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Psychopharmaka – Ausschleichen statt absetzen

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Martin Hubert
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Ulrike Barwanietz
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

Psychopharmaka haben oft schwere Nebenwirkungen. Mehr als die Hälfte der Betroffenen setzt die Medikamente daher selber ab. Allerdings gibt es dabei Probleme ähnlich einem Entzug.

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Über eine Million Menschen leiden in Deutschland unter einer Psychose, meist heißt die Diagnose dann "Schizophrenie". Psychosen beeinträchtigen das Fühlen, das Denken, das Sprechen und das Verhalten. Die Betroffenen hören oft fremde Stimmen und steigern sich manchmal in Wahnvorstellungen hinein.

Das Hilfsangebot der Psychiater lautet standardmäßig: Psychopharmaka schlucken und eine Psychotherapie machen. Und bei schweren Psychosen betonen sie, dass es ohne Psychopharmaka wirklich gar nicht gehe. Die Medikamente müssen dann zwar irgendwann wieder abgesetzt oder – wie die Psychiater sagen – "ausgeschlichen" werden.

Kritik an Standardauffassung

Aber zunächst einmal sind Psychopharmaka langfristig zu nehmen, da sonst die Gefahr besteht, dass die Psychose chronisch wird. An dieser Standardauffassung gibt es jedoch zunehmend Kritik. Mehrere internationale Studien haben in den letzten Jahren gezeigt, dass bis zu 75 Prozent der Patienten ihre Psychopharmaka frühzeitig und eigenmächtig absetzen. Ein Grund dafür sind die heftigen Nebenwirkungen.

In den 1990er-Jahren versprachen neue Psychopharmaka, die Therapie von Psychose-Patienten zu verbessern: die sogenannten "atypischen Antipsychotika". Sie sollten wirksamer sein und die Patienten mit weniger Nebenwirkungen plagen als die so genannten "typischen Antipsychotika", die seit den 1950er-Jahren verschrieben werden.

Keine neuen Medikamente in Sicht

Vor allem sollten sie motorische Nebenwirkungen verringern, also Verkrampfungen und Zuckungen. Doch diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. So jedenfalls Prof. Gerhard Gründer vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Er ist auch Leiter des Referats für Psychopharmakologie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Neurologe und Psychosomatik.

Die Psychiater verschreiben daher auch weiterhin die alten Antipsychotika, völlig neue Medikamente sind nicht in Sicht. In Deutschland verpflichtet ein Gesetz aus dem Jahr 2011 die Pharmaindustrie, dass ein neues Medikament nachweislich einen besseren Nutzen als die alten haben muss. Seitdem wurde keinem neuen psychiatrischen Präparat ein Zusatznutzen bescheinigt. Einige Pharmafirmen haben sich daher aus diesem Markt zurückgezogen. Vertreter der Pharmaindustrie sprechen von einer Krise.

Kurzfristig und minimale Dosen

Auch die bisherige Standardauffassung, dass man die Medikamente bei schweren Psychosen auf jeden Fall ein Jahr oder länger einnehmen müsse, wird inzwischen kritisch diskutiert. Denn einige Studien zeigen, dass es Patienten langfristig besser ging, wenn sie die Medikamente maximal ein halbes Jahr oder nur in minimaler Dosierung erhielten.

Gespräch während einer Therapiesitzung: Eine verzweifelte Frau sitzt ihrem Therapeuten gegenüber (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Entscheidend für den Therapieerfolg ist ein intensiver persönlicher Dialog mit den Patienten, denn jede Psychose ist individuell

Vor allem ihre Lebensqualität war dann entscheidend höher. Sie konnten ihr Leben besser gestalten als Patienten, die längerfristig höhere Medikamentendosierungen eingenommen hatten. Sie lebten zum Beispiel in einer festen Beziehung und gingen einer Arbeit nach.

Innovative und individuelle Medizin

Immerhin hat eine europäische Initiative inzwischen auch auf die Krise der Psychopharmaindustrie reagiert und sucht nach dem patientengerechteren Medikament der Zukunft.

Die Europäische Föderation der Pharmaindustrie und die Europäische Union gaben jeweils eine Milliarde Euro und gründeten die "Innovative Medicine"-Initiative, eine Partnerschaft zwischen Pharmaindustrie und öffentlicher akademischer Forschung. Das Teilprojekt "Newmeds" beschäftigte sich dabei mit Schizophrenien und Depressionen.

Gründer vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit reichen diese Anstrengungen nicht, um Medikamente herzustellen, die die Lebensqualität der Patienten langfristig verbessern. Dafür seien völlig neue Ansätze und Studiendesigns nötig.

Viele Wissenschaftler sind überzeugt, dass es für die heutige Psychiatrie mindestens ebenso wichtig ist, den Patienten beim Absetzen zu helfen wie nach besseren Medikamenten zu suchen. Entscheidend dafür ist ein intensiver persönlicher Dialog mit den Patienten – denn jede Psychose ist individuell.

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