Sie darf bleiben, muss aber historisch eingeordnet werden, hat der Bundesgerichtshof heute über ein Relief an der Wittenberger Stadtkirche geurteilt. Es sei nun aber Zeit, endlich stärkere Zeichen zu setzen, kommentiert die SWR-Redakteurin Nela Fichtner.
In rund 500 Kirchen Deutschlands befinden sich Schmähplastiken
Seit mehr als 700 Jahren prangt die widerliche Verhöhnung von Jüdinnen und Juden nun schon an der Wittenberger Stadtkirche – nicht an irgendeiner Kirche, sondern an der Predigtkirche von Martin Luther.
Damit hat das Urteil besondere Signalwirkung auf die rund 500 weiteren evangelischen und auch katholischen Kirchen im deutschsprachigen Raum, an deren Mauern sich ähnliche Schmähplastiken befinden (im Südwesten zum Beispiel in Ahrweiler, Bacherach und Bad Wimpfen).
Bis heute wird unter diesen Bildern gebetet
Dieses Ausmaß an Bösartigkeit ist Vielen kaum bewusst. Es zeugt von einer Zeit, in der die Kirchen eine nahezu uneingeschränkte Macht besaßen. Die nutzten sie, von der Kanzel herab, schamlos aus, um gegen Jüdinnen und Juden zu hetzen, systematisch aufzuwiegeln und den ideologischen Grundstein für die späteren Pogrome zu setzen.
Weil dieser Antisemitismus Bestand haben sollte, meißelten sie ihn im wahren Wortsinn metergroß in Stein: direkt an die Kirchenmauern, zwischen Engel und Apostel, als Teil der Bild- gewordenen Verkündigung.
Unter diesen Bildern wird bis heute gebetet. Daran ändern auch Info-Texte nichts, auf denen sich die Kirche von der Schmähung distanziert. Nach dem richterlichen Urteil reicht das zwar aus, um den rechtsverletzenden Zustand zu beseitigen.
Die eigene Schuld aufklären
Umgekehrt verpflichtet es die Kirchen aber nicht dazu, die Reliefs hängen zu lassen. Sie sollten mehr tun als Info-Tafeln anzubringen, die viele ohnehin nicht lesen.
Ihr Argument, anhand der Schmähplastiken ließe sich die antisemitische Kirchengeschichte besser aufarbeiten als im Museum, überzeugt mich nicht. Warum nicht beides tun?
Die bösartigen Symbole von den Kirchenmauern entfernen und damit auszuschließen, dass sich Jüdinnen und Juden weiterhin verhöhnt fühlen. Und gleichzeitig über die eigene Schuld aufklären – sowohl im Museum als auch in der Kirche.
Es ist Zeit, stärkere Zeichen zu setzen
Auch das WIE kann entscheidend sein. Texttafeln in trockenem Theologen- oder Museums-Sprech erreichen viele Leute nicht. Kunstwerke dagegen, die sich mit der Schuld der Kirche auseinandersetzen, sprechen die Betrachtenden sinnlich an und lassen Raum für eine eigene Auseinandersetzung.
Wenn also an die Leerstelle, die das entfernte Relief in der Kirchenmauer hinterlässt, etwas Unerwartetes, Neues tritt, kann die Geschichte greifbar werden.
Dass es fast siebenhundert Jahre brauchte, die judenfeindlichen Schmähplastiken überhaupt in Frage zu stellen, ist schlimm genug. Nun ist es Zeit, endlich stärkere Zeichen zu setzen.