Sowjetunion geschaffen worden. Das betonte Putin immer wieder, etwa am 21. Februar 2022 in einer Fernsehansprache – wenige Tage vor dem russischen Angriff:

Das begann direkt nach der Revolution von 1917. Lenin und seine Gefährten habe das in einer Art und Weise getan, die extrem hart war für Russland. Sie haben einfach zerteilt, was historisch russisches Land war. 1954 hat Chruschtschow aus irgendeinem Grund die Krim von Russland an die Ukraine verschenkt. So ist erst das Territorium der modernen Ukraine entstanden.

24. Februar 2022: Putin befiehlt Angriff auf die Ukraine

Diese Aufteilung sowjetischen Territoriums sei ein Fehler gewesen. Für Putin gehört die Ukraine nach wie vor zu Russland. Am 24. Februar 2022 befiehlt Russlands Präsident den Angriff auf die Ukraine.

Es wurde allerdings nicht die kurze, triumphale "Spezialoperation", die sich Wladimir Putin offenbar gewünscht hatte. Der Krieg in der Ukraine hat sich zu einem Stellungskrieg entwickelt mit tausenden zivilen Opfern; die russische Militärstrategie ist, wie schon im Krieg in Syrien, eine, bei der die Zivilbevölkerung gezielt zermürbt werden soll. Zerstörte Infrastruktur, Folterkammern für Gefangene, vergewaltigte Kinder.  

Auch ein Jahr nach der russischen Invasion ist noch nicht abzusehen, wie lange dieser Krieg noch dauern wird – und wie er ausgeht. Russland jedenfalls wird sich so schnell nicht wieder aus der Ukraine zurückziehen, vermutet die ARD-Korrespondentin in Moskau, Christina Nagel:

Inzwischen will man natürlich auch gewisse Teile der Ukraine nicht mehr zurückgeben. Das ist jetzt nicht mehr nur die Krim, sondern das sind eben auch diese vier Gebiete, die man annektiert hat. Das ist Luhansk. Das ist Donezk, das ist Saporischschja und Cherson, auch wenn man da nicht mal die Kontrolle über diese Gebiete hat.

Laut US-Militär sind seit Kriegsbeginn deutlich mehr als 100.000 russische Soldaten getötet worden. Zuverlässige und unabhängig geprüfte Zahlen gibt es nicht. Es steht jedoch außer Frage, dass die russische Armee, ebenso wie die ukrainische, massive Verluste erlitten hat.

Längst wird spekuliert, ob Putin nach der Teilmobilmachung im September 2022, die er im November 2022 für beendet erklärt hat, bald eine Generalmobilmachung anordnet. Hunderttausende junger russischer Männer haben sich vor der Einziehung versteckt oder sind ins Ausland geflohen. ARD-Korrespondentin Christina Nagel sagt allerdings, Putins Zustimmungswerte seien nach wie vor hoch.

Russische Propaganda wirkt in der Bevölkerung

Die russische Propaganda wirkt. Zum Narrativ, die Ukraine von einem Nazi-Regime befreien zu wollen, ist die Erklärung hinzugekommen, man sei einem Präventivschlag westlicher Kräfte gegen Russland zuvorgekommen. Das behauptete Putin unter anderem anlässlich der traditionellen Militärparade zum Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland am 9. Mai 2022 in Moskau.

Am 21. Februar 2023 hielt Wladmir Putin eine "Rede zur Lage der Nation", in der er u.a. die Wirkung der westlichen Sanktionen herunterspielte.

Aus russischer Sicht gibt es nur ein gesamt-russisches Volk

Die Geschichte der Ukraine und Russlands ist eng verflochten. Aber die Art und Weise, wie diese Geschichte gedeutet wird, könnte verschiedener kaum sein. Die offizielle russische Interpretation lautet: Es gibt kein eigenständiges ukrainisches, belarusisches oder russisches Volk, nur ein gesamt-russisches. In der Ukraine dagegen will die aktuelle Regierung das Nationalbewusstsein stärken und verweist auf historische Quellen, die die Anfänge der eigenen Nation etliche Jahrhunderte zurückdatieren.

Wladimir Putin am 4. November 2016 bei der Einweihung des Denkmals für Wladimir I. – Putin sieht in dessen Taufe im Jahr 988 eine Art gemeinsame geistige Quelle der Völker Russlands, von Belarus und der Ukraine. (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance / dpa | Sergei Chirikov)
Wladimir Putin am 4. November 2016 bei der Einweihung des Denkmals für Wladimir I. – Putin sieht in dessen Taufe im Jahr 988 eine Art gemeinsame geistige Quelle der Völker Russlands, von Belarus und der Ukraine.

Kiewer Großfürst Wladimir I. lässt sich 988 auf der Krim taufen

Auf ein Datum können sich heute beide Seiten einigen: Ihre Geschichte beginnt im Jahr 988 mit der Christianisierung der sogenannten Kiewer Rus, einem großen Gebiet, das weite Teile der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus umfasst. Die Christianisierung gilt als Geburtsstunde der russisch-orthodoxen Kirche. Um die Schwester des byzantinischen Kaisers Basileios II., Anna, zu heiraten, lässt sich der Kiewer Großfürst Wladimir I. auf der Krim taufen.

Wladimir Putin sieht in der Taufe eine Art gemeinsame geistige Quelle der Völker Russlands, von Belarus und der Ukraine. 2016 weiht er im Zentrum von Moskau ein 16 Meter hohes Denkmal für Wladimir I. ein. Zur Einweihung sagt Putin: Fürst Wladimir sei …

… ein Symbol der Einheit aller Völker der historischen Rus.

Kiewer Rus: Ukrainer und Russen interpretieren Geschichte sehr unterschiedlich

Die Christianisierung der Rus unter Wladimir I. ist für Putin der erste historische Beleg für die quasi-natürliche Einheit von Russland und der Ukraine. Dort allerdings deute man die Ereignisse ab Ende des 10. Jahrhunderts komplett anders, sagt Historiker Frank Golczewski, emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg. Russland sei erst im 13. Jahrhundert aus dem Fürstentum Moskau hervorgegangen.

Zarenreich breitet sich von Moskau aus, im ukrainischen Gebiet treten Kosaken in Erscheinung

Während sich das Zarenreich in den folgenden Jahrhunderten von Moskau aus enorm ausbreitet, treten ab dem Ende des 15. Jahrhunderts auf dem Gebiet der heutigen Ukraine immer mehr die Saporoger Kosaken in Erscheinung. Zunächst in kleineren Gruppen organisiert, schließen sie sich im Laufe des folgenden Jahrhunderts zu immer größeren Verbänden zusammen. Sind sie die ersten Ukrainer?

Kosaken gründen Hetmanat

Das 16. und 17. Jahrhundert ist eine umkämpfte Zeit. Die Kosaken erheben sich gegen den herrschenden polnisch-litauischen Adel. Der wiederum versucht, die Aufstände im Grenzland, altostslawisch Ukraina, niederzuschlagen. Unter der Führung Bohdan Chmelnyzkyjs lösen sich die Kosaken 1648 nach einem Volksaufstand von Polen los und gründen das sogenannte Hetmanat. Den Konflikt mit dem polnisch-litauischen Adel beendet das aber nicht. Auf der Suche nach Bündnispartnern wenden sich die Kosaken an den russischen Zaren Alexei I.

Der ehemalige "Bogen der Völkerfreundschaft" und das Denkmal des russischen und ukrainischen Arbeiters sowie das Perejaslaw-Denkmal zur Erinnerung an den Vertrag von Perejaslaw 1654 (Krestschatzky-Park, Kiew). Im April 2022 wurde der Bogen in "Freiheitsbogen des ukrainischen Volkes" umbenannt und die Bronzeskulptur der Arbeiter wurde demontiert. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / imageBROKER | G. Thielmann)
Der ehemalige "Bogen der Völkerfreundschaft" und das Denkmal des russischen und ukrainischen Arbeiters sowie das Perejaslaw-Denkmal zur Erinnerung an den Vertrag von Perejaslaw 1654 (Krestschatzky-Park, Kiew). Im April 2022 wurde der Bogen in "Freiheitsbogen des ukrainischen Volkes" umbenannt und die Bronzeskulptur der Arbeiter wurde demontiert.

Kosaken und russisches Zarenreich verbünden sich 1654 im Vertrag von Perejaslaw

Die Kosaken und das russische Zarenreich verbünden sich gegen Polen-Litauen. Sie schließen den sogenannten Vertrag von Perejaslaw. Aber wie genau dieses Bündnis ausgesehen hat, das wird unterschiedlich ausgelegt.

Anschluss an Russland – oder Vertrag unter Gleichen?

In Russland heute wird der Vertrag von Perejaslaw verstanden als Anschluss des Kosakenstaates an das russische Reich und gilt damit als Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland. Und umgekehrt?

Ukrainische Nationalisten sehen in diesem Vertrag einen internationalen Vertrag zwischen dem Kosaken-Staat von Bohdan Chmelnyzkyj und dem russischen Reich. Und damit – da Verträge eigentlich immer unter Gleichen sein müssen – eine Anerkennung der Unabhängigkeit der Ukraine durch Russland. Also das genaue Gegenteil eigentlich. Was davon stimmt, was davon richtig ist, kann man so gar nichts sagen.

Hauptmann Iwan Masepa wechselt die Seiten und kämpft gegen den Zaren

Mit dem Bündnis zwischen den Kosaken und dem russischen Zarenreich ist der Konflikt trotzdem nicht beigelegt. Bereits wenige Jahre später schließt sich Chmelnyzkyjs Nachfolger den Polen an und spaltet die Kosaken in ein pro-russisch und ein pro-polnisch orientiertes Lager. Ein halbes Jahrhundert danach kommt es zu einem weiteren Streitpunkt in der russisch-ukrainischen Geschichte: Der kosakische Hetman, zu Deutsch: Hauptmann, Iwan Masepa, eigentlich ein treuer Freund von Zar Peter dem Großen, wechselt im Krieg überraschend die Seiten. Er kämpft 1708 mit den Schweden gegen den russischen Zaren.

Mit dem Ziel, ganz vorsichtig ausgedrückt, die Kosaken zu befreien, die Ukraine zu befreien, eine moderne ukrainische Nation zu schaffen, einen modernen ukrainischen Staat zu schaffen.

Der kosakische Hetman (zu Deutsch: Hauptmann) Iwan Masepa, eigentlich ein treuer Freund von Zar Peter dem Großen, wechselt im Krieg überraschend die Seiten. Er kämpft 1708 mit den Schweden gegen den russischen Zaren.  (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / Bildagentur-online/Sunny Celeste | Bildagentur-online/Sunny Celeste)
Der kosakische Hetman (zu Deutsch: Hauptmann) Iwan Masepa, eigentlich ein treuer Freund von Zar Peter dem Großen, wechselt im Krieg überraschend die Seiten. Er kämpft 1708 mit den Schweden gegen den russischen Zaren.

1709: Schlacht bei Poltawa wird zum Triumph für Zar Peter den Großen

Die entscheidende Schlacht bei Poltawa ein Jahr später ist ein großer Triumph für Zar Peter den Großen. Die Schweden und mit ihnen die Kosaken werden vernichtend geschlagen. Der russische Komponist Pjotr Tschaikowsky hat dem russischen Sieg seine Oper „Mazeppa“ gewidmet.

Kosaken-Hauptmann Masepa flüchtet ins Osmanische Reich, wo er kurz darauf stirbt. In der pro-russischen Erinnerung wird Masepa als Verräter dargestellt. In die ukrainische Geschichte geht er trotz seines Scheiterns als Begründer eines modernen, demokratischen Staates ein.

Russlands Aufstieg zur Großmacht

Während Russland durch den Sieg über Schweden 1709 quasi über Nacht zu einer Großmacht in Europa wird, verliert das kosakische Hetmanat nach und nach an Bedeutung. Es geht schließlich unter Katharina der Großen im russischen Zarenreich auf. Es folgen zwei Jahrhunderte der Unterdrückung des ukrainischen Volks und der ukrainischen Sprache.

Im Jahr 1863 lässt der russische Innenminister Pjotr Walujew wissenschaftliche und religiöse Publikationen auf Ukrainisch verbieten, dreizehn Jahre später folgt dann der Emser Erlass des Zaren Alexander II. Er weitet das Verbot auf alle ukrainischen Publikationen aus.

Unterdrückte ukrainische Bevölkerung hält an kultureller Identität fest

Durch die Erlasse sollen mögliche ukrainische Aufstände präventiv unterdrückt und die ukrainische Bevölkerung eng an das russische Kaiserreich gebunden werden. Doch bei großen Teilen der ukrainischen Bevölkerung bewirkt die Unterdrückung das Gegenteil: Sie pflegen ihre Sprache, die entgegen russischer Propaganda nicht einfach nur ein russischer Dialekt ist. Und sie halten an ihrer kulturellen Identität fest, worauf viele Ukrainer von heute stolz verweisen.

Ukraine erlangt 1917 die Unabhängigkeit – für drei Jahre

Erst im Zuge der Februar- und der Oktoberrevolution im Jahr 1917 und der damit einhergehenden Auflösung des Russischen Zarenreiches erlangt die Ukrainische Volksrepublik ihre lang ersehnte Unabhängigkeit. Allerdings nur für kurze Zeit. Drei Jahre später, nach dem Einmarsch der Roten Armee 1920, wird die Republik bereits wieder aufgelöst und in die Sowjetunion eingegliedert.

Holodomor: bis zu vier Millionen Ukrainer sterben Anfang der 1930er-Jahre

Dort erleben die Ukrainer Anfang der 1930er-Jahre ein nationales Trauma: Den Holodomor – die größte Hungerkatastrophe des Landes. Bis zu vier Millionen Ukrainer sterben – auch weil Diktator Josef Stalin es bewusst darauf ankommen lässt.

War der Holodomor Völkermord?

In der Geschichtswissenschaft ist umstritten, ob es sich bei dem Holodomor um einen Genozid handelte. Einige Fachleute argumentieren, dass der Holodomor kein Völkermord gewesen sei, da auch andere Sowjetrepubliken davon betroffen waren und es nicht gezielt die Vernichtung des ukrainischen Volks gegangen sei. 

Andere wiederum, darunter mehrere osteuropäische Staaten, aber auch Kanada, Mexiko und Australien, erkennen den Holodomor schon lange als Genozid an. Im Zuge der Solidarisierung mit der Ukraine während des russischen Angriffskriegs sind die EU und auch Deutschland von ihrer ursprünglichen Haltung abgewichen und betrachten den Holodomor nun auch als Genozid. Führende Osteuropa-Experten wie Karl Schlögel werfen Putins Regime vor, auch heute genozidale Ziele zu verfolgen.

Ukrainische Nationalisten kollaborierten mit Nazis – und werden bis heute verehrt

Auch beim Thema Zweiter Weltkrieg vertritt die ukrainische Regierung eine deutliche und zum Teil umstrittene Meinung. Denn obwohl die Untergrundbewegung mit dem Namen: „Organisation Ukrainischer Nationalisten“, kurz OUN, mit den Nazis kollaborierte und an Kriegsverbrechen beteiligt war, werden die Anführer der OUN bis heute verehrt.

2015 wurden Gruppierungen wie die OUN per Gesetzesdekret zu Kämpfern für die ukrainische Unabhängigkeit erklärt. Wer diese Ehrung in Frage stellt, kann Ärger bekommen.

Putin: "Faschisten und Drogenabhängige" in der ukrainischen Regierung

Für die russische Seite sind Gruppen wie die OUN bis heute Faschisten. Der Begriff ist eine der größten Beleidigungen im offiziellen russischen Sprachgebrauch. In seinen Reden bezeichnet der russische Präsident Wladimir Putin die Angehörigen der ukrainischen Regierung als Faschisten oder als Drogenabhängige, spricht von einem illegitimen Nazi-Regime. Mit dem militärischen Einmarsch jetzt will er die Ukraine "entnazifizieren", wie er es nennt. In seiner Fernsehansprache vom 21. Februar 2022 sagt Putin anlässlich der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk:

Es überrascht nicht, dass die ukrainische Gesellschaft mit wachsendem Rechts-Nationalismus konfrontiert wurde, der schnell zu einer aggressiven Russophobie und zu Neo-Nazismus geworden ist.

Russlands Präsident Wladimir Putin unterzeichnet am 21. März 2014 ein Dekret zur Eingliederung der Krim und Sewastopols in die Russische Föderation (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / dpa | Korotayev Artyom)
Russlands Präsident Wladimir Putin unterzeichnet am 21. März 2014 ein Dekret zur Eingliederung der Krim und Sewastopols in die Russische Föderation

Nationalismus in der Ukraine wächst – spätestens seit der Krim-Annexion

Die Regierung des jüdisch-stämmigen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als Nazi-Regime zu bezeichnen, ist absurd. Mit Zunahme der russischen Aggression und spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 wächst in der Ukraine allerdings der Nationalismus stark an. Und er wird von staatlicher Seite mitgetragen. So gründete die damalige Regierung von Wiktor Juschtschenko 2007 das Institut zur Nationalen Erinnerung, das die Verehrung ukrainischer Unabhängigkeitskämpfer fördern soll.

"Bei der Entkommunisierung, beziehungsweise Dekommunisierung, geht's grundsätzlich darum, dass alle sowjetischen Denkmäler abgerissen sind, dass viele Städte Straßennamen, die damit zu tun haben, dass sie auch umbenannt wurden."

Antisowjetische und antirussische Geschichtspolitik der Ukraine als Rechtfertigung für Putin

Diese aggressive antisowjetische und letztendlich antirussische Geschichtspolitik nimmt Wladimir Putin zum Anlass, um sein Vorgehen zu rechtfertigen. In seiner Erklärung zur Anerkennung der selbsternannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk geht er auf die Dekommunisierung in der Ukraine ein und nennt die Vertreter der ukrainischen Regierung ironisch dankbare Nachkommen der einstigen Sowjetzeit.

"Heute stürzen diese "dankbaren Nachkommen" Statuen von Lenin in der Ukraine. Sie nennen es Dekommunisierung. Sie wollen Dekommunisierung? Das passt uns sehr gut, aber warum bei der Hälfte aufhören? Wir sind bereit, zu zeigen, was eine wahre Dekommunisierung der Ukraine bedeutet."

Mit der wahren Dekommunisierung der Ukraine meint Putin, dass die Ukraine die Landesteile zurückgeben müsse, die ihr einst von der Sowjetunion gegeben worden seien. Die Dekommunisierung in seinem Sinne hat Putin mit der Annexion der Krim zum Teil bereits wahr gemacht. Der ehemalige sowjetische Machthaber Nikita Chruschtschow hatte die Krim 1954 der Ukrainischen Sowjetrepublik zugesprochen.

Ukrainische Bevölkerung seit 2014 in zwei Lager gespalten

Die jüngste Phase der ukrainischen Unabhängigkeit beginnt 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion. Seither hat die Ukraine in den vergangenen 30 Jahren mit wirtschaftlichen und innenpolitischen Problemen gerungen. Auf politischer Ebene waren die Akteure lange in ein pro-westliches und ein pro-russisches Lager gespalten, meint der Kiewer Journalist Denis Trubetskoy. Zweimal – 2004 bei der Orangenen Revolution und 2014 auf dem Kiewer Maidan Platz – hätten Proteste auch mithilfe nationalistischer Kräfte zu einer westlich orientierten Regierung geführt. Seit 2014 spalte sich die Bevölkerung jedoch vor allem in ein stark nationalistisches und ein deutlich gemäßigteres pro-ukrainisches Lager.

Als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und das russische Eingreifen im Donbas 2014 haben beispielsweise Schulen in der Ukraine ihren Russischunterricht reduziert. Auch sonst gibt es auf offizieller, rechtlicher Ebene Maßnahmen, die das Russische einschränken sollen. Im Alltag sprechen die Menschen in der Ukraine aber weiterhin ebenso selbstverständlich Ukrainisch wie Russisch.

Ukraines Präsident Selenskyj stammt aus russischsprachiger Familie

Präsident Wolodymyr Selenskyj stammt aus einer russischsprachigen Familie. Als politischer Newcomer wurde der ehemalige Schauspieler bei seinem Amtsantritt 2019 erst von vielen Seiten belächelt. Das hat sich spätestens seit dem Einmarsch Russlands geändert. In Handyvideos meldete er sich aus der umkämpften Regierungszentrale und zählte auf, wer mit ihm die Stellung hält. Tud – alle hier, wir bleiben, sagt Selenskyj.

Geschichte: keine Rechtfertigung für Angriff auf souveränen Staat

"Beide Seiten operieren eigentlich mit historischen Argumenten. Und das Negative daran ist, dass Geschichte beliebig interpretierbar ist. Das heißt, beide Seiten können aus unterschiedlichen Interpretationen der Geschichte ihre jeweilige politische Thematik ableiten, die Geschichte gibt das her. Man muss dann eben das Narrativ herausarbeiten, das einem am besten passt."

Die neue Generation, Kinder und Jugendliche lernten in den Schulen nicht, dass unterschiedliche historische Deutungen manchmal gleichberechtigt sein könnten, meint der Historiker Frank Golczewski. In vielen osteuropäischen Ländern und auch in Russland werde nach wie vor ein alleingültiges, nationales Geschichtsnarrativ vermittelt.

Die Geschichte der Ukraine und Russlands ist lang und kompliziert. Eine einseitige Interpretation der Geschichte sollte aber nicht als Rechtfertigung dienen, ein souveränes Land wie die Ukraine anzugreifen, meint Frank Golczewski:

"Ich halte das für großen Quatsch, ich bin Historiker. Ich glaube jemand, der wirklich Historiker ist, weiß, dass Geschichte eigentlich nichts an Argumenten für die jeweilige Gegenwart hergibt. Sondern das meinen eigentlich nur Laien. Geschichte ist vergangen. Eigentlich müssen Politiker sich in die Zukunft hineinorientieren."

SWR 2022 / 2023

24.2.2022 Die Nacht, in der Russland die Ukraine angriff

24.2.2022 | Schon in den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 ist klar, dass Russland die Ukraine angreifen würde. Am Vorabend haben die russischen Separatisten in den ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk Russland um Hilfe gebeten. Kaum jemand zweifelt daran, dass Putin dies als Begründung nehmen würde, diese Gebiete "befreien" zu wollen, schließlich hatte er sie schon zuvor schon als "autonome Republiken" anerkannt. So kommt es dann auch. Die Entwicklung spiegelt sich in den Radionachrichten. Nachts sind die Informationsradioprogramme der ARD zusammengeschaltet.
Um 4 Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit hatte sich bereits der Sicherheitsrat getroffen, um über die offenbar bevorstehende Invasion zu beraten.
Eine halbe Stunde später bestätigen sich die Befürchtungen. Präsident Putin hat in der Zwischenzeit im russischen Fernsehen eine Ansprache gehalten. Davon handeln die Nachrichten um 4:30 Uhr.
Um 5 Uhr informieren die Nachrichten bereits über erste Explosionen in der ukrainischen Hauptstadt. Im Lauf des Morgens sind auch in den Radioprogrammen erste Augenzeugenberichte zu hören. Wir hören den Journalisten Roman Schnell, der sich zum Kriegsausbruch in Charkiw befand und anschließend Maria Kalus, Mitarbeiterin im ARD-Studio Kiew.

Russland Wie Putin Politik durch Kriege macht – Tschetschenien, Syrien, Ukraine

Tschetschenien, Georgien, Syrien – der Krieg gegen die Ukraine ist einer von vielen unter Putin. Der Kreml will die Sowjetunion rehabilitieren und nutzt dazu alte KGB-Methoden.

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Krieg gegen die Ukraine Wie Russland das Internet zensiert

Viele Informationen und Webseiten sind in Russland nicht zugänglich – die Menschen können sich nur schwer unabhängig über den Krieg gegen die Ukraine informieren. So sperrt Russland unabhängige Nachrichten und verbreitet seine Propaganda.

Aktuelle Beiträge zur Ukraine

Gespräch Ukrainischer Schriftsteller Serhij Zhadan meldet sich als Soldat: „Er hat anerkannt, dass Worte eine Grenze haben“

Als Autor hat Serhij Zhadan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gewonnen. Nun zieht er in den Krieg. Er habe anerkannt, dass Worte zum Teil eine Grenze haben, sagt sein Übersetzer Juri Durkot.

SWR Kultur am Morgen SWR Kultur

Deutschland

Gespräch „Memento Odesa“ - Sebastian Studnitzky über sein musikalisches Benefizprojekt für die Ukraine

Der Trompeter, Pianist und Komponist Sebastian Studnitzky ist zusammen mit dem Odesa Symphonic Orchestra und seinem Benefizprojekt „Memento Odesa“ auf Deutschlandtournee. Auch in Bonn, Karlsruhe und Stuttgart finden Konzerte statt

SWR2 am Samstagnachmittag SWR2

Gedichtband „Den Krieg übersetzen“ - Aktuelle Lyrik aus der Ukraine

Das Buch „Den Krieg übersetzen“ ist ein Sammelband mit Texten von ukrainischen Lyrikerinnen und Lyrikern, die ihr Erleben des Krieges in Gedichten abbilden.

SWR2 Kultur aktuell SWR2

Hintergrund

Osteuropa | 30 Jahre Unabhängigkeit Ukraine – Zerrissen zwischen der EU und Russland?

Vor 30 Jahren, am 24. August 1991, erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit. Die junge Generation des Landes ist geschichts- und selbstbewusst. Doch der Staat befindet sich im Krieg

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Zeitgeschichte Holocaust in der Ukraine – Ringen um die Erinnerungskultur

Während des Kommunismus wurde die Erinnerung an den Holocaust in der Ukraine unterdrückt oder verfälscht. Der Kampf gegen die historische Amnesie hat in dem Land gerade erst begonnen.

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SWR2 Archivradio

5.12.1994 Russland garantiert Souveränität der Ukraine – ist aber gegen NATO-Osterweiterung

5.12.1994 | Nach dem Ende der Sowjetunion sortiert sich Osteuropa neu. Dabei gibt es große Themen zu klären: Das eine sind Atomwaffen. Die Ukraine, Belarus und Kasachstan besitzen welche – noch aus der Zeit, als sie zur Sowjetunion gehörten. Die Ukraine ist Anfang der 1990er Jahre faktisch die drittgrößte Atommacht der Welt. So viele Atomstaaten – das halten viele für gefährlich. Deshalb kommt es zu einem Abkommen: Die drei Ex-Sowjetrepubliken verzichten auf Atomwaffen, unterzeichnen also den Atomwaffensperrvertrag. Im Gegenzug verpflichten sich die anderen Vertragsstaaten, vor allem die USA und Russland, die Souveränität dieser drei Länder zu achten. Dieses Abkommen läuft im Völkerrecht unter dem Namen „Budapester Memorandum“ – denn es wurde auf dem Treffen der damaligen KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, heute: OSZE) im Dezember 1994 vereinbart.
In der Berichterstattung spielt es damals allerdings kaum eine Rolle, denn andere Themen beherrschen die Konferenz sind strittiger: Da ist zum einen der Jugoslawienkrieg, der nur wenige hundert Kilometer von Budapest entfernt, zum anderen die von den USA beabsichtigte NATO-Osterweiterung. US-Präsident Bill Clinton wirbt in Budapest dafür, Helmut Kohl unterstützt ihn. Russlands Präsident Boris Jelzin ist dagegen. Er befürchtet, so erklärt er 5. Dezember in Budapest, dass die Nato-Osterweiterung die Demokratie in Russland gefährde. Reporter ist ARD-Korrespondent Michael Herde.

9. bis 16.8.1999 Putin wird Ministerpräsident – "Russland ist eine Großmacht"

9. bis 16.8.1999 | 1999 ist Russlands Präsident Boris Jelzin schon auf dem absteigenden Ast. Wirtschaftlich ist das Land in einer schweren Krise. Jelzins Amtsführung gilt als zunehmend fahrig, hemdsärmlig und von Alkoholismus geprägt. Ende der 1990er-Jahre hebt er als Präsident eine Handvoll Ministerpräsidenten ins Amt, um sie teilweise nach nur wenigen Monaten wieder zu entlassen. Im August 1999 dagegen holt er einen, der bleiben und ihn ein knappes halbes Jahr später als Präsident beerben wird: Wladimir Putin. Am 9. August 1999 gibt Jelzin diesen Personalvorschlag bekannt.
SWR1 Thema heute greift das Ereignis in einer Hintergrundsendung auf.
Eine Woche später, am 16. August 1999, stimmt auch das russische Parlament, die Duma, dem Personalvorschlag zu. Putin wird Ministerpräsident. Schon damals spricht er von Russland als Großmacht und dass sich das Land seiner Einflusszonen nicht schämen solle.
Am 31. Dezember 1999 erklärt Boris Jelzin seinen Rücktritt und übergibt die Amtsgeschäfte an Wladimir Putin, der damit zunächst kommissarisch Präsident ist. In den vorgezogenen Wahlen im März 2000 bekommt er 52 Prozent der Stimmen. Am 7. Mai 2000 wird aus der kommissarischen Präsidentschaft die reguläre.

18.3.2014 Putin erklärt nach Annexion: "Die Krim gehört zu Russland"

18.3.2014 | Jahrzehntelang gehörte die Krim zur Ukraine – was für Moskau kein Problem war, solange es die Sowjetunion gab. Und auch danach nicht, solange in Kiew moskautreue Regierungen saßen, die die russische Kontrolle über den Militärhafen Sewastopol nicht gefährden.
Konflikte zwischen der Krim und der Zentralregierung in Kiew gibt es immer wieder, denn die russischsprachige Bevölkerungsmehrheit auf der Halbinsel fühlt sich Russland stärker verbunden als der Ukraine.
Die Ereignisse eskalieren im Februar 2014. In Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, kommt es zu Massenprotesten gegen die prorussische Politik von Präsident Wiktor Janukowitsch. Janukowitsch wird gestürzt und setzt sich nach Russland ab. Der proeuropäische Oleksandr Turtschynow übernimmt als Übergangspräsident Ende Februar die Regierungsgeschäfte, zusammen mit Arsenij Jazenjuk als Ministerpräsident.
Um die gleiche Zeit beginnt Russland mit der Annexion der Halbinsel Krim. Sie ist zunächst als Machtübernahme lokaler russischsprachiger Krimbewohner getarnt, bevor die russische Armee auch nach außen hin sichtbar wird. Am 18. März 2014 feiert Russlands Präsident Wladimir Putin öffentlich die Annexion, die aus seiner Sicht eine Reparatur historischer Fehlentscheidungen darstellt. Seine Rede sorgt für Aufsehen, denn er holt historisch weit aus. Er sagt allerdings auch, dass, entgegen der Befürchtungen des Westens, der Krim nicht noch weitere Regionen folgen werden.
Sein Versprechen, die Ukraine nach der Annexion der Krim nicht weiter anzutasten, bricht er spätestens mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022.

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