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Konzerne enteignen – Legitimes Mittel gegen soziale Ungerechtigkeit?

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AUTOR/IN
Philipp Lemmerich
ONLINEFASSUNG
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

In Deutschland gibt es zu wenig bezahlbaren Wohnraum. Einige fordern daher die Enteignung großer Immobiliengesellschaften. Ist so etwas im Rechtsstaat Deutschland überhaupt möglich?

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Berlin: Volksentscheid zur Wohnungspolitik am 26. September 2021

In Berlin trifft die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ einen Nerv. Ihre Idee: Immobilienkonzerne, die in Berlin mehr als 3.000 Wohnungen besitzen, sollen vergesellschaftet und in eine öffentliche Anstalt überführt werden. Angestrebt wurde ein Volksentscheid. Dafür brauchte die Initiative 175.000 Berlinerinnen und Berliner, die auf einer der Unterschriftenlisten unterschreiben. Nach Angaben der Initiative wurden im Zeitraum Februar bis Juni 2021 sogar 350.000 Unterschriften gesammelt, sodass es am 26. September 2021 zum Volksentscheid kommt.

Allein zwischen 2015 und 2020 stiegen die Mieten für Neuvermietungen in der Hauptstadt um 44 Prozent. Die Initiative wirft börsennotierten Unternehmen wie Deutsche Wohnen, Vonovia oder Akelius vor, dafür mitverantwortlich zu sein und auf dem Rücken der Mieterinnen und Mieter Profite zu machen.

In ganz Deutschland blickt man gebannt nach Berlin

Das Problem mit Wohnungsnot und steigenden Mieten gibt es in fast allen Städten des Landes. Zwischen 2012 und 2020 stiegen die Mietpreise zum Beispiel in München und Stuttgart um fast 50 Prozent, in Universitätsstädten wie Tübingen oder Heidelberg immerhin um fast 30 Prozent. Und fast zwei Drittel der Deutschen wohnen in Mietwohnungen.

Enteignungen – eine Lösung für die Wohnungsnot?

Wer verstehen will, wie die Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ so groß und bekannt werden konnte, kommt an Andrej Holm nicht vorbei. Als kritischer Stadtforscher am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin ist er weit über Berlin hinaus bekannt. Laut Andrej Holm sind die bisher genutzten kommunalen Instrumente nicht in der Lage, das Problem zu lösen. Wohnungsnot sei die neue soziale Frage, heißt es schon seit Jahren.

Mietendemo am 11.9.2021: Unter dem Motto "Wohnen für alle" zogen ca. 20.000 Demonstranten durch Berlin (Foto: IMAGO, IMAGO / Nicolaj Zownir)
Mietendemo am 11.9.2021: Unter dem Motto "Wohnen für alle" zogen ca. 20.000 Demonstranten durch Berlin

Laut Holm liegt eine starke Initiative darin, die Sondersituation in Berlin zu nutzen und auf die Selbstorganisation zu setzen. Berlin hat schließlich eine lange Tradition von Hausbesetzungen, Wohnprojekten, Kiezbündnissen und Mieter-Organisationen. Sie alle machen seit Jahren gegen die angespannte Lage auf dem Wohnungsmarkt mobil.

Nur noch gut ein Viertel der Berliner Wohnungen in öffentlicher Hand

Seit den 1990er Jahren gibt es die Deutsche Wohnen, zunächst als relativ unbedeutende Immobilienausgründung der Deutschen Bank. Heute besitzt das Unternehmen mehr als 150.000 Wohneinheiten, davon allein 114.000 in Berlin. Der Konzern ist im DAX notiert und verfügt über einen jährlichen Umsatz von 2,7 Milliarden Euro.

Einer Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung zufolge gehören heute 800.000 der insgesamt zwei Millionen Berliner Wohnungen großen Wohnungsunternehmen, professionellen Investoren und Immobilien-Millionären. Etwa 600.000 gehören Selbstnutzern und Kleineigentümern, nur noch 550.000 befinden sich in öffentlicher Hand.

Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht gegen Berliner Mietendeckel

Von einer übermäßigen Regulierung des Immobilienmarktes hält Jan-Marco Luczak, rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, nicht viel. Gegen den Berliner Mietendeckel, der Mietpreise in der Hauptstadt strikt begrenzen sollte, legte er Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein – und war erfolgreich. Auch gegen mögliche Enteignungen würde der CDU-Abgeordnete wohl juristisch vorgehen.

Das Problem an der Enteignungsinitiative: Sie schrecke Investoren ab, so Luczak. Wenn sogar Enteignungen möglich wären, habe niemand mehr Planungs- und Investitionssicherheit. Eine Argumentation, die in ähnlicher Weise auch von der SPD und der FDP im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten wird. Auch sie lehnen Enteignungen kategorisch ab, allen voran SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey. Nur Grüne und Linke stellen sich hinter die Initiative.

Gewinnorientiertes Unternehmertum versus bezahlbarer Wohnraum

Stadtforscher Andrej Holm kann die Furcht vor einem Abwandern der Investoren nicht nachvollziehen. Bezahlbarer Wohnraum, gerade für die unteren Bevölkerungsschichten, entstehe nicht durch renditeorientierte Unternehmen. Während private Unternehmen zwangsläufig gewinnorientiert wirtschaften, könnten sich öffentliche, gemeinnützige oder genossenschaftliche Unternehmen dieser Logik entziehen. Nur durch sie werde sozialer Wohnversorgung ermöglicht.

Mietendemo Berlin am 11.9.2021: Schilder auf denen "Öffentlich statt privat!" steht – der Volksentscheid zur Vergesellschaftung von Wohnraum wird kommen, in der Bundesrepublik ein bislang einmaliger Vorgang (Foto: IMAGO, IMAGO / Bernd Friedel)
Mietendemo Berlin am 11.9.2021: Der Volksentscheid zur Vergesellschaftung von Wohnraum wird kommen, in der Bundesrepublik ein bislang einmaliger Vorgang

Zur Enteignungsdebatte äußern will sich die Deutsche Wohnen nicht. Die Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ hat mittlerweile die benötigte Zahl der gesammelten Unterschriften übertroffen. Der Volksentscheid wird kommen – in der Bundesrepublik ein bislang einmaliger Vorgang. Doch die Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ zielt – anders als ihr Name vermuten lässt – gar nicht auf eine Enteignung ab, sondern auf eine Vergesellschaftung.

Ziel: Vergesellschaftung nach Artikel 15 Grundgesetz

Das Instrument der Vergesellschaftung ist im Grundgesetz angelegt. Wie genau dieser Passus umgesetzt werden kann, ist völlig offen. Er wurde bis dato noch nie angewandt.

"Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden."

Volksentscheid ist für Berliner Senat nicht bindend

Nun muss darüber diskutiert werden, was genau Vergesellschaftung eigentlich bedeutet. Die Initiative in Berlin schlägt vor, die vergesellschafteten Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts zu überführen. Mit über 200.000 Einheiten wäre sie auf einen Schlag Berlins größter Vermieter.

Das Ergebnis des Volksentscheids Ende September 2021 ist für den Berliner Senat nicht bindend. Selbst wenn die Wahlberechtigten für ein Vergesellschaftungsgesetz stimmen sollten, könnte sich das Abgeordnetenhaus immer noch dagegen aussprechen. Die politischen Gegner der Initiative bringen sich trotzdem schon einmal in Stellung.

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