Als die Computer und das Internet kamen, war Medienkompetenz das große Schlagwort. Jetzt zieht die Künstliche Intelligenz zunehmend in den Alltag ein – brauchen wir also eine KI-Kompetenz?
Informatisches Denken – auch ohne Computer
Das „Haus der kleinen Forscher“ in Berlin-Mitte. 200 Frauen und Männer setzen sich hier für die naturwissenschaftliche und mathematische Bildung der Kinder in Deutschland ein. Seit 2017 bietet das „Haus der kleinen Forscher“ auch den Workshop „Informatische Bildung“ an, gedacht für Kinder im Alter zwischen 3 und 10 Jahren. Untertitel: „Informatik entdecken – mit und ohne Computer“.
Auch Manuela Krause nimmt mit ihrer Kita-Gruppe daran teil. Sie ist „Forscherbeauftragte“ an einer Kindertagesstätte in Berlin- Zehlendorf und experimentiert selbst viel mit den Kindern, die sie betreut. Die 57-jährige Erzieherin hat gemerkt: Das Thema Informatik erzeugt im Alltag ganz viele Aha-Effekte – auch ganz ohne Computer. Die Kinder stellen zum Beispiel fest: Der Mittagstisch wird nicht irgendwie, sondern nach genau definierten Regeln gedeckt. Es fängt mit der Anzahl der Gedecke an, das Gericht bestimmt die Teller und Bestecke, die Ordnung im Schrank beeinflusst, welche Dinge in welcher Reihenfolge herausgeholt werden. Typische Elemente informatischen Denkens.
„Das Kinder-Zählen, das Tisch-Decken und so weiter und so fort, also das begleitet uns wirklich den ganzen Tag, aber man macht sich das eigentlich nicht bewusst.“
Wenn man es sich bewusst macht, findet die Erzieherin, ist informatische Bildung auch nicht mehr kompliziert. Sie möchte zwar nach wie vor in der Kita keine Computer für die Kinder haben. Aber sie will die Mädchen und Jungen vernünftig vorbereiten.
„Und dann sind eben so ganz einfache Sachen wie Reihenfolgen, Befehle, Eingaben machen und so weiter ganz wichtig.“

Was ist KI-Kompetenz?
Den Fünf- und Sechsjährigen ist auch schon klar, dass aus Zahlen und Daten Informationen werden, wenn man sie verknüpft. Aus einem Geburtsdatum lässt sich das Alter eines Kindes ableiten. Wer weiß, wie viele Kinder gerade in der Kita sind, weiß auch, wie viel Essen zubereitet werden muss und wann man damit beginnen sollte.
Das „Haus der kleinen Forscher“ hält ein ganzes Materialpaket zum informatischen Denken bereit – auf Karten gibt es Ideen und Spielanregungen für die Kinder, in einer Broschüre Praxistipps für Erzieherinnen und Erzieher und Lehrkräfte. Die älteren Kinder bekommen auf diesen Entdeckerkarten schon ein paar Anregungen dazu, worauf die Informatik und Algorithmen eigentlich abzielen. Ein paar Beispiele:
- Wie man beim Streichholzspiel garantiert gewinnt: „Worauf muss du achten, damit du nicht verlierst? Probier diese Strategien aus.“
- Zählen wie ein Computer: „Karla erfindet eine Geheimsprache. Sie sagt „Bip“ für 1 und „Bop“ für 0. Probiert die Bip-Bop-Geheimsprache aus.“
- Was es heißt, vernetzt zu sein: „Denk dir ein gutes Passwort aus!“
- „Bau dir deinen eigenen Roboter. Welche Programme hat er?“
„Da lernt man: Es ist menschengemacht“, sagt Workshopleiterin Mary Radtke. Die Art, wie ein Programm abläuft oder sich ein Roboter verhält, ist nicht alternativlos. „Es ist nicht einfach da. Sondern jeder kann sich über dieses Gerät informieren, wie es funktioniert. So wird man selbstständig und mündig.“
Lernen, wie Maschinen zu denken
Im Berliner „Haus der kleinen Forscher“ plädiert man dafür, für Kinder ab drei Jahren informatisches Denken „anzubahnen“. Tatsächlich raten die meisten Experten dazu, dieses „Denken der Maschinen“ möglichst früh zu vermitteln, um von Anfang an entscheiden zu können, mit welchen Daten intelligente Systeme arbeiten dürfen. Und um zu lernen, das Reale vom maschinell Erzeugten zu unterscheiden.
Denn das „Reale“ bleibt wichtig: Martin Kaevats ist Digitalberater der Regierung von Estland, einem Land, das in der Digitalisierung so weit vorangeschritten ist wie kaum ein anderes. Er sagt: Seine eigenen drei Kinder sollten vor allem wissen, wie man eine Ziege melkt.
„Ich glaube, Regierungen sind gut damit beraten, eine Kultur und Denkweise der Offenheit, Anpassungsfähigkeit und Empathie zu fördern. Wir sollten unseren Kindern nicht beibringen, mit Robotern zu konkurrieren. Diesen Wettbewerb werden die Roboter gewinnen.“

KI-gestützter Unterricht
KI werde den Unterricht verändern, davon ist der Informatikprofessor Stefan Kopp am Bielefelder CITEC-Institut überzeugt. Das Lernen werde persönlicher und effektiver. Weil sich die Geräte auf jede Person einzeln einstellen und „mit“ ihr lernen.
So stellt es sich auch der Kognitionspsychologe und Kybernetiker Daniel Hromada vor, Professor für Digitale Bildung an der Berliner Universität der Künste. Er entwickelt gerade die erste digitale Fibel, das Erst-Lesebuch für die Schulanfänger. Vor ihm liegt ein Prototyp: ein großformatiges Buch mit leeren Seiten. Man sieht keine Texte, aber einen kleinen Flachbildschirm, einen Prozessor, einen Lautsprecher und eine Batterie.
Digitale Fibel
Die digitale Fibel besitzt ein Modul „Lesen, Hören, Schreiben, Sprechen“. Und es werde noch mehr Kategorien geben: Musizieren. Pflanzen erkennen. „Lernen eigentlich ist fast immer Lernen der Assoziationen“, sagt Hromada.
Gleichzeitig könnten die Kinder mit allen Sinnen lernen. Sie sehen oder hören, was sie sprechen und umgekehrt. Daniel Hromada möchte, dass die digitale Fibel dann irgendwann jedes Kind erkennt – und seine Art zu lernen analysiert:
Wo liegen beim Lesen die Schwierigkeiten? Verursacht der erste Buchstabe Probleme? Oder etwas anderes? Das Gerät kann dabei helfen, das Problem zu erkennen und auch eine ganz persönliche Lösung dafür zu finden.
Kommen solche Geräte zum Einsatz, haben im Klassenzimmer selbst Lehrerinnen und Lehrer mehr Zeit für persönliche Gespräche, glaubt Hromada. Sie könnten sich außerdem von Robotern entlasten lassen.
„Weil Kinder Roboter lieben. Sie sehen in ihnen kleine Weggefährten. Sie sind unbefangener, weil das Gerät keine Autorität ausstrahlt. Also sind sie entspannter, und entspannter lernen sie besser und machen überhaupt alles besser.“

Individuelles Lernen dank KI?
Die Universität Plymouth in Großbritannien veröffentlichte 2017 eine Untersuchung, in der in einer Grundschule zwei Wochen lang Roboter am Unterricht teilnahmen. In einer Klasse ging der Roboter nicht auf jedes Kind und seine Art des Lernens ein – in der anderen Klasse „kollaborierte“ das Computersystem hingegen mit dem jeweils lernenden Kind. Ergebnis: Die sogenannten personalisierten Roboter halfen den Kindern, ihre Lernergebnisse zu verbessern – vor allem bei ganz neuartigen Aufgaben. Bei den ihnen bekannten, üblichen Aufgaben wie etwa in Mathematik hatte der kollaborierende Roboter keinen Effekt.
Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie und der Augsburger Schulpädagogikprofessor Klaus Zierer haben über 80.000 Bildungsstudien mit Blick auf den computergestützten Unterricht ausgewertet und kommen im Jahr 2019 zu dem Schluss: „Das Digitale und die Geräte verbessern das Lernen nicht merklich – die guten Gespräche über den neuen Lernstoff hingegen erreichen dies sehr wohl.“
Der amerikanische Bildungsforscher Stuart Elliott leitet daraus ab: „Ich glaube, wir müssen den Kindern künftig mehr dabei helfen, Themen zu finden, die sie wirklich interessieren. Und sie darin trainieren, sich intensiv mit diesen Themen zu befassen.“
Viele Experten empfehlen daher auch, sich in der Bildung gerade jetzt noch stärker auf nicht-technisierbare Kompetenzen wie Inspiration und Intuition, Neugier, Sinneswahrnehmung, die emotionale Intelligenz zu konzentrieren.
SWR 2019