Seine Kunst, anfangs geprägt vom Wiener Jugendstil, wird später brutal expressiv. Nach seinem Tod war Egon Schiele in der Kunstwelt eine Zeit lang nahezu vergessen.

Heute erzielen seine Bilder Höchstpreise. Leben und Werk wendet man sich neu zu. Vor allem die vielen Selbstporträts, die schonungslosen Bilder nackter Mädchen und sein Selbstverständnis als Künstler spielen dabei eine wichtige Rolle. Was macht diesen Maler, dessen Geburtstag sich am 12. Juni 2020 zum 130. Mal jährt, so faszinierend und begehrt?
Die Selbstdarstellung des Künstlers ist einer der neueren Forschungsansätze. Doch auch ein Blick in die Biografie hilft, um ein besseres Verständnis für die ausgezehrten, überdehnten Körper zu entwickeln, die Schiele malt, und für seine Zeichnungen von nackten Mädchen und jungen Frauen in intimen Momenten.
Prägende Familienverhältnisse
Egon Schiele wächst Ende des 19. Jahrhunderts in einem Frauenhaushalt auf. Die Familie lebt mit der Dienstmagd in nur drei Zimmern, tagtäglich sieht der junge Egon seine Schwestern und die Magd beim Aus- und Ankleiden.
Der Vater ist Bahnhofsvorsteher, hält sich aber oft im 30 Kilometer entfernten Wien auf. Wenn er zu Hause ist, führt er ein strenges Regiment, bei seinen Besuchen in der Hauptstadt sucht er regelmäßig Prostituierte auf. 1905, als Egon 14 Jahre alt ist, stirbt der Vater an Syphilis.
Der begabte Junge sucht sein Heil in der Kunst. Schon mit zwei Jahren hat er Eisenbahnen und Landschaften gezeichnet, in der Schule fördert ihn sein Kunstlehrer Ludwig Karl Strauch. Dieser unterstützt den jungen Schiele auch bei seiner Bewerbung für die Wiener Akademie der bildenden Künste. Mit 16 Jahren wird Egon Schiele dort aufgenommen.
Neuer Blick auf das skandalträchtige Werk
Obwohl die Kunst Egon Schieles ohne die persönliche Biografie nicht zu erklären ist, wurde dieser Ansatz bis 2013 weder bei Schiele-Publikationen noch bei großen Ausstellungen verfolgt.
Erst Schieles Biograf Christian Bauer rollte die Entwicklung in Tulln rund um das Geburtshaus neu auf. Er zeigt die Eindrücke einer Kindheit im ausgehenden 19. Jahrhundert, die Doppelmoral einer Gesellschaft, die der Künstler Egon Schiele später systematisch seziert und deren Tabus er freilegen wird.
Schiele selbst bezeichnete sich als „unpassenden Schüler aller Schulen“.
"Ich kam mit 16 Jahren an die Akademie in Wien, wurde natürlich als verrückt erklärt [...] Nachdem ich ausgestellt hatte, in der 2. internationalen Kunstschau Wien 1909, wurde ich auf das Heftigste an der Akademie verfolgt."
Der zweifelnde Schiele sucht daraufhin den erfolgreichen Gustav Klimt auf, der in den Salons der neureichen Wiener Bürger verkehrte. Er fragte: „Habe ich Talent?“ — „Talent? Ja, viel zu viel“, soll Klimt geantwortet haben.
So bleibt Egon Schiele der Kunst treu – obwohl er in ärmlichsten Verhältnissen lebt, da er kaum einmal ein Bild verkauft.
Voyeur und Exhibitionist im Wien um 1900
Der 19-jährige Schiele löst sich künstlerisch rasch von Klimt und findet seinen eigenen Weg. Einen Weg allerdings, der andere provoziert und ihn selbst wie einen pubertierenden Jüngling erscheinen lässt.
Die Nacktheit dominiert die Blätter. Sie zeigen ungelenke junge Mädchen, die sich bei aller Naivität schon deutlich ihrer Körperlichkeit bewusst sind. Mit weit gespreizten Beinen und unverhüllter Scham bieten sie sich dem Betrachter dar.
Zwar ist der Körper klar durch eine geschlossene Linie eingefangen, aber Schiele fragmentiert den Körper und betont für ihn entscheidende Partien. Rote Lippen, Brustwarzen, ein schwarzes Schamdreieck in Kontrast zu heller Haut.

Bei den männlichen Figuren ein muskulöser Hintern und deutlich sichtbar der Penis. Schiele zeichnet sich selbst und junge Frauen beim Masturbieren, homosexuelle Paare beiderlei Geschlechts beim Sex, Schwangere mit weit geöffneten Beinen. Egon Schiele ist Voyeur und Exhibitionist.
Sex und Körper in der Kunst um 1900
Diese Entwicklung kann nur Wien um 1900 hervorbringen. Die Stadt wird seit Jahren geschüttelt von Skandalen und öffentlichen Diskussionen über die Grenzen des Erlaubten in der Kunst.
Damen aus besseren Kreisen verhüllen züchtig Bein und Dekolleté, während Künstler wie Gustav Klimt und Oskar Kokoschka mit ihren freizügigen nackten Frauendarstellungen die Doppelmoral der Donaumetropole angreifen.
Musiker wie Gustav Mahler und Arnold Schönberg überschreiten die Grenze zur Moderne; Arthur Schnitzler rüttelt mit seinen Dramen an den Grundfesten der Gesellschaft und Sigmund Freud macht die Sexualität der Frau erstmals öffentlich.
Egon Schiele kennt die Doppelmoral bereits aus Kindertagen. Gegen den Schönheitskult der Wiener Sezession setzt er das Hässliche, Verzerrte. Die Arme und Beine seiner jungen Mädchen und Männer sind überlängt und ausgezehrt, nur die Geschlechtsorgane einladend und farbig in Szene gesetzt.
Vor allem interessiert den gerade 20-jährigen Künstler der Übergang vom Kind zur Frau, zum Mann. Immer wieder zeichnet er pubertierende Mädchen in Posen der Selbsterkundung. Das führt 1912 zur „Affäre Neulengbach“ – so heißt ein kleines Städtchen im Wienerwald.
Die „Affäre Neulengbach“
Der 20-jährige Maler hatte sich 1911 in einem kleinen Haus in der Sommerfrische der Wiener eingemietet. Begleitet wurde er von seinem Modell Wally Neuzil, mit der er in wilder Ehe lebte. Das war ein Affront.
Niederösterreich war – und ist bis heute – eine tiefreligiöse Gegend. Und dahin kommt ein Künstler, bei dem junge Mädchen aus und ein gehen! Und der diese fast nackt zeichnet! Die Stimmung im Ort eskalierte zunehmend und letztlich führten drei Punkte zur Verhaftung Schieles: der Verstoß gegen die öffentliche Sittlichkeit, die angebliche Entführung einer 14-Jährigen und ein mutmaßlicher Missbrauch. Letztlich wird er nur für den „Verstoß gegen die öffentliche Sittlichkeit“ mit drei Tagen Gefängnis bestraft.
Die „Affäre Neulengbach" veränderte Egon Schieles Leben. Er kehrte der Provinz den Rücken, ging nach Wien zurück und zeichnete keine Kinderakte mehr. Eine äußerst produktive Phase in Schieles Künstlerleben war zu Ende.
Rezeption
Je mehr man sich mit Schieles Werk befasst, desto verwirrender und widersprüchlicher erscheint der Mensch dahinter. Der Künstler hat sich in seinen Bildern und Zeichnungen immer wieder neu erkundet. Wer bin ich – und wie viele?
Das scheint eine der Kernfragen seiner Kunst zu sein. Bis in die 1990er-Jahre wurden seine Bilder als Softpornos für das Herrenzimmer abgetan. In den letzten Jahren aber haben Experten wie Franz Smola neue Zugänge eröffnet. Egon Schiele habe es gewagt, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, sagt Franz Smola:
"Gerade bei den sogenannten erotischen Darstellungen bei Schiele empfindet man eigentlich keine Erotik, sondern die Akte – auch wenn sie in einer liebevollen Umarmung gezeigt werden, haben etwas Gequältes, Getriebenes. Gerade in den Jahren um 1914; sie wirken fast marionettenhaft. Als ob sie an Fäden gezogen werden, als ob sie fremdbestimmt sind. Das ist sehr spannend, auch wenn er sich selber darstellt. Es wirkt immer so getrieben, nicht wirklich frei, sondern einem Zwang unterworfen."
Brüche und Tod
Einige Jahre vor seinem frühen Tod unterwirft sich der Künstler, der in seinen Bildern die Doppelmoral der Gesellschaft entlarvte, den Konventionen seiner Zeit. Er trennt sich von seiner langjährigen Lebensgefährtin Wally Neuzil und heiratet 1915 ganz bürgerlich seine Nachbarin und Freundin Edith Harms in Wien.
Im Ersten Weltkrieg muss Egon Schiele nicht an die Front, arbeitet stattdessen im militärischen Verwaltungsdienst und wird nach zwei Jahren auf eigenen Wunsch in ein Museum versetzt. Er selbst meint, seinem Vaterland am besten zu dienen, wenn seine „künstlerischen Kräfte nicht brachliegen“.
Schiele malt, kümmert sich um Ausstellungen – bis zu seinem Tod im Oktober 1918. Im Alter von nur 28 Jahren wird der Künstler wie seine Frau Edith Opfer der Spanischen Grippe.
Wie hätte sich das „enfant terrible“ der österreichischen Kunstszene wohl weiterentwickelt? Hätte Schiele nach dem Ersten Weltkrieg eher konventionell gemalt, wie es seine Rückkehr ins bürgerliche Leben vermuten lässt? Oder hätte er sich an neue Provokationen und Tabubrüche gewagt, um sich und der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten?
Sicher ist: Egon Schiele zählt zu den Avantgardisten des 20. Jahrhunderts. Seine Landschaften müssen zwar eher dem Symbolismus des 19. Jahrhunderts zugerechnet werden – aber im Figurenbild hat er Einzigartiges geleistet. Dennoch hat der österreichische Maler nie die Anerkennung erhalten, die seinem Landsmann Gustav Klimt zu Teil wurde. Vielleicht ist Schieles Werk zu verwirrend, zu nahe an den persönlichen Empfindungen der Betrachter – zu nahe an unseren geheimen Sehnsüchten und Wünschen?
Produktion 2015