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Richard von Weizsäcker – Ein Leben für die Politik

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Michael Reitz
Michael Reitz (Foto: Michael Reitz)
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Wie kaum ein Staatsoberhaupt vor ihm verstand sich Richard von Weizsäcker (1920 - 2015) als Bundespräsident aller Deutschen. Er galt als Gentleman im Politikbetrieb. Am 15. April 2020 wäre er 100 Jahre alt geworden.

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Von Weizsäckers Rede zum Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai

Es ist der 8. Mai 1985. Am Rednerpult des Deutschen Bundestages steht Richard von Weizsäcker, hinter ihm eine festliche Dekoration aus gelben Margeriten. Das Gesicht des sechsten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland ist ernst.

Was diese Ansprache so bedeutend machen wird, ist die Haltung Richard von Weizsäckers. Denn der Jahrestag des Kriegsendes, so seine Worte, sei auch ein Datum, an dem die Deutschen sich darüber klar werden sollten, dass sie es waren, die diesen Weltenbrand verursacht haben.

Klare selbstkritische Worte, die einen neuen Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit einläuten. Gesprochen von einem Mann, dessen eigene Familie mit dem verbrecherischen NS-Regime paktierte.

Es ist ausgerechnet diese spannungsgeladene Verstrickung, die Richard von Weizsäcker zu einem geradlinigen Demokraten und konsequenten Streiter für Toleranz und Dialog werden ließen. Gerade in seiner eigenen Partei eckte er damit häufig an. Zu seinem 100. Geburtstag im Jahr 2020 würdigen ihn Politikerinnen und Politiker aller Parteien.

Verteidigung des Vaters vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal

Als jüngstes von vier Kindern wird Richard von Weizsäcker am 15. April 1920 in Stuttgart geboren. Seine Kindheit verbringt er zum größten Teil im Ausland. Sein Vater Ernst von Weizsäcker ist Diplomat. Ab 1936 kehren die Familienmitglieder in das mittlerweile nationalsozialistische Deutschland zurück. Der 18-jährige Richard wird 1938 zur Wehrmacht eingezogen. Sein Bruder fällt schon am zweiten Kriegstag nach dem Einfall der Deutschen in Polen.

Der Berliner Publizist Gunter Hofmann, Autor des Buches "Richard von Weizsäcker – Ein deutsches Leben" beschreibt einen Loyalitätskonflikt, in dem sich der junge Mann während des Krieges und der Nazizeit befunden haben muss.

Nürnberger Prozesse (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture-alliance / dpa -)
In der ersten Reihe der Anklagebank: Ernst von Weizsäcker, Gustav Adolf Steengracht von Hoyland, Wilhelm Keppler und Ernst Wilhelm Bohle, in der zweiten Reihe Otto Dietrich, Gottlob Berger, Walter Schellenberg und Lutz Schwerin von Krosigk

Der Vater wird nach dem Krieg von den Alliierten wegen "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" im sogenannten "Wilhelmsstraßenprozess" angeklagt. Vorgeworfen – und auch nachgewiesen – wird ihm, Deportationsbefehle für Juden in das Vernichtungslager Auschwitz unterschrieben zu haben.

Richard, der mittlerweile ein Jurastudium absolviert hat, verteidigt ihn vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal. Hierfür wird er noch Jahrzehnte später heftig kritisiert. Ernst von Weizsäcker wird zunächst zu sieben, dann zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, nach drei Jahren wird er begnadigt. Kooperation mit den Nazis lässt sich auch Carl Friedrich, dem älteren Bruder Richards, vorwerfen. Er arbeitete als Physiker intensiv an der deutschen Atombombe.

Richard von Weizsäcker: ein CDU-Politiker mit linken Positionen

Richard von Weizsäcker zieht es nach dem Studium in die freie Wirtschaft. Er wird zunächst wissenschaftliche Hilfskraft bei der Mannesmann AG in Gelsenkirchen, bevor er Prokurist und Leiter der wissenschaftspolitischen Abteilung des Konzerns wird. 1953 lernt er seine spätere Ehefrau Marianne kennen, sie werden vier Kinder haben. 1954 tritt er in die CDU ein und wird 1966 in den Bundesvorstand gewählt.

Oftmals vertritt Richard von Weizsäcker vor allem in sozialen Fragen eher linke Positionen. So plädiert er beispielsweise für einen "moralischen Kapitalismus", ist für Solidarität statt Konkurrenz. Viele sehen ihn deshalb als Sozialdemokraten, der aus Gründen der konservativen Familientradition in der CDU ist, so der Publizist Gunter Hofmann. Berühmt wird er vor allem wegen seines respektvollen Umgangs auch mit dem politischen Gegner sowie seiner Sprachperfektion.

In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Kapitulation bezeichnet Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Kriegsende als einen "Tag der Befreiung". (Foto: dpa Bildfunk, (c) dpa - Bildfunk)
In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Kapitulation bezeichnet Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Kriegsende als einen "Tag der Befreiung". Das war damals eine Sensation, denn so eindeutig wie er hat das kaum ein konservativer Politiker vor ihm formuliert.

1981 wird Richard von Weizsäcker zum Regierenden Bürgermeister Berlins gewählt. Er wird daraufhin der erste Regierende Bürgermeister sein, der sich mit dem DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker in Ost-Berlin trifft. Und nicht, wie es das Protokoll eigentlich vorschreibt, außerhalb der Stadt auf dem Staatsgebiet der DDR.

Ein Bundespräsident, der sich in die Politik einmischt

Für die meisten Berlinerinnen und Berliner ist Richard von Weizsäcker bald einfach nur "Ritchie", ein aristokratischer Politiker zum Anfassen. Ein Pragmatiker, der keine Angst davor hat, der eigenen Partei lästig zu werden, von den Bürgern aber gemocht wird. Doch nach drei Jahren ist die Berliner Mission für Richard von Weizsäcker bereits beendet. 1984 wird er zum Bundespräsidenten gewählt.

Von Anfang an gibt er dem Amt ein neues Gesicht. Er ist das erste Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland, welches das Gebot, sich nicht aktiv in die Tagespolitik einzumischen, verletzt. Er bezieht Stellung, höflich, aber bestimmt, deutlich und direkt. Und er scheut sich nicht davor, seinen Landsleuten den Spiegel vorzuhalten. Seine berühmte Rede am 8. Mai 1985 ist denn auch eine Mahnung an die Deutschen, deren Mehrheit sich als Opfer der Nazizeit sieht.

Richard von Weizsäcker ist ein beliebtes, aber auch manchmal unbequemes Staatsoberhaupt. In seine zweite Amtszeit fällt die Wiedervereinigung Deutschlands, für ihn ein besonderes Ereignis, da auch der Sitz des Bundespräsidenten nach Berlin verlegt wird. Schwere Kritik übt er aber an dem Tempo, mit dem die Einheit vollzogen wird. Viele ehemalige Bürgerinnen und Bürger der DDR würden nicht Schritt halten können mit der Veränderung der Verhältnisse.

1992 nimmt er die Parteien Deutschlands ins Visier. In einem Beitrag für das Wochenblatt "Die Zeit" bescheinigt er allen Parteien Bürgerferne, Egoismus und Selbstherrlichkeit. Sie würden keine langfristigen Lösungen und Programme suchen, sondern wären um nahezu jeden Preis an guten Wahlergebnissen interessiert. Damit artikuliert er eine Stimmung der Parteienverdrossenheit, wie sie bei vielen Deutschen mittlerweile vorherrscht.

Als Richard von Weizsäcker am 31. Januar 2015 in Berlin im Alter von 94 Jahren stirbt, verstummt einer der beeindruckendsten Politiker Deutschlands.

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8.5.1985 | In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag der Kapitulation bezeichnet Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Kriegsende als einen "Tag der Befreiung". Das war damals eine Sensation, denn so eindeutig wie er hat das kaum ein konservativer Politiker vor ihm formuliert.

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