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Massenpanik verhindern – Zehn Jahre nach der Loveparade Duisburg

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Michael Stang
Michael Stang (Foto: Michael Stang)
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Menschliches Verhalten lässt sich nie absolut richtig vorhersagen. Aber es gibt viele Aspekte, die die Sicherheit der Teilnehmenden bei großen Veranstaltungen weitgehend gewährleisten.

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Forschung arbeitet an Sicherheitskonzepten

Dr. Maik Boltes und sein Team am Forschungszentrum Jülich forschen daran, dass es erst gar nicht zu Massenpaniken wie bei der Loveparade am 24. Juli 2010 in Duisburg oder anderen Unglücken kommen kann. Bei Experimenten stellt Boltes fest, dass sich Menschen im Gedränge unterschiedlich schnell fortbewegen. Auch die kulturelle Prägung beeinflusst ihr Verhalten: Inder etwa laufen bei hoher Dichte schneller als Deutsche.

Solche Erkenntnisse können in die Sicherheitskonzepte für U-Bahnen, Stadien oder Veranstaltungsorte einfließen. Bis Sommer 2021 wollen Maik Boltes und seine Kollegen in dem Projekt, das das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt 2,1 Millionen Euro fördert, neue Experimente mit weiterentwickelten Methoden durchführen. Neben individuellen Laufwegen wollen die Forscher unter anderem körperliche Reaktionen der Probanden erfassen, die Rückschlüsse auf deren Stresslevel ermöglichen.

Unglücksort unterhalb der Brücke führte während der Loveparade 2010 zu 21 Toten (Foto: IMAGO, imago stock&people)
Der Unglücksort unterhalb der Brücke führte während der Loveparade 2010 in Duisburg zu 21 Toten

10 Verhaltenstipps bei Massenpanik

Auch wenn derzeit durch die Corona-Krise bedingt weniger oder gar keine Großveranstaltungen stattfinden, ist es ratsam, die Verhaltenstipps des französischen Forschers Mehdi Moussaid, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, parat zu haben:

1. Halten Sie die Augen geöffnet und beobachten Sie die Szene. Ist es besser, umzukehren oder vorwärts zu gehen?

2. Verlassen Sie den Ort. Je länger Sie warten, desto kritischer wird es.

3. Bleiben Sie aufrecht stehen. Wenn es zu spät ist, um zu fliehen, ist es am wichtigsten, das Gleichgewicht zu halten und aufrecht zu bleiben.

4. Sparen Sie Ihren Atem: Sauerstoff ist Ihre wertvollste Ressource. Vermeiden Sie es zu schreien, es sei denn, Sie müssen, und kontrollieren Sie Ihre Atmung.

5. Verschränken Sie die Arme auf Brusthöhe. Dadurch können Sie ihren Brustkorb schützen und einige Zentimeter Platz um die Rippen und Lungen lassen, damit Sie atmen können.

Loveparade Gedenkstätte an der Karl-Lehr-Straße in Neudorf (Foto: IMAGO, imago stock&people)
Loveparade Gedenkstätte an der Karl-Lehr-Straße in Neudorf

6. Gehen Sie mit dem Strom. Widerstand inmitten einer Menschenmenge ist eine Verschwendung wertvoller Energie. Lassen Sie sich vom Fluss tragen und behalten Sie das Gleichgewicht.

7. Entfernen Sie sich von Barrieren wie Wänden, Säulen und Zäunen.

8. Verstehen Sie die Anzeichen von Dichte, um den Ernst der Situation einzuschätzen. Als Faustregel gilt: Wenn Sie Ihre Hände nicht frei bewegen können und es schwierig ist, Ihr Gesicht zu berühren, gibt es zu viele Menschen – akute Gefahr!

9. Im Falle einer Panik: In einer solchen Situation kann die Bewegung der Menge sehr gefährlich sein. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um die Situation zu bewerten und sich ruhig in Sicherheit zu bringen.

10. Helfen Sie sich gegenseitig: Eine gefährliche Situation für Sie ist für Ihre Umgebung genauso gefährlich. Altruismus und gegenseitige Unterstützung sind der Schlüssel zur Vermeidung von Tragödien. Eine vereinte Menge überlebt eher als eine Menge von Individualisten.

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Massenpanik 2006 in Mekka: 360 muslimische Pilger starben

Immer wieder kommt es bei großen religiösen Festen zu Gedränge, das dann in eine Massenpanik umschlagen kann. So geschehen auch am 12. Januar 2006 in Minā bei Mekka. Bei der traditionellen Pilgerfahrt Hadsch starben mehr als 360 muslimische Pilger.

Nach dem Unglück beauftragte die saudische Regierung ein Forscherteam aus Deutschland. Es sollte ein Sicherheitskonzept entwickeln, um die Pilgermassen des nächsten Haddsch zu lenken, der bereits am Jahresende anstand. Eine schwere Aufgabe, erinnert sich Sven Müller, Professor der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Denn es gab kaum Daten, mit denen die Wissenschaftler hätten rechnen können.

Die Pilger umrunden in Mekka die Kaaba siebenmal gegen den Uhrzeigersinn. Rund um die Wallfahrt, zu der für die gläubigen Muslime auch ein Besuch im östlich von Mekka gelegen Tal Minā gehört, kommt es immer wieder zu Massenpaniken und Unglücken mit vielen Toten. Forscher arbeiten an Sicherheitskonzepten. (Foto: IMAGO, imago images / ZUMA Press)
Die Pilger umrunden in Mekka die Kaaba siebenmal gegen den Uhrzeigersinn. Rund um die Wallfahrt, zu der für die gläubigen Muslime auch ein Besuch im östlich von Mekka gelegen Tal Minā gehört, kommt es immer wieder zu Massenpaniken und Unglücken mit vielen Toten. Forscher arbeiten an Sicherheitskonzepten.

Deutsche Forscher optimieren Menschenströme in Mekka

Fußgängerströme zu lenken sei gut möglich, wenn man mit bekannten Faktoren rechnen kann, etwa mit der Anzahl der registrierten Pilger, erklärt Sven Müller. Die dafür notwendigen Daten ergeben sich zum Beispiel aus der Anzahl der Visa oder der Buchungen über Reisegesellschaften. Schwieriger wird die Aufgabe, wenn mehrere hunderttausend nicht angemeldete Pilger dazu stoßen – auch die mussten ab 2006 eingerechnet werden.

Die Forscher werteten auch Videomaterial vergangener Pilgerfahrten aus und entwickelten ein mathematisches Konzept, mit dem die Pilgermassen der kommenden Jahre gut und sicher gelenkt werden konnten. Bis 2014 gab es keine Massenunfälle mehr. Aber Anfang 2015 starb Saudi-Arabiens König Abdullah, sein Halbbruder übernahm das Amt. In der Folge wurden Ministerien neu besetzt. Die Forscher aus Deutschland waren in die Haddsch-Planung 2015 nicht mehr involviert. Genau in diesem Jahr, am 24. September, kam es wieder zu einem Unglück. Von 2016 bis 2018 waren die deutschen Forscher wieder dabei und optimierten erneut die Menschenströme in Mekka.

Drohnen beobachten Menschenströme

Professor Thomas Sikora vom Institut für Telekommunikationssysteme an der Technischen Universität Berlin arbeitet an beweglichen Kamerasystemen, aufgehängt an Drohnen. Damit lassen sich Unfälle oder Katstrophen von oben beobachten, Rettungskräfte können entsprechend geleitet werden. Bei einigen Verfahren ist es dabei nicht notwendig, dass Einzelpersonen gescannt werden, sondern nur die Dichte der Menge als Diagramm angezeigt wird.

Forschungsziel: kritische Szenarien möglichst früh automatisch erkennen

Noch aber ist die Liste der technischen Fragen länger als die der Antworten: Verdichtet sich die Menge auf einmal an einem Punkt? Laufen Menschen in entgegengesetzter Richtung einer Einbahnstraße? Beginnt eine Gruppe zu rennen? Genau solche kritischen Szenarien sollen frühzeitig und automatisch erkannt werden. Das Berliner Team will mit seiner Software Menschenmengen als eine Art Fluss betrachten und dann bestimmte Arten einer Visualisierung anbieten, die es den Benutzern erlauben, schnell die Szene zu überblicken.

Nach einem Anschlag in Paris St. Denis im Jahr 2015 flüchten die Fans in den Innenraum des Stadions (Foto: IMAGO, imago sportfotodienst)
Nach einem Anschlag in Paris St. Denis im Jahr 2015 flüchten die Fans in den Innenraum des Stadions

Bis tatsächlich automatische Systeme mit fliegenden Drohnen Konzertbesucher, Pilgerinnen oder Demonstrierende beobachten und ihre Bewegungsflüsse analysieren, wird es jedoch noch eine Weile dauern.

Welche Sicherheitsvorkehrungen und Konzepte die Veranstalter der nächsten Loveparade vorsehen werden, ist noch nicht klar. Einen Termin für das erste Technofest nach der Katastrophe von Duisburg vor zehn Jahren gibt es aber schon: Es ist der 10. Juli 2021.

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