SWR2 Wissen

Mit Ketamin und Botox gegen Depressionen – Fortschritte bei der Behandlung

STAND
AUTOR/IN
Jochen Paulus
Jochen Paulus (Foto: Jochen Paulus)
ONLINEFASSUNG
Maurice Pflug / Candy Sauer

Es kann lange dauern, bis das richtige Medikament für die Behandlung einer Depression gefunden ist. Ketamin und Botox scheinen schnell zu helfen, müssen aber weiter erforscht werden.

Audio herunterladen (26,6 MB | MP3)

Wahrscheinlichkeit, auf ein Antidepressivum anzusprechen, liegt bei 40 Prozent

Medikamente sind die Standardbehandlung bei Depressionen: Manchen Erkrankten helfen sie, sehr vielen aber auch gar nicht. Entsprechend groß ist die Kontroverse um ihre Anwendung. Ein Überblick über die Fachliteratur konstatiert ein Patt zwischen den Befürwortern und den Skeptikern.

Laut Martijn Arns von der Universität Utrecht liegt die Wahrscheinlichkeit, auf ein Antidepressivum anzusprechen, bei etwa 40 Prozent und damit nur zehn bis 15 Prozentpunkte über dem Anteil jener, die positiv auf ein Placebo reagieren. Nur bei gut der Hälfte hält die Besserung länger als ein halbes Jahr an.

Antidepressiva können abhängig machen

Eine geringe Erfolgsaussicht wäre noch kein so großes Problem, wenn es nicht andererseits viel zu verlieren gäbe: Die derzeitigen Antidepressiva können auf Dauer für Probleme sorgen. Der Körper gewöhnt sich an sie wie an eine Droge. Deshalb erleben etliche Behandelte eine Art Entzug, wenn sie die Mittel absetzen.

Diese Faktoren müssen der Schwere des Leidens gegenübergestellt werden: Depressionen können derart belastend sein, dass auch eine geringe Erfolgsaussicht schon ein Hoffnungsschimmer ist.

An neuen Medikamenten wird geforscht

Darum suchen Forscherinnen und Forscher auch weiterhin nach neuen Heilmitteln. Dabei testen sie auch solche, die sich bei anderen Problemen bewährt haben und die man für einen Einsatz gegen Depressionen eher nicht vermuten würde, etwa Botox und Ketamin.

Botox glättet die Zornesfalte und wirkt wohl positiv auf depressive Gefühle

Botox ist das hochwirksame Gift eines Bakteriums. Es wird in die Stirn, genauer: die Glabella-Region, gespritzt. Diese ist auch als „Zornesfalte“ bekannt. So wird die Möglichkeit, Wut oder Traurigkeit auszudrücken, reduziert. Es ist noch nicht sicher, ob depressive Gefühle schon abnehmen, weil sie nicht mehr ausgedrückt werden können. Auch mittelbare Effekt, wie die positive Reaktion der Mitmenschen auf einen freundlichen Gesichtsausdruck, werden diskutiert. Außerdem könnte die Injektion unmittelbare chemische Folgen für das Gehirn haben. Aufgrund erster positiver Ergebnisse sollen derlei Fragen geklärt werden, bevor Botox zur Behandlung von Depressionen zugelassen wird.

Eine Frau runzelt die Stirn, sodass man die Zornesfalte sieht. Es ist noch nicht sicher, ob depressive Gefühle schon abnehmen, weil sie nicht mehr ausgedrückt werden können – etwa durch die Faltenglättung mithilfe von Botox. (Foto: IMAGO, imago images / Ikon Images)
Die Zornesfalte der Glabella-Region liegt zwischen den Augenbrauen. Sie mit Botox zu behandeln, soll positive Effekte auf Menschen mit Depressionen haben. Der genaue Wirkzusammenhang ist noch nicht bekannt und wird in weiteren Studien erforscht.

Ketamin kann besonders schnell wirken

Ketamin sorgt derzeit für viel Aufregung in der Depressionsbehandlung. Es ist auf dem Schwarzmarkt als Droge erhältlich, eigentlich aber ein Schmerz- und Narkosemittel, das seit Jahrzehnten bei Operationen eingesetzt wird. Zufällig wurde festgestellt, dass sich bei depressiv Erkrankten nur wenige Stunden nach einer Operation die Stimmung hob, wenn Ketamin eingesetzt wurde. Bei verbreiteten Antidepressiva beginnt die Wirkung hingegen häufig erst nach mehreren Wochen. Aufgrund der langen medizinischen Erfahrung mit Ketamin können Nebenwirkungen ausgeschlossen werden. Doch auch hier bedarf es weiterer Studien, bis eine entsprechende Behandlung von Krankenkassen übernommen wird.

Präzisionsmedizin: Betroffene mit dem passenden Medikament behandeln

Meist ist nicht klar, welchen Patienten welches Medikament hilft. Hier treffsichere Vorhersagen machen zu können, ist das Ziel der Präzisionsmedizin. Brenda Penninx von der Freien Universität Amsterdam etwa spricht davon, „zwei oder drei relativ homogene Untergruppen von Patienten unterscheiden“ zu können. Nur bei einer Gruppe mit schweren Symptomen zeigt sich ein überaktives Immunsystem, das gezielt behandelt werden sollte.

Martijn Arns von der Universität Utrecht untersucht am EEG den Zusammenhang von Gehirnwellenmustern und Behandlungserfolgen. Über Elektroden misst er die Hirnströme von Betroffenen und klassifiziert sie nach Frequenz, Asymmetrie und einer speziellen Art Gehirntätigkeit, die sich auch im Fall von Epilepsie findet. Damit hofft er, vorhersagen zu können, welche Medikamente am besten helfen – aber auch, ob womöglich eine Stimulation des Gehirns mit elektrischem Strom oder doch eine Psychotherapie mehr Erfolg versprechen.

Einer Frau werden Sacht die Elektroden eines EEG am Kopf angebracht (Foto: IMAGO, imago images / Science Photo Library)
Mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG) können Hirnwellenströme erfasst werden. Hierzu werden Elektroden am Kopf angebracht. Martijn Arns erhofft sich davon mehr Erfolge bei der gezielten Behandlung von Depressionen.

Der richtige Umgang mit dem eigenen Leiden ist Teil der Genesung

Aufgrund der schweren Bestimmbarkeit einer passenden Behandlung erscheint es umso wichtiger, dass Betroffene, etwa im Kontext einer Verhaltenstherapie, lernen können, sich mit ihrem Leiden auseinanderzusetzen und umzugehen.

Der US-amerikanische Autor Andrew Solomon hat die Reflexion auf sein eigenes depressives Leiden zum Ausgangspunkt für ein Sachbuch genommen. "Saturns Schatten" wurde ein Bestseller, auch dank Solomons persönlicher Schilderungen.

Heute hofft er, eine pragmatische Perspektive auf diesen Aspekt seines Lebens einnehmen zu können. Er sagt: „Jetzt habe ich das Gefühl, dass ich traurig sein kann und unruhig, aber ich kann mir sagen: Okay, im Moment fühle ich mich zwar schrecklich, ich fühle mich traurig, aber damit hat es sich auch. Ich habe eine Art Sicherheitsnetz.“

SWR 2020/2021

Literatur

Psychologie Psychisch krank im Studium

Depressionen, Prüfungsängste, Traumata: Laut einer Studie hat jeder dritte Studierende psychische Probleme. Wie gehen Hochschulen damit um – und wie gelingt das Studium trotzdem?

SWR2 Wissen SWR2

Psychologie Angst online behandeln – Psychotherapien im Netz

Täuschend echte Spinnen, beängstigend steile Schluchten: Forscher entwickeln virtuelle Szenarien, um Angstpatienten zu behandeln. Kann man damit Psychotherapeuten ersetzen?

SWR2 Wissen SWR2

Christiane Wirtz im Gespräch Psychische Diagnosen: Darüber reden oder verschweigen?

Wer eine psychische Diagnose bekommt, fühlt sich häufig mit einem Stigma behaftet. Christiane Wirtz hat sich vor rund zwei Jahren dennoch für ein „Outing“ entschieden und sich umgehört, wie es andere machen.

SWR2 Leben SWR2

Psychologie Gekränkt vom Leben: Wege aus der Verbitterung

Wer einmal verbittert ist, kommt nur schwer aus dieser Stimmung raus. Psychotherapeuten behandeln mittlerweile die "posttraumatische Verbitterungsstörung". Was steckt dahinter?

SWR2 Wissen SWR2

Psychologie Prokrastination – Wann Aufschieben schadet und wann es nützt

Wäsche waschen statt zu arbeiten: Wir alle haben schon mal prokrastiniert. Für manche wird das Aufschieben aber zur echten Lebenskrise. Wie entkommen sie der Prokrastination?

SWR2 Wissen SWR2

Psychologie: aktuelle Beiträge

Gesellschaft Cyberstalking – Was tun gegen digitale Gewalt?

Sie werden digital beleidigt und bedroht: Häufig sind Frauen die Opfer von Cyberstalking. Obwohl der Stalking-Paragraf verschärft wurde, ist es schwer, die Täter zu belangen. Von Eckhard Rahlenbeck. (SWR 2022) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/cyberstalking | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/mark-aurel | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@SWR2Wissen
Hilfe und Informationen über Stalking, insbesondere Cyberstalking und digitaler Gewalt:
- Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 08000116016 oder hilfetelefon.de/gewalt-gegen-frauen/stalking.html
- Stop-Stalking, selbst.bestimmt e.V.: https://www.stop-stalking-berlin.de/de/home/
- HateAid: https://hateaid.org/betroffenenberatung/

SWR2 Wissen SWR2

Erziehung Warum Grenzen für Kinder wichtig sind und wie man sie setzt

Wie viel Grenzen sind gut für mein Kind? Was ist mit meinen eigenen Grenzen? Erziehungsexpert*innen sind sich einig: manchmal braucht es ein klares Nein. Aber Grenzen dürfen auch flexibel sein - und vor allem müssen Eltern ihre eigenen kennen. Von Elena Weidt. (SWR 2023) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/grenzen-kinder | Hier findet Ihr zwei Links zu Studien mit dem Thema Erziehungsstile und den Einfluss autoritärer Erziehung: http://x.swr.de/s/parenting, http://x.swr.de/s/achievement. Weitere Links zu Studien findet Ihr im Manuskript. Wenn Ihr euch für Erziehungsthemen interessiert, könnte auch die SWR2 Wissen Sendung: „Jesper Juul – Das Erbe des Erziehungsexperten“ spannend für euch sein. Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@SWR2Wissen

SWR2 Wissen SWR2

Psychologie Die Psychologie des Vergessens – Warum Nicht-Wissen schwerfällt

Wir müssen vergessen, um künftige Aufgaben bewältigen zu können. Routinen und Emotionen erschweren das aber. Und wer sich zwingt, etwas vergessen zu wollen, bewirkt oft das Gegenteil. Von Martin Hubert. (SWR 2021) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/psychologie-vergessen | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@SWR2Wissen

SWR2 Wissen SWR2

Medizin und Gesundheit: aktuelle Beiträge

Medizin Programm „Old for Old“: Spenderorgane älterer Menschen nutzen

Viele denken, dass nur junge Menschen Organe spenden können und ältere Organe gar nicht mehr zu gebrauchen sind. Das ist aber überhaupt nicht so. „Old for Old“ heißt ein Programm, bei dem die Organe älterer Menschen älteren Menschen transplantiert werden. Ein Beispiel aus Pellingen bei Trier.

SWR2 Impuls SWR2

Medizin Risiko an Infektionskrankheiten steigt durch Klimawandel

Der Klimawandel erhöht das Risiko von Infektionskrankheiten. Durch steigende Temperaturen breiten sich Krankheitsüberträger wie Zecken und Mücken stärker aus und auch tropische Arten wie die Tigermücke werden bei uns heimisch. Expert*innen fordern das Gesundheitssystem auf, sich auf diese Veränderung vorzubereiten.

SWR2 Impuls SWR2

Medizin Weltnichtrauchertag: Strategien gegen das Rauchen

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben jährlich mehr als 7 Millionen Menschen an den Folgen des Rauchens. Der heutige Weltnichtrauchertag soll auf die Risiken des Rauchens aufmerksam machen und Strategien gegen das Rauchen fördern.

SWR2 Impuls SWR2

STAND
AUTOR/IN
Jochen Paulus
Jochen Paulus (Foto: Jochen Paulus)
ONLINEFASSUNG
Maurice Pflug / Candy Sauer