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Rätsel plötzlicher Kindstod – Können Eltern vorbeugen?

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Mareike Gries
Marerike Gries, Autorin und Moderatorin bei SWR Kultur (Foto: SWR)

Die Gründe für den plötzlichen Kindstod waren lange unbekannt. Inzwischen stehen einige Risiken fest wie das Passivrauchen oder die Schlafposition der Kinder. Einzig und allein die Aufklärung der Eltern hat zu einem drastischen Rückgang der Kindstode geführt.

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Wer in Deutschland in den 1960er-, 1970er- oder 1980er-Jahren geboren ist, gehört in der Regel zur "Generation Bauchlage". Ärzte und Hebammen haben den jungen Eltern damals geraten, die Babys auf dem Bauch schlafen zu lassen. Das sollte verhindern, dass sich der noch weiche Kopf des Säuglings abflacht. Außerdem sollte es gut sein für die Muskulatur. Viele Kinder schlafen auch tatsächlich ruhiger, wenn sie auf dem Bauch liegen, weil es ihre Verdauung erleichtert. Inzwischen steht fest: Das Schlafen in Bauchlage ist ein deutlicher Risikofaktor für den plötzlichen Kindstod.

SIDS: 130 Babys pro Jahr in Deutschland betroffen

Doktor Christoph Bührer ist Direktor der Klinik für Neonatologie an der Berliner Charité. Er ist Experte im Bereich des plötzlichen Kindstods, auch SIDS genannt. Die Abkürzung steht für Sudden Infant Death Syndrome. Davon betroffen sind etwa 130 Babys pro Jahr in ganz Deutschland. Bis in die frühen 1990er-Jahre war diese Zahl deutlich höher, sagt Christoph Bührer, denn seitdem sind die Fälle um 90 Prozent zurückgegangen.

Einzig und allein die Aufklärung der Eltern hat zu diesem drastischen Rückgang geführt. Jahrzehntelang war der plötzliche Kindstod für die Medizin ein Rätsel. Obduktionen haben keinerlei Auffälligkeiten ans Licht gebracht, die verstorbenen Kinder waren gesund. Aber sie hatten alle eines gemeinsam: Sie sind im Schlaf gestorben. Still. Ohne, dass die Eltern es mitbekommen haben. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass weltweit protokolliert wurde, wie genau die toten Kinder aussahen, als sie gefunden wurden.

Gähnendes Baby (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / blickwinkel)
Wichtig ist, dass die Kinder in Rückenlage liegen, im Schlafsack stecken und keine Kissen oder Kuscheltiere in ihrer Nähe liegen

Keine Kissen oder Kuscheltiere im Bett

Säuglinge sind nicht in der Lage, selbst eine Decke oder ein Kuscheltier wegzuschieben, wenn sie vor das Gesicht gerutscht sind. Wichtig ist daher, dass die Kinder in Rückenlage liegen, im Schlafsack stecken und keine Kissen oder Kuscheltiere in ihrer Nähe liegen. Trotzdem sind sie nicht vorm plötzlichen Kindstod gefeit – nämlich dann, wenn ihre Eltern rauchen. Nicht nur wegen der Giftstoffe in der Umgebung des Kindes, sondern auch wegen des Passivrauchens im Mutterleib. Das hat eine Studie der Universität Arizona vom Herbst 2019 mit Laborratten bewiesen.

Vorteilhaft, wenn die Mutter im selben Raum schläft

Außerdem beruhigt es Kinder nicht nur, wenn sie merken, dass sie nicht allein in einem Raum schlafen. Auch die Atmung ist konstanter. Die Empfehlung, dass die Kinder im ersten Jahr im Schlafzimmer der Eltern übernachten sollen, hat aber noch einen anderen Grund: den sogenannten Ammenschlaf. Denn wie mit einem siebten Sinn kann die Mutter im Schlaf merken, wenn das Kind in einer misslichen Lage ist. Dafür müssen Mutter und Kind im gleichen Zimmer sein, aber sie dürfen nicht im gleichen Bett schlafen.

Um das sogenannte Co-Sleeping – das Schlafen der Kinder im Elternbett – ist ein regelrechter Glaubenskrieg entbrannt. Die meisten Medizinerinnen und Mediziner raten eindeutig davon ab. Denn als man sich vor 30 Jahren die Schlafsituation der verstorbenen Kinder genauer anschaute, gab es auch immer wieder Kinder, die im Elternbett gestorben sind.

Kinder von weniger gebildeten und ärmeren Eltern eher gefährdet

Der Kölner Kinder- und Jugendarzt und Schlafmediziner Dr. Alfred Wiater hat mit mehreren Ärzten eine Leitlinie erarbeitet, die die Risiken des plötzlichen Kindstods erklärt und Ratschläge zur Vermeidung gibt. Auf dieser Leitlinie basieren die Empfehlungen der meisten Eltern-Kind-Stationen in deutschen Krankenhäusern.

In dieser Leitlinie steht zum Beispiel, dass Babys mit einem Schnuller eher nicht im Schlaf sterben. Allerdings sollte der Schnuller nicht wieder in den Mund gesteckt werden, wenn er beim Schlafen rausgefallen ist. Die Kinder sollten nicht zu warm angezogen werden und drinnen keine Mütze aufhaben. Es wird auch auf das Risiko von Alkohol und Drogen eingegangen, die nicht nur über die Muttermilch in den Blutkreislauf des Kindes gelangen: Der sogenannte Ammenschlaf, der siebte Sinn der Mütter, wird durch Drogen gestört. Und sogar Alkohol in der Atemluft der Eltern hat sich als gefährlich herausgestellt. Der wichtigste Punkt aber steht an Platz eins der Empfehlungen: "Legen Sie Ihr Kind zum Schlafen auf den Rücken. Benutzen Sie dabei eine feste Unterlage."

Lange war nicht klar, ob es eventuell auch genetische Ursachen für den SIDS, den plötzlichen Kindstod geben könnte, sagt Alfred Wiater. Die Frage ist noch nicht abschließend geklärt. Allerdings weiß man inzwischen, dass Kinder von weniger gebildeten und ärmeren Eltern eher gefährdet sind. Und das weltweit.

Die Hand eines Erwachsenen hält eine Baby-Hand (Foto: dpa Bildfunk, Fotograf:Arno Burgi)
Ist die Schlafumgebung sicher, ist auch das Kind in Sicherheit

Aktuell gibt es kein zentrales Register, das die plötzlichen Säuglingstode erfasst. Daher lässt sich nur vermuten, warum es das Phänomen trotz flächendeckender Aufklärung nach wie vor gibt. Ärztinnen und Ärzte vermuten, dass es vor allem daran liegt, dass noch immer während der Schwangerschaft und danach geraucht wird. Und dass sich nicht alle Eltern ausreichend an die Empfehlungen zur sicheren Schlafumgebung halten. Außerdem versterben immer wieder Kinder in den ersten Stunden nach der Geburt am SIDS, wenn sie auf der Brust ihrer erschöpften Mutter liegen und die Atmung nicht sorgfältig überwacht wird.

Hilfreich für den Trauerprozess: betroffene Eltern raten zur Obduktion

Die Eltern Albrecht und Martina Stoiber beraten heute selbst vom Kindstod betroffenen Eltern. Ihre Tochter Franziska ist 1987 am plötzlichen Kindstod gestorben. Die Ursachen waren damals noch nicht bekannt. Seitdem engagieren sie sich in der gemeinsamen Elterninitiative "Plötzlicher Säuglingstod", kurz GEPS. Sie raten Eltern zum Beispiel dazu, das Kind obduzieren zu lassen, wie sie es selbst auch getan haben. Auch, wenn das für viele Betroffene eine schlimme Vorstellung ist. Doch nur so kann die tatsächliche Todesursache wirklich abgeklärt werden, was beim Trauerprozess der Eltern helfen kann.

Doch die Obduktionsrate geht in Deutschland immer weiter zurück. Das liegt zum einen daran, dass es zu wenig Pathologien gibt und dass Obduktionen teuer sind. Häufig müssen die Eltern sie selbst bezahlen. Außerdem ist unter den Medizinern und Medizinerinnen die Meinung verbreitet, dass die Auffinde-Situation bei SIDS so eindeutig ist, dass eine Obduktion überflüssig ist und die Eltern nur zusätzlich belasten würde. Albrecht und Martina Stoiber sehen das anders. Sie sind inzwischen unfreiwillig zu Experten für SIDS geworden.

Jahrhundertelang war der plötzliche Kindstod ein Rätsel. Immer ist er ein Drama für die Eltern. Viele Fragen rund um mögliche Ursachen konnten inzwischen geklärt werden. Fest steht: Ist die Schlafumgebung sicher, ist auch das Kind in Sicherheit.

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